06. Oktober 2020 | via Deutscher Bundestag
Bürgerräte können eine sinnvolle Form der politischen Beteiligung darstellen und den demokratischen Willensbildungsprozess des Parlaments ergänzen, so das Fazit eines öffentlichen Fachgesprächs des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ am Dienstag, 6. Oktober 2020, unter der Leitung des Vorsitzenden Alexander Hoffman (CDU/CSU).
Als einen Mosaikstein neben den vielen einzelnen Engagierten und der organisierten Zivilgesellschaft sowie den Beteiligungsformaten des Deutschen Bundestages komme es darauf an, das Instrument der Bürgerräte sorgfältig zu konzipieren, von der Zufallsauswahl der Teilnehmer über die Themen bis hin zu Arbeitsweise, Moderation, Entscheidungsfindung und Einbringen der Ergebnisse in das Parlament, wo die Arbeit der Bürgerräte gewürdigt und im Gesetzgebungsverfahren berücksichtig werden sollte.
Was sich aus dem ersten Bürgerrat-Verfahren in Deutschland aus dem Jahr 2019 lernen lasse, wollten die Mitglieder des Unterausschusses von den geladenen Sachverständigen wissen. Welche Erfahrungen Irland gemacht hat, in dessen politischem System Bürgerräte seit einigen Jahren als Form der Mitsprache etabliert sind, erläuterte Dr. Nicholas O’Brien, Botschafter der Republik Irland, am Beispiel seines Landes.
Indem man in diesem Rahmen emotional befrachtete und polarisierende gesellschaftliche Schlüsselfragen wie das Thema Abtreibung aufgegriffen und versucht habe, diese Frage nicht konfrontativ anzugehen, sondern sach- und lösungsorientiert, habe man schließlich eine Lösung herbeiführen können, berichtete er. Die Gespräche und Entscheidungen des Bürgerrates hätten dazu geführt, dass die Verfassung entsprechend geändert worden sei.
Die Einbindung der Bürger, deren Behandlung des Themas und Empfehlung an das Parlament, hätten die Debatte entschärft – „Das hat eine Menge Hitze aus der Debatte genommen“ – und dazu geführt, dass die politische Entscheidung durch das Parlament am Ende auf eine breitere öffentliche Akzeptanz gestoßen sei.
Für den Erfolg eines Bürgerrates entscheidend sei eine gute Moderation durch einen erfahrenen Vorsitzenden ebenso wie eine möglichst repräsentative Auswahl von Bürgern, mindestens nach Alter, Geschlecht und Wohnsitz. „Die Zusammensetzung ist der Schlüssel zum Erfolg.“
Das „irische Modell“ habe das „Pilotprojekt in Deutschland im Herbst 2019 inspiriert“, das sein Verein betreue, sagte Roman Huber, Geschäftsführender Bundesvorstand des Vereins „Mehr Demokratie“. Die Ergebnisse des ersten Bürgerrates in Deutschland lägen dem Bundestag vor, ein zweiter Bürgerrat zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ sei für Anfang 2021 geplant.
Der erste Bürgerrat habe ergeben: „Bürgerinnen und Bürger wollen eine Ergänzung der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie“. Bei der Einrichtung eines Bürgerrates müsse man zunächst alles tun, damit Menschen teilnehmen können. Das beginne bei der Einladung. „Sie müssen sicher stellen, dass die Leute die Einladung verstehen.“ Und nicht als Werbesendung wegwerfen. Thema, Sinn und Zweck der Veranstaltung müssten klar kommuniziert werden.
Der Austausch der Teilnehmenden im Bürgerrat finde dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit, „am kleinen Tisch“, statt. So dass mediale Profilierung ausgeschlossen werden und jeder frei reden könne. Für den Ablauf gebe es klare Regeln. Der Gegenstand müsse für alle verständlich besprochen werden, Fachjargon übersetzt werden. Zu den Rederegeln des ersten Bürgerrates habe beispielsweise gehört, dass erst dann jemand zum zweiten Mal sprechen dürfe, wenn alle in der Runde einmal gesprochen hätten. Die Erfahrung zeige, dass die Redezeiten der Teilnehmer sich im Lauf der Zeit angleichen.
