Das Thema „Bürgerräte“ aus der Sicht der Zivilgesellschaftsforschung

Observatorium 46 | 15.10.2020 | Der Beitrag beruht auf einem Vortrag im Rahmen einer Anhörung im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement des Deutschen Bundestages am 06.10.2020 und thematisiert das Konzept der BürgerInnenräte, ihrem Potenzial sowie ihren Grenzen.

BürgerInnenräte haben in den letzten Jahren neben anderen Formen demokratischer Innovationen vermehrt Beachtung gefunden. Spätestens seit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Bürgerräte als „eine Art Kompromiss zwischen einer reinen parlamentarischen Demokratie und einer mit Plebisziten“ angepriesen hat, genießt das Thema auch abseits von Demokratietheoretikern größere Aufmerksamkeit.[1]
Neben Plebisziten oder anderer Formen von Bürgerbegehren stellen die BürgerInnenräte also ein mögliches Instrument dar, in dem Bestreben die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie zu ergänzen.
Mit der Idee der BürgerInnenräte verbinden sich zwei große Versprechen: gerechtere und bessere Politikergebnisse, sowie eine stärkere Rückbindung politischer Entscheidungen an den Volkssouverän und damit die Verhinderung der Entfremdung der Bürgerinnen von der Politik. Gerechtere Politikergebnisse sind zu erwarten, weil der Bürgerinnenrat durch die diversere, zufallsgesteuerte Auswahl der Beteiligten hinreichend unterschiedliche Perspektive einbindet und die Wahrscheinlichkeit erhöht, konsensual von der Mehrheit der Bürgerinnen angenommen zu werden. Mithilfe der BürgerInnenräte können die gesetzgebenden Empfehlungen und Stimmungsbilder zu bestimmten Sachverhalten, direkt aus der Gesellschaft heraus, erfragen. Sie können Politikverdrossenheit entgegenwirken, weil eine Beteiligung, die über den Wahlgang hinaus geht, eine höhere Selbstwirksamkeit und Resonanzerfahrung unter den BürgerInnen, auch über die direkten Beteiligten hinaus, verspricht.
Zwei Kernmerkmale konstituieren die BürgerInnenräte also: Die Beteiligung nicht gewählter BürgerInnen während des politischen Entscheidungsprozesses und deren zufallsgesteuerte Auswahl unter Rekonstruktion sozialstatistischer Repräsentativität.
BürgerInnenräte können unterschiedlichste Formen und Größe annehmen und verschiedene Verfahren beinhalten. Sporadische Einberufungen sind ebenso möglich wie stark institutionalisierte Formen, die Beteiligung kann von wenigen Dutzend zu Hunderten von Bürgerinnen reichen und auf lokaler, ebenso wie auf Landes- oder Bundesebene abgehalten werden. Bekannte Beispiele erfolgreicher Bürgerräte finden sich in Irland, Vorarlberg in Österreich oder im elsässischen Kingersheim, aber auch in Deutschland gibt es kommunale Pilotprojekte. Die Bandbreite der Themen reicht über die Gestaltung städtischer Parkanlagen bis zu Abstimmungen über die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Theoretisch wie empirisch sprechen gute Gründe für die Einberufung von BürgerInnenräten

Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass in ihnen große Potenziale politischer Selbstwirksamkeitserfahrungen liegen (Buchstein 2018). Diese auszuschöpfen, sind angesichts einer zunehmenden Entfremdung vieler BürgerInnen von der Politik notwendig. Bisherige Erfahrungen mit Bürger- Innenräten oder ähnlichen Losgremien zeigen folgende Befunde:
Durch die gestufte Zufallsauswahl erreicht man einen deutlich höheren Grad an sozialer Heterogenität als in den klassischen Institutionen. Durch eine sorgfältig durchgeführte Zufallsauswahl kann die Repräsentativität einer zunehmend diversen Gesellschaft, die in ‚Akademiker-Parlamenten‘[2] problematisch wird, über BürgerInnenräte gut sichergestellt werden. Der Zufall des Loses nivelliert strukturelle Vorteile im Partizipationszugang. Da normalerweise Bildung, Geld und Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Partizipation führen, wirkt der Zufall hier chancenausgleichend (Buchstein 2009).  Das sogenannte aleatorische (von alea. = Lat. dem Würfel) Verfahren knüpft dabei an eine seit der Antike bestehende demokratische Tradition an und stellt gewissermaßen eine Wiederentdeckung dar (ebd.).
Im Laufe des Beratungsprozesses entwickeln die Beteiligten ein größeres Verständnis für unterschiedliche Positionen. Sie sind eher geneigt von vorherigen Extrempositionen abzuweichen, was eine Konsensfindung, mit dessen Ergebnis alle mehr oder weniger gut leben können, erleichtert (Fishkin und Luskin 2004). Die polarisierenden Triebkräfte, die häufig in homogenen Gruppen zu beobachten sind, kommen in divers zusammengesetzten Gruppen anscheinend weniger stark zum Tragen (Gastil/Weiser 2010), sodass die Teilnehmenden leichter eine „gemeinsame argumentative Orientierung“ entwickeln (Buchstein 2018: S 232).
Zudem stellen sich bei den Beteiligten ‚politische‘ Lernprozesse ein (Fishkin und Farrar 2005). Neben dem Faktenwissen und einem besseren prozeduralem Verständnis von politischen Vorgängen werden die Entschlüsse auch besser in das eigene Wertefundament integriert. Das Vorgehen einer Abstimmung etwa oder die Moderation von Positionen, die in einem tragbaren Konsens münden, sind politische Erfahrungen, die vielen BürgerInnen nur begrenzt vertraut sind und die in den BürgerInnenräte neben der eigentlichen ‚Themenarbeit‘ eingeübt werden. Darüber hinaus kann der gemeinsam entwickelte Konsens auch emotional miterlebt und vor sich selbst besser vertreten werden (Buchstein 2018). Uninformiertes Abstimmungsverhalten, das häufig bei anderen Formen direkterer Demokratie befürchtet wird, ist bei den BürgerInnenräten unwahrscheinlicher, da diese eine sehr ausführliche Informationsphase beinhalten.
Beide Punkte, die Möglichkeit zur Überwindung von festgefahrenen Antagonismen, wie die Vermittlung von politischem Fakten- und Prozesswissen, können so auch populistischem Abstimmungsverhalten entgegenwirken, welches sich durch eine ausgeprägte Anti-Establishment-, sowie Anti-Pluralismus-Haltung auszeichnet (Müller 2016).

In Bezug auf Bürgerschaftliches Engagement lässt sich mit Blick auf BürerInnenräte ein doppelseitiges Wechselverhältnis feststellen: Wer sich einmal beteiligt, tut das in der Regel dann häufiger und über die Pilotprojekte hinaus. Die Forschung spricht hier von den sogenannten Mehrfachengagierten, bei denen man sehen kann, dass Beteiligung gewissermaßen über die Lebensbereiche hinweg ansteckend ist. (Schulte 2015). Bürgerschaftliches Engagement wiederum bildet politisch: Die Erfahrungswerte der freiwilligen Einbindung in Assoziative, die Zusammenarbeit für eine ‚gemeinsame Sache‘ vermitteln den Engagierten gute Voraussetzungen für die deliberativen Verfahren der BürgerInnenräte.
BürgerInnenräte können zudem dort zum Tragen kommen, wo sich parlamentarische Schwachstellen auftuen, indem sie sich bei Sachthemen anbieten, die parteiintern verschiedene Fronten aufweisen – also beispielsweise bei den Themen Sterbehilfe oder Wahlrechtsreform – Themen also, bei denen sich nur schwer koalitionsinterne Lösung  abzeichnen.

