Zivilgesellschaft und Kommunen. Lerneffekte aus dem Zuzug Geflüchteter für das Engagement in Krisen

Observatorium 18 | 01.02.2018 | In einem von der Röchling Stiftung geförderten Forschungsprojekt wurde vor diesem Hintergrund am Maecenata Institut, in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU), das fortgesetzte Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen Helfergruppen mit Behörden in sechs ausgewählten Kommunen zwischen Januar und Oktober 2017 untersucht. Im Folgenden werden die Ergebnisse in acht Punkten zusammengefasst.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellten 2014 200.834 Menschen Asylanträge in Deutschland. 2015 waren es 476.649, 2016 745.545. 2017 sank die Zahl auf 222.683.1 Viele von diesen Menschen werden in Deutschland bleiben; ihre Integration ist folglich eine Aufgabe, die sehr lange dauern und Geduld auf allen Seiten erfordern wird. Es ist vor allem eine Aufgabe, die ganz überwiegend im kommunalen Raum zu leisten sein wird, jedoch keinesfalls von staatlichen und kommunalen Behörden allein. Vielmehr haben an vielen Orten zivilgesellschaftliche Helfergruppen ebenso wie traditionelle große zivilgesellschaftliche Organisationen schon lange einen wichtigen Anteil übernommen. Alle Erfahrungen haben gezeigt, dass der Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und spontanen Helfergruppen mit den Behörden in den Kommunen – Landratsämtern, Ausländerbehörden, Job-Centern, Arbeitsagenturen und vielen weiteren Einrichtungen – herausragende Bedeutung zukam. Die verantwortliche und partnerschaftliche Mitwirkung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, großen ebenso wie kleinen, lange bestehenden ebenso wie spontan entstehenden, wurde wie nie zuvor von den Bürgerinnen und Bürgern, von Politik und Medien anerkannt und gewürdigt. Die Qualität der Zusammenarbeit war unterschiedlich, aber an vielen Orten erstaunlich gut2. Nach der ersten großen Welle, die naturgemäß von viel spontaner Hilfsbereitschaft begleitet war, hat sich für viele Geflüchtete gezeigt, dass sie viel Geduld aufbringen müssen und mit anhaltenden Schwierigkeiten zu kämpfen haben, um sich in der neuen Umgebung zurecht zu fühlen. Es erscheint von daher unabdingbar, dass die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Zivilgesellschaft nicht in frühere Muster zurückfällt. Vielmehr müssen die Lernerfolge der Zusammenarbeit gezielt bewahrt, genutzt und weiterentwickelt werden. In einem von der Röchling Stiftung geförderten Forschungsprojekt wurde vor diesem Hintergrund am Maecenata Institut, in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU), das fortgesetzte Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen Helfergruppen mit Behörden in sechs ausgewählten Kommunen zwischen Januar und Oktober 2017 untersucht.3 Ausgewählt wurden drei Bundesländer mit jeweils zwei Kommunen: in Brandenburg die Städte Gransee und Forst, in Bayern der Landkreis Starnberg (mit einem Fokus auf die Gemeinde Feldafing) und die Stadt Bamberg, in Nordrhein-Westfalen die Städte Gelsenkirchen und Bocholt. An diesen Standorten wurden Interviews mit zivilgesellschaftlichen Helfergruppen und mit Vertreterinnen und Vertretern der Verwaltungen geführt. Gefragt wurde nach Formen der Zusammenarbeit, die sich in den jeweiligen Orten entwickelt hatten. Von besonderem Interesse waren Lernerfahrungen, die in dieser Zusammenarbeit gemacht wurden und die die Basis für eine nachhaltige Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren in vergleichbaren Krisensituationen (bspw. auch Naturkatastrophen) bilden können. Im Kern der Ergebnisse steht, dass die Zivilgesellschaft (einzelne Engagierte ebenso wie Organisationen und Initiativen) heute überwiegend, allerdings auch nicht durchgehend als notwendige und wertvolle Ressource verstanden wird, die zur Bewältigung von vielen Herausforderungen im kommunalen Raum herangezogen werden kann. Wichtig ist dabei die Einsicht – und dies kann auch als Lerneffekt gesehen werden – dass der Staat bzw. die Kommune manche Herausforderungen nicht allein bewältigen kann, besonders dann nicht, wenn es um schnelles und spontanes Handeln in Krisensituationen geht. Vielmehr bedarf es einer Partnerschaft, die noch vor zwei bis drei Jahrzehnten nicht selbstverständlich war. Die Kooperation muss jedoch eingeübt, gepflegt, systematisiert und immer wieder erneuert werden. Sie hängt aktuell noch allzu oft an einzelnen Personen bzw. Personengruppen. Entsprechend bauen diese auf persönlichen Beziehungen auf, die ebenso lebendig gehalten werden müssen. Es wird darauf ankommen nicht zu warten bis die nächste Krise oder Katastrophe eintritt, sondern das Netzwerk sozialer Beziehungen intensiv zu pflegen und weiter zu entwickeln, damit bei künftigen Krisen entsprechend umfassend und schnell reagiert werden kann. Die Ergebnisse lassen sich im Einzelnen zunächst in acht Punkten zusammenfassen:

