Vor welchen Fragen steht die humanitäre Hilfe?

Ideen für Analyse, Debatte und Vermittlung für das Centre for Humanitarian Action

Observatorium 25 | 15.08.2018 | Im dreijährigen Vorbereitungsprozess haben die Gründungsorganisationen des CHA Anliegen von Hilfsorganisationen in Deutschland gesammelt, zuletzt in der AG Humanitäre Hilfe von VENRO im Juli 2018. Die Themen und Fragen erwachsen vor allem aus der eigenen Praxis der Hilfsorganisationen. Die Bedarfsanalyse zeigt eine große Bandbreite.

Das Forschungsfeld Humanitäre Hilfe

Die Humanitäre Hilfe ist leider aufgrund eskalierender Krisen in den vergangenen Jahren stark gewachsen und hat sich auch in Deutschland als Politikfeld etabliert. Der Begriff „humanitäre Hilfe“ und vor allem das Adjektiv „humanitär“ werden im Deutschen oft unbestimmt benutzt (Quack 2016: 44- 48). Aus Sicht der humanitären Hilfsorganisationen und nach verschiedenen internationalen Übereinkünften wird die Humanitäre Hilfe allerdings klar dadurch definiert, dass sie den humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität folgt. In diesem Sinne wird der Begriff Humanitäre Hilfe hier großgeschrieben. Dabei handelt es sich nicht um eine rein akademische Frage: Noch vor wenigen Jahren waren für viele Hilfsorganisationen ertrinkende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer kein Gegenstand der Humanitären Hilfe. Immer mehr wird Humanitäre Hilfe auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Forschungsfeld Humanitäre Hilfe spannt sich über viele Themen und hat Verbindungen zu anderen Politikfeldern. Es hat keine eindeutigen Grenzen und wurde bisher kaum beschrieben. Erst 2013 haben Jürgen Lieser und Dennis Dijkzeul ein Handbuch in deutscher Sprache vorgelegt, mit Beiträgen aus Wissenschaft und Praxis.

Monika Krause (2014) sieht im wachsenden sozialen Feld der Humanitären Hilfe die Produktion „guter Projekte“ als die wesentliche Orientierung der Akteure, die in Konkurrenz um staatliche Mittel und Spenden stehen. Sie liefert gute Gründe für diese Analyse. Aber muss das so sein und wie kann die Orientierung an wirksamer, unparteilicher Hilfe gestärkt werden? Das hängt sicher auch von dem Verhalten der humanitären Akteure ab und davon, welche Fragen von ihnen und anderen an die Humanitäre Hilfe gestellt werden.

Der fundamentale Reformbedarf in der Humanitären Hilfe und die Krise der Multilateralismus (Donini 2018) hat auch in der angewandten Forschung zu neuen Visionen geführt (Kent et al. 2016, Bennett 2018).

Eine neue Denkfabrik

Das ist der Kontext für eine Neugründung: In diesem Jahr (2018) gründen Hilfsorganisationen gemeinsam mit der Maecenata Stiftung das Centre for Humanitarian Action (CHA), weil es bisher im deutschsprachigen Raum nur wenige Ressourcen für kritische Reflexion von Humanitärer Hilfe gibt, etwa im Global Public Policy Institute (GPPi) und an der Ruhr Universität Bochum. Das CHA steht vor der Frage, welchem Verständnis von Humanitärer Hilfe es folgt und welche Fragen es zu beantworten sucht. Die Arbeit des CHA soll dazu dienen die Humanitäre Hilfe und ihre politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Das CHA soll mehr Analyse und Debatte zur Humanitären Hilfe sowie eine bessere Vermittlung in Politik und Gesellschaft erreichen, indem es eng mit humanitärer Praxis, Wissenschaft und Politik zusammenarbeitet.

Woher kommt der Bedarf für eine solche Denkfabrik? In erster Linie aus der Praxis: Humanitäre Hilfsorganisationen stehen vor allem in gewaltsam ausgetragenen Konflikten vor immensen Problemen, wenn sie unparteiliche Hilfe für Menschen in Not leisten. So verweigern oft Konfliktparteien denjenigen, die am meisten Hilfe benötigen, den Zugang zu Hilfe. Der Bedarf kommt auch aus aktuellen politischen Krisen, allen voran die politische Krise in Europa um die Aufnahme von Menschen auf der Flucht. Auch internationale Debatten und Prozesse zur Humanitären Hilfe machen den Bedarf an Reflexion deutlich, etwa die weitreichenden Visionen und Reformideen oder die wachsende Rolle der Akteure vor Ort, also der Prozess der „Lokalisierung“.

