Observatorium 70 – Demokratie und Wirtschaft: Wir brauchen den Dritten im Bunde.

Observatorium 70 I 13.11.2023 I Rupert Graf Strachwitz

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I.

Mitten in dem Transformationsprozeß von 1989/90 machte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit einem Aufsatz Furore, der den eschatologisch anmutenden Titel „Das Ende der Geschichte“ trug (Fukuyama 1989). Marktwirtschaft und Demokratie, so behauptete er, hätten sich abschließend gegen alle übrigen Gestaltungsformen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung durchgesetzt und würden nun auf Dauer gemeinschaftlich für Freiheit und Wohlstand sorgen.

Dreißig Jahre später wissen wir, daß Fukuyama fundamental Unrecht hatte. Einerseits gelten heute weltweit immer weniger Länder als demokratisch verfaßt, und nur eine schrumpfende Minderheit von Bürgerinnen und Bürgern kann sich persönlich des Lebens in Wohlstand und Demokratie erfreuen. Andererseits haben nicht demokratisch verfaßte Herrschaftssysteme marktwirtschaftliche Strukturen, wenngleich meist kaum eine soziale Marktwirtschaft, entwickelt, Beweis für ein neues Narrativ, nach welchem moderne Diktaturen gegenüber denen des 20. Jahrhunderts dazu gelernt, ihre Methoden verfeinert haben, ohne an ihren Kern zu rühren.

Wirtschaft im Sinne von Marktwirtschaft und Demokratie im Sinne von demokratischer Staat sind also offenbar nicht Garanten für die gemeinsame und nachhaltige Sicherstellung von Wohlstand und Teilhabe. Wohlstandsgesellschaften von der Art, an die wir uns in Europa gewöhnt haben, scheinen überdies ohnehin an ihr Ende gekommen zu sein, während uns Entwicklungen wie in den USA die Anfälligkeit dieser Allianz vor Augen führen. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz wünschen sich in vielen Demokratien immer mehr Menschen eine mit Autorität und Befehlsgewalt ausgestattete charismatische Herrschaft (vgl. Weber 1922), ohne die sie die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht für überwindbar halten oder mit deren Hilfe sie diese verdrängen können. Andere zeigen gegenüber „der Wirtschaft“ eine grundlegende Skepsis, hat diese doch ihre Funktionsprinzipien, namentlich das persönliche Gewinnstreben und hierarchische, will heißen undemokratische Strukturen nicht nur all bei ihren Akteuren, sondern weit darüber hinaus in der Gesellschaft als unabweisbare Erfolgsvoraussetzungen erfolgreich angepriesen und vielfach durchgesetzt, stößt aber gerade deswegen zunehmend auf Ablehnung. In dem Ringen zwischen einer Dominanz der ökonomischen Logik und einer Logik der hoheitlichen Gewalt um eine Vorherrschaft in der Gesellschaft scheint erstere die Nase vorn zu haben, der Neoliberalismus in der Diktion Milton Friedmans, der die Gesellschaft nach ökonomischem und gerade nicht nach demokratischem Denken organisieren wollte, nicht überwunden zu sein, obwohl Autoren wie der Kanadier John Ralston Saul schon in den 1990er Jahren vor den Folgen gewarnt haben (Saul 1997). Ein in Kategorien von Aufsicht und Kontrollen erstarrtes Demokratieverständnis wehrt sich gegen diese Dominanz.

Die Krise wird dadurch verschärft, daß der vielschichtige und abstrakte Begriff der Demokratie in vielen Facetten vorkommt, während Wirtschaft zwar definitorisch leichter zu fassen ist, aber als Schlagwort kaum die Komplexität der unterschiedlichen Akteure vermittelt. Eine nach vorn blickende Krisenbewältigung kann daher einerseits nicht nur mit sattsam bekannten politischen Schlagworten operieren, sondern muß den Begriff der Demokratie mit konkretem neuem Gehalt füllen. Dieser könnte zwar darin bestehen, Demokratie als allgemeine Lebensform zu definieren; dies hätte allerdings schier unabsehbare Auswirkungen auf die Schnittstelle zur Wirtschaft, die geschaffen werden müßte, um ein produktives Miteinander zu bewirken. Vielleicht muß daher deutlich zurückhaltender argumentiert und das demokratische Prinzip auf die Bereiche beschränkt werden, die notwendigerweise Anspruch auf Gehorsam erheben und die insoweit in der Entscheidungsfindung alle Bürgerinnen und Bürger mittragen müssen. Diese jedoch drohen, in den Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaft und Demokratie zerrieben zu werden. Ihr Eintreten für Demokratie ist jedenfalls nicht (mehr) als Miteinander von Demokratie und Wirtschaft, sondern eher partizipatorisch definiert. Nicht zuletzt aufgrund des gestiegenen Bildungsniveaus ist vor allem eine über das traditionelle Maß weit hinausgehende Teilhabe an der res publica tief in das Demokratieverständnis der meisten Bürgerinnen und Bürger eingedrungen. Dafür gilt es Lösungen zu entwickeln.