1. In der gegenwärtigen Phase der Integration, in der spezielle Hilfestellungen (Behördenkontakte, Arbeitsmarktzugang, Wohnungssuche etc., aber auch Hilfen beim (kulturellen) „Einleben“, Zugang zu Möglichkeiten des eigenen Engagements) gefragt sind, bestehen die Helfergruppen weiter. Das Interesse an diesen Gruppen ist etwas abgeebbt, die Zahl der Aktiven ist zurückgegangen, doch nirgendwo ist zu beobachten, dass sich eine Initiative aufgelöst hätte. Vielmehr sind Transformationsprozesse im Gang: Die Initiativen passen sich der neuen Lage an, reagieren auf die veränderten Bedürfnisse der Geflüchteten und bilden zunehmend stabile und allseits anerkannte Kooperationsbeziehungen mit den kommunalen Verwaltungen aus.

2. Die Zusammenarbeit der Helfergruppen und Initiativen die Geflüchtete betreuen und die übrigens oft schon seit längerer Zeit bestehen und sich nicht erst im Sommer 2015 gegründet haben, mit den örtlichen Verwaltungsbehörden läuft in den untersuchten Orten erstaunlich gut. Beide Seiten bestätigen diese Wahrnehmung. Allerdings gibt es an jedem Standort spezifische „Problemsituationen“: dies kann mal der Landrat sein, mal die Ausländerbehörde oder mal die Agentur für Arbeit. Von der Seite der Helfergruppen wird andererseits die gute Zusammenarbeit häufig mit Namen verbunden, die an der Spitze der Verwaltungseinheiten bzw. der politischen Organisationen stehen. Es kommt entscheidend auf die handelnden Personen an.

3. Die zivilgesellschaftlichen Akteure haben in der ersten Phase ‒ zwischen Mitte 2015 und den ersten Monaten des Jahres 2016 ‒ den Verwaltungen Luft verschafft, sich neu aufzustellen und den Entwicklungen anzupassen. Entsprechend wurden neue Strukturen geschaffen, Zuständigkeiten verändert und Mittel bereitgestellt. Damit haben die Verwaltungen eine Strukturierungsleistung erbracht, die von allen Helfergruppen anerkannt wird. Lag die Handlungsfähigkeit in der Anfangsphase noch vielfach bei den zivilgesellschaftlichen Helfergruppen, so haben die Verwaltungen inzwischen Handlungsfähigkeit zurückgewonnen und dominieren jetzt vielfach die Kooperationsprozesse. Die Prozesse und Verfahren der Verwaltungen werden heute aber immer noch als überkomplex und nicht immer nachvollziehbar gesehen. Hier besteht dringender Verbesserungsbedarf.

4. In allen untersuchten Orten gibt es Geflüchtete mit unterschiedlichem Status. Da Geflüchtete, deren Asylantrag negativ beschieden wurde, zur Ausreise verpflichtet sind, wird Abschiebung zu einem Thema, das für alle Helfergruppen an Relevanz gewinnt. Insgesamt lässt sich ein gewisser Pragmatismus erkennen, auch wenn Helfergruppen gegen fehlerhafte Bescheide des BAMF (die häufig von den Gerichten korrigiert werden) und Verfügungen der Ausländerbehörde vorgehen. Die Entscheidungen der Behörden werden jedoch respektiert, solange sie rechtlich formal korrekt sind. Die Helfergruppen begleiten die betroffenen Geflüchteten bei allen Kontakten mit den Behörden bis hin zur Härtefallkommission. Konflikte und Enttäuschungen gibt es insbesondere dann, wenn soziale Bindungen aufgebaut wurden und viel in eine Bleibeperspektive investiert worden ist (zum Beispiel in einen Ausbildungsplatz).