Schließlich bringen auch gesellschaftliche Veränderungen Reflexionsbedarf mit sich, etwa eine zunehmende oder abnehmende Religiosität oder die Ausweitung von wirtschaftlicher Nutzenmaximierung in alle Gesellschaftsbereiche.

Themen und Fragen

Im dreijährigen Vorbereitungsprozess haben die Gründungsorganisationen des CHA Anliegen von Hilfsorganisationen in Deutschland gesammelt, zuletzt in der AG Humanitäre Hilfe von VENRO im Juli 2018. Die Themen und Fragen erwachsen vor allem aus der eigenen Praxis der Hilfsorganisationen. Die Bedarfsanalyse zeigt eine große Bandbreite und ist nicht abgeschlossen. Die Themen und Fragen lassen sich in fünf Kategorien strukturieren:

1. Humanitäres System

Verschiedene Fragen beziehen sich auf das humanitäre System und die damit verbundenen Aspekte der „Lokalisierung“, der humanitarian industry, dem Ruf nach Innovationen und der Kooperationen mit neuen Akteuren:

  • Wie können die zentrale Rolle der Akteure vor Ort tatsächlich gewürdigt und berücksichtigt, also wie kann „Lokalisierung“ in den Zentralen und vor Ort gelebt werden?
  • Länderbasierte Gemeinschaftsfonds (Country Based Pooled Funds – CBPF) sind ein Instrument zur „Lokalisierung“ – was kommt davon vor Ort tatsächlich an?
  • Strukturen, Mechanismen und Standards der humanitären Maschinerie werden immer ausgefeilter – wie können die Menschen um die es geht, ihre Bedürfnisse, ihre Rechte und ihre Würde wieder ins Zentrum gerückt werden?
  • Welche spezifischen Beiträge können Akteure aus Deutschland auf der Suche nach sinnvollen Innovationen in der Humanitären Hilfe leisten?
  • Zu den traditionellen Akteuren der Humanitären Hilfe kommen neue dazu – welche Pilotkooperationsprojekte mit der Privatwirtschaft sind vielversprechend?
  • Wie leistet die Diaspora Hilfe und wie sehen wirksame Kooperationen aus?

2. Normative Orientierung

Eine weitere Gruppe von Fragen bezieht sich auf die normative Orientierung der Humanitären Hilfe:

  • Wie können die humanitären Prinzipien auch in Dilemmasituationen angemessen verwirklicht werden und was ist für einen offeneren Austausch darüber notwendig?
  • Humanitäre Hilfe konzentriert sich bisher auf materielle Bedürfnisse, Spiritualität spielt kaum eine Rolle – trotz der immensen Rolle von Religion für sehr viele Menschen. Wie kann Spiritualität zu menschlicher Würde, Hoffnung und zum humanitären Schutz (protection) beitragen?
  • Wie kann die Humanitäre Hilfe trotz des globalisierten Systems die kulturellen Normen und Praktiken vor Ort stärker berücksichtigen?

3. Politischer Kontext und benachbarte Politikfelder

Die Humanitäre Hilfe beansprucht eine Sonderrolle in der internationalen Politik, von der sie weitgehend unabhängig sein soll. Der politische Kontext und die Instrumentalisierung der Humanitären Hilfe für andere politische Zwecke ist deshalb ein weiteres wichtiges Themenfeld:

Wie beeinflusst der wachsende staatliche Druck auf die Zivilgesellschaft die Humanitäre Hilfe?

Welche Rolle kann Humanitäre Hilfe bei der Stärkung der Zivilgesellschaft spielen?

Mit dem Begriff „Nexus“ wird von der Humanitären Hilfe eine engere Verzahnung mit der Entwicklungspolitik und der Sicherheits- oder Friedenspolitik gefordert. Kann der „Nexus“ etwa für frühzeitiges politisches Handeln oder für besseren Schutz sinnvoll genutzt werden – oder wird nur die Unabhängigkeit der Humanitären Hilfe noch stärker beeinträchtigt?

Wie genau beeinflusst die „Anti-TerrorPolitik“ die Humanitäre Hilfe auch aus Deutschland?

