Observatorium 23 | 31.03.2018 | Die Antwort auf die im Titel gestellte Frage ist eindeutig: Zivilgesellschaft ist nicht immer gut. Ähnlich wie in den Arenen des Staates und des Marktes tummeln sich in der Zivilgesellschaft höchst unterschiedliche Akteure. Insofern würde mit zweierlei Maß gemessen, wenn von den Akteuren der Zivilgesellschaft eine höhere moralische Qualität verlangt werden würde.
I. Einführung
Was vor 30 Jahren, als der Abschlußbericht des ersten einschlägigen, weltweit vergleichenden Forschungsprojekts erschien1, niemand ahnte, ist heute Wirklichkeit. Zivilgesellschaft, die deutsche Übersetzung von civil society, ist in Medien und Politik ein viel und selbstverständlich verwendeter Begriff geworden. Auch die Mehrheit der zahlreichen NGO, NRO, NPO, gemeinnützigen Organisationen, Vereine und Stiftungen oder wie sie sich im einzelnen auch immer bezeichnen mögen, wenden immer häufiger diesen Sammelbegriff auf sich an und entwickeln darüber ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie vordem nicht hatten. Ältere Begriffe, etwa ‚Dritter Sektor’ oder ‚gemeinnütziger Sektor’, werden obsolet; ‚Bürgergesellschaft’, noch im Abschlußbericht der Enquete Kommission ‚Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements’ mehrheitlich als synonym mit ‚Zivilgesellschaft’ bezeichnet2, ist weithin als Begriff mit anderer Bedeutung erkannt.3
In der internationalen wissenschaftlichen Literatur ist dies ganz überwiegend ebenso. Nur in Deutschland wird unverdrossen eine Auseinandersetzung über die Begrifflichkeit fortgesetzt. Diese hat zur Folge, daß sich die deutsche Diskussion bis heute permanent bei der Begriffsdefinition aufhält und andere, wichtigere Aspekte vernachlässigt, nicht zuletzt den sachkundigen, kritischen Blick auf helle und dunkle Seiten zivilgesellschaftlicher Tätigkeit. Das Fehlen einer allgemein akzeptierten Arbeitsdefinition führt auch dazu, daß die deutsche Debatte hinter der internationalen zurückbleibt, sich dort auch nur schwer einbringen kann und daß der Begriff medial und politisch unterschiedlich instrumentalisiert wird. Beispielsweise läßt sich beobachten, daß Zivilgesellschaft dann positiv konnotiert erscheint, wenn es um Protest gegen politisch wenig angesehene Regime im Iran oder der Türkei geht; dagegen scheut man sich, traditionelles bürgerschaftliches Engagement in Deutschland, etwa in Sanitätsorganisationen, Stiftungen oder Sportvereinen überhaupt unter diesem Begriff zu fassen und benennt politisches Engagement, beispielsweise in Protestgruppen, oft mit deutlich negativer Konnotation als Zivilgesellschaft. Hinzu tritt eine nicht endenwollende Debatte darüber, ob bestimmte Gruppierungen wie Parteien, Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaften zur Zivilgesellschaft gehören und nicht zuletzt die Frage, ob nicht der Begriff zwingend mit normativen, ethischen Attributen wie ‚Zivilität’ oder Toleranz’ versehen werden müsse, um auf diese Weise Kriterien bei der Hand zu haben, die zur Aufnahme in den „Club“ oder eben zu deren Ablehnung führen.
Diese Debatte ist alles andere als hilfreich! Sie ist mit Ursache dafür, daß in Deutschland der Zivilgesellschaft der politische Rang versagt wird, den sie international längst beanspruchen kann, daß ihre im 20. Jahrhundert verbreitete Marginalisierung perpetuiert wird, daß der Begriffsmanipulation Tür und Tor geöffnet bleiben und daß andere politische Kräfte, beispielsweise Parteien und Wirtschaftsverbände, den Wettbewerb in der Gestaltung politischer Inhalte weniger fürchten müssen. Solange die Frage „Wer seid Ihr eigentlich?“ nicht schnell, eindeutig und verständlich beantwortet werden kann, bleibt die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an der res publica geringer, als sie sein könnte4 . Dabei wäre die aktive Mitgestaltung durch die Zivilgesellschaft und ihre Akteure heute notwendiger denn je. Es lohnt daher, eine Klärung herbeizuführen und innerwissenschaftliche Diskussionen dazu aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Dabei ist zwingend auf internationale Anschlußfähigkeit zu achten. Für einen deutschen Sonderweg gibt es weder einen Anlaß, noch eine gute Begründung.