5. Patenschaften sind häufig ein Schlüsselelement im Integrationsprozess. Sie werden ganz unterschiedlich ausgestaltet und nicht immer wird dieser Begriff zur Kennzeichnung der Beziehung zu Geflüchteten verwendet. Das Sich-Kümmern um Geflüchtete kann viele Formen annehmen. Wesentliches Element dieser Form der sozialen Beziehung sind Reflexions- und Lernprozesse auf der Seite der Paten. Häufig bleiben diese aber dem Zufall überlassen. Diese aufsuchenden Strukturen (die Helferinnen und Helfer begrüßen die Neuankömmlinge oft in den Heimen) und Form der Begleitung wird immer wichtiger, weil viele Geflüchtete die Unterkünfte verlassen und nun auf eigenen Beinen stehen müssen. Dazu fehlen ihnen häufig Erfahrung und Wissen, mit Alltagsproblemen umzugehen (Wohnung, Verträge, Behörden, Arbeit etc.). Helferinnen und Helfer unterstützen hierbei die Geflüchteten; gleichzeitig geht es auch darum, dass diese selbstständig werden. Den Helferinnen und Helfern fällt es in diesem Zusammenhang leichter, mit den Geflüchteten auf Augenhöhe zu verkehren, sie als Subjekte ihrer eigenen Lebensgestaltung zu sehen, während es noch immer Vertreterinnen und Vertreter von Behörden – aber auch der Politik – gibt, die sie als Objekte von Verwaltungsmaßnahmen wahrnehmen. Diese Subjektivierung ist jedoch als Inklusionskatalysator unabdingbar.

6. Neben Spracherwerb und eigenem Engagement gilt Arbeit an allen untersuchten Orten als wesentliches Moment im Integrationsprozess. Deshalb bemühen sich alle Helfergruppen darum, für die Geflüchteten einen Zugang zur Arbeitswelt zu erreichen. Einige Helfergruppen haben ein Netz von Unternehmenskontakten aufgebaut und die Vermittlung zwischen Unternehmen mit freien Stellen und Geflüchteten selbst in die Hand genommen. Nicht überall ist den Helfergruppen diesbezüglich Erfolg beschieden. Die Vermittlung in die Arbeitswelt gelingt dort besser, wo es einen Fachkräftemangel gibt und / oder die Wirtschaft prosperiert. Häufig wird von den Helfergruppen die Zusammenarbeit mit den Job-Centern gesucht. Es haben sich aber auch eigenständige Strukturen bei den Helfergruppen herausgebildet, mit denen den Geflüchteten Zugänge zu Unternehmen ermöglicht werden. Insgesamt ist dies aber ein mühsamer Prozess, weil es vielfach Hindernisse und Enttäuschungen gibt. Viele Helfergruppen lassen sich dadurch aber nicht abschrecken.

7. Die Unterschiede zwischen den Regionen werden immer deutlicher. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Regionen mit schrumpfenden Bevölkerungszahlen und dem Problem der Überalterung erhoffen sich durch den Zuzug von Geflüchteten eine Umkehr dieser Entwicklungen und nicht zuletzt eine Reduzierung des spürbar werdenden Fachkräftemangels. In Regionen, die wirtschaftlich prosperieren, gibt es eine Nachfrage nach Arbeitskräften und größere finanzielle Mittel. In diesen ist es für Geflüchtete und Helfergruppen leichter, Zugänge zur Arbeitswelt zu finden. Ein weiterer wichtiger Faktor in der Auseinanderentwicklung von Regionen ist das gesellschaftliche Klima gegenüber Geflüchteten, das wiederum mit den lokalen Bedingungen des Arbeitsmarktes verknüpft ist. Hinzu kommt, dass für einige Geflüchtete Großstädte attraktiver erscheinen als ländliche Regionen, weil sie dort eher Landsleute treffen können. Großstädte sind für einige aber auch deswegen attraktiver, weil sie dort der Betreuung durch Helfergruppen entgehen können, die sie eher als soziale Kontrolle wahrnehmen.