„An der Moderation“ dürfe man „auf keinen Fall sparen“, mahnte Huber. „Gute Moderatoren sind das A und O“ für einen erfolgreichen Bürgerrat. Während es bei der Zufallsauswahl der Teilnehmer nicht schwer gegen sei, eine nach Alter, Geschlecht und Wohnort repräsentative Gruppe zusammenzustellen, sei dies bei dem Parameter „Bildung“ schon schwieriger gewesen. „Bildung ist bei der Auswahl schwer abzubilden. Aber wir bekommen Menschen mit Volksschulbildung rein.“
In Bürgerräten bekomme man „Menschen aus dem ganzen Land zusammen, die sonst nie miteinander reden würden“, und das mache mit den Mehrwert dieses Gremiums aus. Jeder komme wirklich „aus seiner Blase raus“. Themen würden auf eine neue, spannende Weise diskutiert. Für Politik, Parlament und Ausschüsse bestehe der Mehrwert des Bürgerratsverfahrens darin, einmal ein wirklich präzises Bild zu der Frage geliefert zu bekommen: „Was wollen die Bürger jetzt zu einer bestimmten Frage?“
Als Verfahren für die Initiierung von Bürgerräten schlug Huber vor, dass dies künftig beispielsweise über eine Unterschriftensammlung geschehen könne, die dann dem Parlament übergeben werden könne. Der Bundestag würde dann den Bürgerrat ins Leben rufen.
Um eine Verstetigung der professionellen Abläufe, Organisation und Finanzierung sicherzustellen, schlug er die Einrichtung einer Stabsstelle beim Bundestag oder bei der Bundesregierung vor. Die Bürger wiederum bekämen während ihrer Zusammenarbeit Respekt vor dem demokratischen Prozess, der „Schwierigkeit in einer kontroversen Debatte zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen“. Sie erwarteten dann auch nicht, dass die Parlamentarier die Beschlüsse des Bürgerrates eins zu eins übernähmen. Aber schon, dass diese sich damit würdig befassten.
Mit sechs Fragen gehe es im Frühjahr an drei Wochenenden in den zweiten Bürgerrat, kündigte Huber an. Übergabe der Ergebnisse an den Bundestag: am 19. März 2021. „Damit sich der Bundestag noch vor der Osterpause mit den Ergebnissen befassen kann.“ Den Fragenkatalog zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ habe man in einem breiten und mehrstufigen Verfahren erstellt, und Bürger in Los-basierten Fokusgruppen und 80 zivilgesellschaftliche Organisationen befragt sowie alle Fraktionen im Deutschen Bundestag um Stellungnahme gebeten, was sie darunter verstehen und schließlich eine Themenlandkarte vorgestellt, um zu überprüfen, „ob wir die richtigen Fragen gestellt haben“.
Dr. Siri Hummel, stellvertretende Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, sagte, Bürgerräte dürften nicht als Ersatz für eine lebendige organisierte Zivilgesellschaft verstanden werden, stellten aber eine sinnvolle Ergänzung dar. Sie unterstrich, wie wichtig eine ausgereifte Organisation, genügend zeitlicher Vorlauf, eine professionelle Durchführung und eine ausreichende finanzielle Ausstattung für den Erfolg eines Bürgerrates seien.
Man müsse dem Gremium gute Strukturen geben und klare Rederegeln und Sprechzeiten verabreden, die auch die Leisen zu Worte kommen ließen. Und schließlich komme es auf eine gute Moderation an.
Auch Dr. Ansgar Klein, Geschäftsführer Fachpolitik des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und Beiratsmitglied im Bürgerrat Demokratie, nannte Bürgerräte „ein wertvolles, zusätzliches Instrument im Werkzeugkasten der Engagement– und Demokratieförderung“, um das Parlament bei seiner Entscheidungsfindung zu begleiten und zu beraten. Bürgerräte könnten aber nicht für das Bürgerschaftliche Engagement in seiner ganzen Breite und die Demokratiepolitik stehen. Der Bundestag müsse Demokratie und dazu die politische Bildung fördern. Diesen Ansatz dürfe man aber nicht auf direkte Demokratie und Bürgerräte reduzieren.
Der Bundestag verfüge mit dem Unterausschuss Bürgerschaftliche Engagement selbst über ein Gremium zur Engagement-Förderung, ein Gremium, das als Schnittstelle zwischen Politik, Bürgerengagement und Zivilgesellschaft fungiere, und das man vor dem Hintergrund der Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre zu einem Hauptausschuss aufwerten müsse.