II. Handlungslogik oder Bereichslogik
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Deutschland dreht sich, ohne das bisher eine Einigung hätte erzielt werden können, um die Frage, ob eher formale oder eher normative Kriterien die Zugehörigkeit von Organisationen und einzelnen Akteuren zur Zivilgesellschaft bedingen. Autoren wie Dieter Rucht oder Roland Roth5 vertreten die Auffassung, die Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft sei wesentlich durch den Normencodex bestimmt, den sich einzelne Organisationen auferlegen und tatsächlich befolgen. Dazu gehören ein Bekenntnis zur Demokratie, zur Herrschaft des Rechts und zu Menschen- und Bürgerrechten, ebenso aber auch bestimmte Handlungsmaximen und Umgangsformen, die unter dem Begriff der Zivilität zusammengefaßt werden. Daran anknüpfend wird einerseits oft vorgetragen, daß Organisationen, die zwar nicht gewinnorientiert arbeiten, aber durch die Größe ihrer Betriebe gezwungen sind, in erster Linie wirtschaftlich zu denken, beispielsweise große Wohlfahrtsverbände, diese Handlungslogik gar nicht verwirklichen können und daher der Zivilgesellschaft nicht zugehören können. Andererseits könnten kleine, alternative Sozialunternehmer durchaus als Akteure der Zivilgesellschaft aufgefaßt werden. Noch pointierter wird diese Handlungslogik dann, wenn Organisationen, die die gegenwärtige Grundordnung der Gesellschaft in Frage stellen, als handlungslogisch mit Zivilgesellschaft inkompatibel dargestellt werden. Dies gilt im konkreten vor allem für rechtspopulistische Organisationen, beispielsweise Pegida, kann aber auch etwa auf eine stalinistisch geprägte Organisation angewendet werden6.
Demgegenüber stellen Vertreter einer Bereichslogik Kriterien in den Vordergrund, die mit Wertungen nichts oder wenig zu tun haben, dies allerdings durchaus in dem Verständnis, daß eine normenfreie Zuordnung prinzipiell ausgeschlossen erscheint. Zu diesen Kriterien gehören beispielsweise
Insgesamt kann man eine so definierte Zivilgesellschaft als Arena bezeichnen, in der ebenso wie in den anderen Arenen Staat und Markt kollektives Handeln stattfindet, welches zwar in sich höchst heterogen erscheint, in denen aber jeweils gemeinsame Kriterien erkennbar sind, die das Handeln von dem in den anderen Arenen idealtypisch unterscheidet. So gehört die Ausübung hoheitlicher Befugnisse zu den wesentlichen Merkmalen staatlicher Akteure, während die Erzielung von Gewinnen zu den wesentlichen Zielen der Akteure im Markt gehört.
Diesem Konzept liegt gewiß eine normative Annahme zugrunde: daß der Mensch im Mittelpunkt steht (und nicht etwa wie in faschistischen Ideologien der Staat). Dennoch ist damit noch nichts über die Handlungslogik der einzelnen Akteure ausgesagt, insbesondere nicht, ob ein bestimmter Akteur dem Beobachter sympathisch oder unsympatisch ist. Diese Betrachtungsweise hat den Vorteil, daß zwischen Zugehörigkeit und Bewertung differenziert werden kann, also zunächst alle Organisationen, die nicht dem Markt oder dem Staat zuzurechnen sind, erfaßt werden und anschließend anhand weiterer Kriterien analysiert werden können. Legt man hingegen von vornherein normative Kriterien an, entziehen sich in der Beurteilung des Beobachters normativ defizitäre Organisationen der Analyse. Bevor im folgenden darauf genauer eingegangen wird, sollen noch einige Differenzierungen angeboten werden.