8. In den untersuchten Kommunen gab es keine gewalttätigen Aktionen gegen Geflüchtete oder massive Proteste, allerdings wurde in den Brandenburger Orten Kritik am Umgang mit Geflüchteten geübt. Es wurde von keinen Verständigungsprozessen berichtet, wohl auch, weil sich die Gegner bzw. Skeptiker nicht in öffentlichen Runden bemerkbar machen. Notwendig wären aber zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse im kommunalen Raum, weil das Thema Geflüchtete alle betrifft und Teil des kommunalen Entwicklungsprozesses ist. Aus diesen Ergebnissen lassen sich die folgenden Lerneffekte und Handlungsempfehlungen ableiten:

  1. Inklusion und Integration vollziehen sich vor allem im kommunalen Nahraum. Hierzu muss eine Vielzahl von Akteuren zusammenwirken. Kommunale und andere Behörden sind, auf sich allein gestellt, mit dieser Aufgabe überfordert. Vielmehr übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure entscheidende Aufgaben im Prozess der Inklusion und Integration. Gelingensbedingung hierfür ist eine vielfältige und lebendige zivilgesellschaftliche Infrastruktur, da sie den Nährboden für die konkrete Hilfeleistung bildet und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger fördert, in Form von Empathie, dem Angebot von KnowHow und Ideen sowie mit Zeit- und Geldspenden einzugreifen. Gleichzeitig befördert eine solche Infrastruktur Diskurs- und Verständigungsprozesse in den Kommunen. Es ist daher darauf hinzuwirken, dass diese Infrastruktur erhalten bleibt und Fördermaßnahmen gerade nicht auf punktuelle Projektförderungen, Anschubfinanzierungen und dergl. beschränkt bleiben. Die Ansätze der Förderprogramme auf Bundes- und Landesebene sind diesbezüglich zu überarbeiten.
  2. In vielen Gesprächen wurde berichtet, dass die Mitarbeit in den Helfergruppen Lernprozesse für die Engagierten und die Stadtgesellschaft insgesamt auslöst. Über diese Lernprozesse werden Vorurteile abgebaut und wird eine negative Stimmung in der Stadtgesellschaft verbessert. Teilweise wird die Arbeit mit den Geflüchteten als eine Art Prophylaxe verstanden. Die Geflüchteten werden an hier vorherrschende Werte und Gepflogenheiten herangeführt, während gleichzeitig versucht wird, Angriffsflächen für Kritiker zu reduzieren. Diese Lernprozesse sind zu ermutigen und wo notwendig zu fördern.
  3. Lerneffekte sind aber nicht nur bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu beobachten, sondern auch bei den Verwaltungen im kommunalen Raum. Ein weiterer Entwicklungs- und Optimierungsbedarf bezüglich der Verwaltungsstrukturen der Flüchtlingspolitik ist deutlich zu erkennen. Hier ist insbesondere die Bundesebene angesprochen, da dort Rahmensetzungen erfolgen, die lokal umgesetzt werden müssen und spürbar sind. Die Akteure vor Ort erachten diese Rahmensetzungen häufig als wenig durchdacht. Dies betrifft unter anderem eine differenzierte Betrachtung der Gruppe der Geflüchteten. Unterschiede nach Herkunftsland, religiöser Hintergrund, Alter und / oder Geschlecht lassen keine einheitliche Lösung für alle zu. Die Prozesse müssen auch flexibler werden. Einzufordern sind intensivierte Diskurse zwischen allen beteiligten Akteuren auch über den kommunalen Nahraum hinaus.
  4. Bei vielen Landratsämtern und vergleichbaren Behörden wurden Stellen von Freiwilligenkoordinatoren geschaffen, die die Verbindung zu den zivilgesellschaftlichen Gruppen aufrechterhalten sollten. Diese Stellen dienen auch dazu, die zivilgesellschaftlichen Akteure zu unterstützen. Überwiegend haben sich diese Stellen bewährt und sollten verstetigt werden.

 

[1] BAMF: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Dezember 2017, (https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-zu-asyl-dezember-2017.html;nn=284722, 18. Jan. 2018)
[2] Elke Becker / Rudolf Speth, Zivilgesellschaftliche Akteure und die Betreuung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen. Berlin: Maecenata 2016 (Opusculum Nr. 92)
[3] Rudolf Speth / Elke Bojarra-Becker, Zivilgesellschaft und Kommunen: Lerneffekte aus dem Zuzug Geflüchteter für das Engagement in Krisen. Berlin: Maecenata 2017 (Opusculum Nr. 107)