Für den vorliegenden Zusammenhang ist es andererseits zu pauschal, „systemrelevante“ Großunternehmen, deren Schicksal erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt hat, im Besitz des Staates befindliche, aber als wirtschaftliche Akteure organisierte Gewährleister von Basisdienstleistungen, dem Gemeinwohl verpflichtete Sozialunternehmen, eigentümergeführte kleine und mittlere Unternehmen und andere Teilbereiche summarisch als Wirtschaft über einen Kamm zu scheren, so sehr dies im Hinblick auf gemeinsame Charakteristika in anderen Zusammenhängen denkbar und zulässig erscheint. Ihr Verhältnis zur Gesellschaftsordnung und damit auch zur Demokratie wird jedenfalls unterschiedlich sein; man denke nur an Genossenschaften und deren Komponente der Gemeinwohlorientierung. Aus alldem ergibt sich eine lästige, aber notwendige Frage: Von wem und von was sprechen wir überhaupt?

II.

Anders als dies Fukuyama glauben machen wollte und als dies bis heute von politischen und wirtschaftlichen Eliten beschworen wird, befinden sich Wirtschaft und Demokratie im allgemeinen nicht in einem harmonischen, den Menschen nützlichen positiven Partnerschaftsverhältnis, sondern in einer von – vielfach gerechtfertigtem – gegenseitigen Mißtrauen geprägten Beziehungskrise. Wenn tatsächlich der Kapitalismus einst das Biotop war, auf dem Demokratie erst gedeihen konnte, so ist er, global betrachtet, heute eher ein Gegenpol zu neuen, einem starken Wandel unterworfenen Demokratiekonzepten. Schon 2011 sprach der türkische, in Harvard lehrende Ökonom Dani Rodrik deshalb von einem „Globalisierungs-paradox“, indem Globalisierung (der Wirtschaft), der (überkommene) Nationalstaat und die Demokratie eben nicht auf einen Nenner zu bringen sind.

Das in Deutschland praktizierte Demokratiemodell mit seinen korporatistischen Zügen kommt den großen, Akteuren der Wirtschaft insofern zupaß, als es legitime Einflußmöglichkeiten zur Durchsetzung eigener Ziele bereithält. Das Problem ist, daß dieses Modell heute von mehreren Seiten in Frage gestellt wird, von populistischen Strömungen, die auf eine Diktatur der Mehrheit hinarbeiten ebenso wie von sozialen Bewegungen, die ein partizipativeres Demokratiemodell einfordern. Viele Wirtschaftsakteure sehen beides mit Argwohn. Populistische Strömungen stehen zumindest im Verdacht, den Anliegen von Unternehmen weniger aufgeschlossen gegenüber zu stehen; eine Ausweitung von partizipatorischen Elementen könnte dagegen Handlungsoptionen weiter einengen und Planungshorizonte weiter verlangsamen. Insoweit könnte hier trotz der fundamentalen Unterschiede die Schnittmenge größer sein als zunächst vermutet. In der Tat wird sie – geradezu als Pakt zwischen Wirtschaft und Staat – vielfach unterstellt.  Allerdings läßt sich fragen, ob dieser Pakt möglicherweise nur aus Pfadabhängigkeit und allerlei Ängsten hält und die Realität ausblendet.

Manche Beschränkungen der Wirtschaft erscheinen in der komplexen Realität des 21. Jahrhunderts zwingend oder sind zumindest erwartbar. Man denke beispielsweise an die kontinuierliche Zunahme von Kontrollen im Zusammenhang mit Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Terrorismusfinanzierung, aber auch an die Klimakrise. Zugleich wird mit Wirtschaftsmodellen experimentiert, die in der Morphologie von Frank Schulz-Nieswandt und anderen als gemeinwirtschaftlich benannt werden und bei denen die Schnittmenge zu einer demokratischen Ordnung eher größer erscheint als bei traditionellen. Ob all diese Experimente nachhaltig erfolgreich sein werden, kann hier dahinstehen. Ergebnis dieser Überlegungen ist jedenfalls, daß das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Demokratie ungeachtet eines wohl umfassenden Bekenntnisses der wirtschaftlichen Eliten und erst recht des Großteils ihrer Mitarbeitenden zum demokratisch verfaßten Staat mit strukturellen und aktuellen Herausforderungen behaftet ist, die durch ein allgemeines Bekenntnis allein nicht aus der Welt zu schaffen sind.