III. Heterogenität und Gemeinsamkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die angebotene Unterscheidung idealtypisch zu verstehen ist. Die Realität ist gewiß komplexer. So stehen manche Organisationen im Zentrum der Zivilgesellschaft, während andere eine deutliche Nähe zum Markt oder zum Staat aufweisen. Manche bewegen sich in einer Hybridzone, und im Einzelfall mag es durchaus schwer zu entscheiden sein, ob eine bestimmte Organisation der Zivilgesellschaft oder dem Markt oder dem Staat angehört. Die internationale Debatte hat sich längst mit den sog. fuzzy edges abgefunden. Das Modell der drei Arenen taugt auch nicht als allgemeines Welt- oder Gesellschaftserklärungsmodell, sondern nur dazu, bestimmte gesellschaftliche Prozesse beschreiben, analysieren und deuten zu können.
Anhand einer von dem französischen Ökonomen François Perroux 1960 eingeführten Unterscheidung kann die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Arenen verdeutlicht werden7. Zwang (durchaus nicht negativ konnotiert) ist für ihn das Attribut des Staates, Tausch das des Marktes und Geschenk das der heute als Zivilgesellschaft bezeichneten dritten Arena. Es ist leicht nachvollziehbar, daß das zivilgesellschaftliche Prinzip der Freiwilligkeit mit dem des Geschenks (von Empathie, Ideen, Know-How, Reputation, Zeit oder materiellen Ressourcen) in einem engen Zusammenhang steht.
Andererseits sagt die Zuordnung eines einzelnen Akteurs nicht nur nichts über das Ergebnis einer normativen Analyse, sondern auch nichts über dessen Verhältnis zu Akteuren in den anderen Arenen oder zur Gesellschaft im allgemeinen. Albert Hirschman hat hierfür (in einem etwas anderen Zusammenhang) die sehr prägnante Unterscheidung in loyal, exit und voice (unterstützend, sich absondernd, und die Stimme erhebend) getroffen8. Wichtig ist, daß die Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft nicht hiervon abhängig gemacht werden kann. Dementsprechend gehört ein subsidiärer Träger von Wohlfahrtsleistungen ebenso dazu wie eine Protestgruppe.
Dieser Blick auf die Vollständigkeit wird ergänzt durch eine funktionale Unterscheidung, die zunächst von der Europäischen Kommission 1998 zur Diskussion gestellt wurde9. Die damals entwickelte Liste von vier möglichen Funktionen muß allerdings heute auf acht erweitert werden:
Daß viele Organisationen mehrere Funktionen ausüben, ist evident. So verstehen sich beispielsweise Wohlfahrtsverbände heute ausdrücklich auch als Anwälte der Sache ihrer Betreuten.
Die genannten Unterscheidungen und Kriterien erlauben mit einiger Zuverlässigkeit eine Einordnung kollektiver Organismen zu einer der drei Arenen, und zwar im wesentlichen unabhängig davon, ob dies ihrem je eigenen Selbstverständnis entspricht oder nicht. Allerdings hält die Debatte um Staatlichkeit und Terrorismus an diesem Punkt sehr komplexe Fragestellungen bereit10.
Sie erlauben ferner, in einem zweiten Schritt Kriterien normativer Art zu entwickeln, die eine Beurteilung ermöglichen. Nur so kann die in der Literatur vielfach als „dunkle Seite der Zivilgesellschaft“ beschriebene Gruppe methodologisch korrekt identifiziert werden11. Dies kann deswegen gelingen, weil „dunkle Seiten“ auch in den anderen Arenen anzutreffen sind. So ist beispielsweise ein Staat wie Nordkorea einer dunklen Seite zuzurechnen; hingegen läßt sich wohl kaum bestreiten, daß Nordkorea ein Staat ist. Ebenso läßt sich wohl relativ schnell Einigkeit darüber erzielen, daß Mafia-Organisationen die dunkle Seite des Marktes repräsentieren. Wenn also Pegida der dunklen Seite der Zivilgesellschaft zugerechnet wird, dann wird damit nicht zum Ausdruck gebracht, daß diese Organisation nicht zur Zivilgesellschaft gehört12.