Wie genau sieht die staatliche und nichtstaatliche Finanzierung der Humanitären Hilfe in Deutschland aus?

Welche hilfreichen Erfahrungen gibt es im Umgang mit der Instrumentalisierung von Humanitärer Hilfe durch die zuständigen Regierungen wie z.Zt. im Südsudan?

Internationale Normen die auf der Menschlichkeit beruhen, etwa im Flüchtlingsschutz, sind unter wachsenden Druck geraten, u.a. werden dafür die zunehmende Ungleichheit und Abstiegsängste verantwortlich gemacht. Wie sollten humanitäre Akteure damit umgehen?

4. Gewaltkrisen und andere Hindernisse für Hilfe

In der humanitären Praxis wird vielen Menschen in großer Not der Zugang zu Humanitärer Hilfe verweigert. Obwohl die Humanitäre Hilfe zunimmt und der Sektor sich ausdifferenziert bleiben viele Menschen ohne Hilfe:

  • Wie kann Humanitäre Hilfe dort geleistet werden, wo der Bedarf und auch Schwierigkeiten und Risiken besonders hoch sind?
  • Wie können mehr Organisationen effektiv mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren umgehen?
  • Wie haben sich die Anstrengungen um „vergessene Krisen“ in den vergangenen Jahren ausgewirkt?
  • Wie können Hilfsorganisationen mit den Spannungen zwischen Lokalisierung und Risikomanagement umgehen?
  • Trotz vieler rhetorischer Zugeständnisse spielt die Katastrophenvorsorge nach wie vor eine untergeordnete politische Rolle, viele Organisationen setzen vor allem auf lokale Gemeinschaften (Community Based Disaster Risk Reduction – CBDRR). Welche Erfahrungen gibt es mit der Nachhaltigkeit von CBDRR.

5. Eigene Rolle

Schließlich hat spätestens die politische Krise in Europa über die Aufnahme von Menschen auf der Flucht dazu geführt, dass Hilfsorganisationen stärker die eigene Rolle in der deutschen und europäischen Politik diskutieren:

  • Wie können humanitäre Standards in Europa verwirklicht werden?
  • Welche Aufgabe haben humanitäre Nichtregierungsorganisationen in 20 Jahren in Deutschland?
  • Wie können Hilfsorganisationen sich stärker für gemeinsame Anliegen einsetzen und übermäßige Konkurrenz und Überkoordination vermeiden?
  • Wie können Hilfsorganisationen eine stärkere Rolle in der humanitären Diplomatie spielen?

Diese Sammlung ist ein erster Schritt, bisher sind etwa die Anliegen der Partner vor Ort kaum aufgenommen worden. Auch die gemeinsame Diskussion im deutschsprachigen Raum steht noch aus. Und in der konkreten Bearbeitung müssen die meisten Fragen geschärft werden. Für weitere wichtige Fragen etwa in der Lobbyarbeit oder ein neues humanitäres Narrativ sind sicher in erster Linie die Hilfsorganisationen selbst und ihre Verbände verantwortlich.

Das CHA wird diese Fragen nur in enger Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen und anderen humanitären Akteuren sowie wissenschaftlichen Einrichtungen wirksam bearbeiten können. Die Zusammenarbeit mit Akteuren im globalen Süden spielt dabei eine besondere Rolle und stellt zugleich eine weitere Herausforderung dar.

Literatur

Bennett, Christina 2018: Constructive deconstruction: imagining alternative humanitarian action. HPG Working Paper.
Donini, Antonio 2018: Die Zukunft der Humanitären Hilfe: Gedanken zur Unparteilichkeit. In: Quack, Martin (Hrsg.): Allein nach dem Maß der Not? Unparteilichkeit in der humanitären Hilfe.
Kent, Randolph/Bennett, Christina/Donini, Antonio/Maxwell, Daniel 2016: Planning from the future: Is the humanitarian system fit for purpose?
Krause, Monika 2014: The good project. Humanitarian relief NGOs and the fragmentation of reason.
Lieser, Jürgen/Dijkzeul, Dennis (Hrsg.) 2013: Handbuch Humanitäre Hilfe.
Quack, Martin 2018: Herausforderung Humanitäre Hilfe. Politische Bedeutung und kritische Reflexion in Deutschland. Opusculum 117.