III.

Zurück zum Ausgangspunkt: Der Transformationsprozeß der Jahre 1989/1990 ist bekanntlich letztlich weder durch die Wirtschaft oder, allgemeiner, die (katastrophalen) wirtschaftlichen Gegebenheiten in Mittel- und Osteuropa, noch durch eine sich aus sich selbst heraus unverhofft zu einer wie immer gearteten Demokratie (westlicher Prägung) bekennende politische Elite bewirkt worden. Vielmehr ist hier eine dritte, nicht mit hoheitlicher Gewalt ausgestattete aber dennoch gemeinwohl-orientierte gesellschaftliche Akteursgruppe überaus wirksam in Erscheiung getreten: Es sind die seit den späten 1970er Jahren entstandenen selbstermächtigten Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen, wegen ihrer mit der KSZE-Schlußakte von 1975 im Zusammenhang stehenden Voraussetzungen auch Helsinki-Gruppen genannt. Im Rückblick lassen sich die Ereignisse von 1989 unter Verwendung eines Begriffs, der sich erst in den Jahrzehnten danach durchgesetzt hat, als eine frühe Sternstunde der Zivilgesellschaft (von englisch civil society) bezeichnen. Dieser bürgerschaftliche Raum (civic sphere), eine Arena neben denen der Wirtschaft und des (demokratischen) Staates, ist aus der des 21. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken – und wurde von Fukuyama und anderen vollständig übersehen oder in seiner, von Joseph Nye als soft power bezeichneten Wirkmächtigkeit verkannt (Nye 1990). In diesem Raum tummeln sich allein in Deutschland Hunderttausende von kollektiven Akteuren, die sich anhand einiger Kriterien dort zuordnen lassen, aber untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen. Durch die Existenz dieses Raums wird die Pluralität der ökomischen und politischen Wirklichkeit gesamtgesellschaftlich ergänzt, aber auch gestützt.

Die fortgeschrittene Ausdifferenzierung der Gesellschaft, durch die der Nationalstaat als solcher ebenso auf den Prüfstand gestellt wird wie die Hinorientierung auf den Staat ganz gleich welcher Prägung im allgemeinen, läßt, auch wenn dieser Transformationsprozeß noch ganz am Anfang steht, deutlich Konturen eines gesellschaftlichen Umbaus erkennen, der der Zivilgesellschaft als der dritten gesellschaftlichen Arena neben Staat und Markt als einer Arena der Empathie, des Geschenks und der Gemeinwohlorientierung ohne den Herrschaftsanspruch des demokratischen wie jedes anderen Staates den bisher versagten Rang zumessen wird, schon deshalb, weil Zivilgesellschaft – und gerade die kritische – die treueste Verbündete im Kampf um die wichtigsten Attribute der Demokratie ist. Daß sie der permanenten wissenschaftlichen und öffentlichen Begutachtung ebenso unterworfen ist wie Wirtschaft und Demokratie, steht außer Frage. Aber ihre Existenz einfach zu verdrängen, ist weder realistisch noch vernünftig. Denn nur mit der Zivilgesellschaft, genauer unter Einbeziehung der von dieser einzubringenden Handlungslogik läßt sich das skizzierte fundamentale Dilemma der Beziehung zwischen Wirtschaft und Demokratie auflösen. Anders gesagt: Ein System mit drei Arenen im öffentlichen Raum, davon einer bürgerschaftlichen vermag den Wunsch nach Demokratie und einer freien Wirtschaft aufzufangen. Der von Jürgen Habermas (1962) beschriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit liefert dafür ein theoretisches Fundament. Für das 21. Jahrhundert bietet die Trias von Modernisierung (der Wirtschaft), modernisiertem demokratisch legitimiertem Regelwerk (des Staates) und selbst ermächtigtem Engagement (der Zivilgesellschaft) jedenfalls eine bessere Prognose für die Resilienz einer offenen Gesellschaft. Diese erhoffen wir uns als Bürger und Bürgerin. Mit Wirtschaft allein ist sie nicht zu haben.

Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung, München/Berlin.

 

Quellen

Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte? in Europäische Rundschau, Jg. 17, H. 4, Wien 1989, S. 3–25

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990

S. Nye: Soft Power. In: Foreign Policy Jg. 80 (3), Washington D.C. 1990, S. 153–171.

Dani Rodrik: The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy. New York / London: W.W. Norton 2011

John Ralston Saul: Der Markt frißt seine Kinder. Frankfurt a.M.: Campus 1997

Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, eine soziologische Studie [aus Preußische Jahrbücher 1922]. Ditzingen: Reclam 2019 (Reclams Universalbibliothek Nr. 19538)

Rupert Strachwitz

Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz

Vorstand der Maecenata Stiftung
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