Bei allen Gründen, die für die Einführung sprechen; für den Erfolg von BürgerInnenräten sind bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen:

Die gestaffelte Zufallsauswahl sollte nach Kriterien inklusiver Beteiligung getroffen werden (Geißel et al. 2019). Das Verfahren muss darüber hinaus sorgfältig moderiert und begleitetet werden, auch sollten unterschiedliche Diskussionsformate eingesetzt werden, um jedem Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, seine Meinung in Sprache zu bringen und zu Wort zu kommen.
BürgerInnenräte brauchen also Zeit und Geld. Ein hinreichender Vorlauf, sowie ausreichend Ressourcen zur Durchführung sind entscheidend für einen erfolgreichen Ablauf.
BürgerInnenräte dürfen kein schmückendes Beiwerk sein, sondern müssen in irgendeiner Form Entscheidungsrelevanz ausweisen! Für die Motivation der Teilnehmenden, aber auch für die Wahrnehmung von BürgerInnenräten in der Bevölkerung, ist enorm wichtig, dass die Ergebnisse nicht ‚in der Schublade‘ enden. Dies kann im Umkehrschluss sonst zu noch größerer Politikverdrossenheit führen.
BürgerInnenräte sollten nicht nur als einzelne, punktuell angelegte Partizipationsverfahren an wechselnden Orten stattfinden, sondern stärker institutionalisiert werden.
Die Verbindlichkeit der Ratsbeschlüsse kann über verschiedene Instrumente hergestellt werden, neben einer Befassungspflicht der gesetzgebenden Instanzen könnten Initiativ- oder Selbstbefassungsrechte verankert werden.

BürgerInnenräte können die politisierte, organisierte Zivilgesellschaft nicht ersetzen!

Und schließlich ist wichtig zu betonen: Die Funktion der Aggregation schwacher Stimmen durch die Zivilgesellschaft darf nicht unter dem Vorwand der Einführung von BürgerInnenräten vernachlässigt werden. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die als Themenanwälte oder Wächter aktiv sind, müssen in ihrem Engagement, unterrepräsentierte Gruppen und Themen zu vertreten, weiterhin gestärkt werden. Die Organisationen verfügen zum einen durch den direkten Austausch mit Betroffenen über wichtige Informationen und zum anderen auch über jahrelanges Faktenwissen in den Fachgebieten, diese Expertise kann durch die BürgerInnenräte nicht ersetzt werden. Wenn es um die Frage der Finanzierung geht, darf das Eine gegen das Andere nicht ausgespielt werden!

Vielmehr sind beide als unterschiedliche Möglichkeiten zu sehen, die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie sinnvoll zu ergänzen. 

[1] Frankfurter Allgemeine (2020). Schäuble will Bürgerräte einrichten. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/schaeuble-will-buergerraete-einrichten-16972347.html?premium=0xb8dac241b2f29949e937ebc2da56c77d&GEPC=s5 (14.10.2020).

[2] Mit Akademiker-Parlamenten ist gemeint, dass diese in ihrer Besetzung von Akademikern dominiert sind und Migranten und Frauen, aber auch Arbeiter und Geringgebildete unterrepräsentiert sind (Schäfer 2015).

Literatur:

Buchstein, Hubertus 2009: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Campus Verlag

Buchstein, Hubertus 2018: Auf dem Weg zur Postwachstumsgesellschaft – von der Resonanztheorie zur aleatorischen Demokratietheorie. In: Berliner Journal für Soziologie 28 (1), 209-236.

Fishkin, J., & Luskin, C. 2005: Experimenting with a democratic ideal: Deliberative polling and public Opinion. Acta Politica, 40, 284–298.

Fishkin, J., & Farrar, C. 2005: Deliberative polling. From experience to community resource. In J.

Gastil & P.Levine (Hrsg.), The deliberative democracy handbook (S. 686–697). San Francisco: Jossey-Bass.

Geißel et al. 2019: Evaluationsbericht Bürgerrat Demokratie.https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/evaluationsbericht.pdf

Müller, Jan-Werner 2016: Was ist Populismus? – Ein Essay. Suhrkamp Edition

Schäfer, Armin 2015: Die Akademikerrepublik: Kein Platz für Arbeiter und Geringgebildete im Bundestag? In: MPIfG Jahrbuch 2015-2016. Köln:

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung 2015, 89-96.

Schulte, Max 2015: Mehrfachengagierte und ihre Engagementkarrieren. Springer Verlag

Siri Hummel

Dr. Siri Hummel

Direktorin des Maecenata Instituts
sh@maecenata.eu

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