Klein rief die erprobte und umfassende Rolle der „multisektoral organisierten“ Zivilgesellschaft als Ort der Bürgerbeteiligung in Erinnerung. Die Zivilgesellschaft gehe auf die Bürger zu. Die „Handlungs- und Erfahrungsräume“, die die Zivilgesellschaft biete, eine Fülle an Formaten, auch der politischen Bildung, gelte es für die Bürgerbeteiligung und als „demokratische Lernräume“ zu nutzen. Er warb für eine „Bundeskompetenz für Engagement-Politik“, die stabile zivilgesellschaftliche Strukturen fördern müsse, um das bürgerschaftlichen Engagement zu unterstützen.
Prof. Dr. Roland Lhotta, Professor für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, unterstrich die Rolle von Bürgerräten als Instrument, um Partizipation zu stärken. „Gegen ein Mehr an Demokratie ist nichts einzuwenden.“ Aber man dürfe Bürgerräte nicht als Ersatzteil direkter Demokratie für die parlamentarische, repräsentative Demokratie verstehen, und „nicht versuchen, den einen Demokratie-Typus durch Bestandteile des anderen besser zu machen.“ Es könne nicht darum gehen, Bürgerräte in eine Debatte um zwei alternative Ausprägungen von Demokratie zu zwängen und beide gegeneinander auszuspielen.
Die Repräsentation aller Staatsbürger sicherzustellen, sei Aufgabe des gesamten politischen Systems. Bürgerbeteiligung finde bereits an vielen Stellen statt, von der kommunalen bis zur Bundesebene. Bürgerräte könnten einen Teil dazu beitragen, ja „könnten und sollten ein wichtiger Teil der repräsentativen Demokratie, ein Mosaiksteinchen zu all dem, was wir haben, sein.“
„Wir brauchen breiten Raum der Interaktion und Kommunikation.“ Bürgerräte hätten gewiss einen Mehrwert bei der Organisation der politischen Willensbildung, aber man solle mit ihrer Befürwortung und Einrichtung nicht ein Mehr an Demokratie suggerieren. Entscheidend bei der Einrichtung von Bürgerräten seien deren ausgereifte Konzeption und Abläufe. Und eine saubere Schnittstelle zum Parlament. „Wenn es gut institutionalisiert wird“, dann funktioniere es. Am Ende müsse man sicherstellen, dass die Ergebnisse von Bürgerräten im Bundestag entsprechende Würdigung erführen, und dass diese „nicht für die Schublade produzieren.“ Eine „wesentliche Ressource beim politischen Mittun“ sei die „Anerkennung des politischen Systems in dem man sich bewegt.“
Politik, Parlament und alle Parteien könnten von einem solchen bürgerschaftlichen Input profitieren, sagte Lhotta und warb dafür, es einfach auszuprobieren, wie mit dem ersten Bürgerrat bereits geschehen, und dann gegebenenfalls, „Learning by doing“, das Instrumentarium sukzessive zu verbessern. „Stärken denn nun Bürgerräte die Demokratie?“, wollte Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) wissen. Lhotta: „Sie stärken das repräsentative System, ja. Davon kann eine Demokratie nur profitieren.“
Am 15. November 2019 übergab der vom Verein Mehr Demokratie initiierte Bürgerrat Demokratie ein von 160 aus den Einwohnermelderegistern gelosten Bürgerinnen und Bürgern erarbeitetes Bürgergutachten an Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble. Das Gutachten des bundesweiten ersten Gremiums dieser Art enthält 22 Empfehlungen hinsichtlich der Ergänzung der repräsentativen Demokratie in Deutschland durch mehr Bürgerbeteiligung und direktdemokratische Elemente auf Bundesebene.
Am 18. Juni 2020 hatte der Ältestenrat des Bundestages auf Vorschlag des Bundestagspräsidenten beschlossen, eine neue Form der Bürgerbeteiligung einzuführen, um die politische Willensbildung zu unterstützen. Ein losbasierter Bürgerrat soll ein Gutachten zur Rolle Deutschlands in der Welt vorlegen. Dieses Vorhaben wird als eigenständiges Projekt des Vereins Mehr Demokratie unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten umgesetzt.
In Irland wird diese Form der Bürgerbeteiligung bereits seit 2012 in Form der „Citizens’ Assembly“ praktiziert. Dabei wurden auch gesellschaftlich hochkontroverse Themen behandelt. (ll/vom/07.10.2020)