Die zweistufige Herangehensweise erscheint insoweit unerläßlich. Allerdings bedarf dies einer weiteren Differenzierung, die in der Debatte oft vernachlässigt wird. Einzelne Organisationen lassen sich relativ rasch der dunklen Seite zuordnen, wenn sie in ihrer Verfaßtheit oder ihrem Gebaren fundamentalen Grundsätzen unserer Gesellschaftsordnung widersprechen. Sehr viel schwieriger ist die Beurteilung, wenn dies nicht der Fall ist, sondern wenn eine Organisation lediglich eine andere Position vertritt. So darf die lokale Bürgerinitiative, die in der Frage des Baus einer Umgehungsstraße deren Notwendigkeit betont und in der sich die Bürgerinnen und Bürger sammeln, die vom Verkehr im Ort befreit sein wollen, von denen, die dort wohnen, wo die neue Straße vorbeiführen soll, nur deshalb noch lange nicht als dunkle Seite der Zivilgesellschaft diffamiert werden. Genau dies geschieht aber in der öffentlichen Debatte sehr schnell, häufig mit dem Verweis auf Lobbyismus. Freilich ist zuzugeben, daß die Unterscheidung zwischen Themenanwaltschaft (advocacy) für eine Sache und Lobbying für eigene Interessen schon sachlich schwierig zu treffen sein kann, vom Durchschauen eines gemeinwohlverbrämten Lobbyismus ganz zu schweigen.
IV. Kriterien einer guten Zivilgesellschaft
Weil das Eintreten für Interessen, die auch persönlich bedingt sind, allein nicht als Kriterium für eine Charakterisierung als gute oder schlechte, helle oder dunkle Zivilgesellschaft taugt, ist es notwendig, andere Kriterien zu entwickeln, wenn möglich solche, die anhand von Dokumenten oder Verhaltensweisen nachprüfbar erscheinen. Ausgehend von dem bereits erläuterten Prinzip, wonach der Mensch in seiner grundsätzlichen Freiheit im Mittelpunkt steht, und dem daraus abgeleiteten Grundsatz einer umfassenden Subsidiarität werden Organisationen, die dies ablehnen, in unserer Gesellschaft konsensual der dunklen Seite zugerechnet. Faschistoide und andere totalitäre Gruppierungen zählen dazu. Diesen und ihren Mitgliedern geht häufig auch der Respekt vor anderen Positionen und Lebensentwürfen, verbunden mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu einer pluralistischen Gesellschaft ab. Selbst die gegenüber dem Respekt deutlich schwächere Toleranz anderer Meinungen und Lebensentwürfe wird von solchen Gruppierungen regelmäßig in Frage gestellt. In einem gewissen Umfang sogar justitiabel erscheinen als Kriterien ferner die bereits genannten Grundprinzipien unserer Gesellschaft,
Wer sich zu alldem nicht bekennen kann, wird kaum als gute Zivilgesellschaft Akzeptanz finden. Zu diesen fundamentalen Prinzipien treten weitere, die Gegenstand von Diskussionen sind. Hierzu zählt beispielsweise das Recht auf freie Assoziation, das Bekenntnis zu Transparenz, dem Grundsatz der offenen Gesellschaft, wonach Akteure, die für das Gemeinwohl zu arbeiten vorgeben, der Öffentlichkeit ihre Ziele, ihre Finanzierung und ihre Entscheidungswege offenzulegen haben. Ebenso läßt sich die Anerkennung aller funktionalen Ausformungen, darunter insbesondere das Recht auf politische Mitgestaltung im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit, als Prinzip einer guten Zivilgesellschaft benennen. Wer etwa glaubt, nur Dienstleister oder nur Themenanwälte gehörten zur Zivilgesellschaft, kann selbst nicht als guter zivilgesellschaftlicher Akteur gelten.
Akkreditierungen, etwa bei der UNO oder EU, bilden hingegen ebensowenig eine Grundlage für eine Ausgrenzung bestimmter Akteure wie deren steuerlicher Status. Es ist keineswegs so, daß nur steuerbegünstigte Körperschaften im Sinne der Abgabenordnung zur Zivilgesellschaft gehören; ebensowenig bedarf es einer wie immer gearteten Anerkennung durch staatliche oder sonstige Stellen. Das Prinzip der Selbstermächtigung bietet, zumal im Zusammenhang mit Selbstorganisation, schon eher ein wertendes Kriterium. Ein Indikator schließlich, der für die Zivilgesellschaft bedeutend ist, ist dennoch für die Bewertung der Zugehörigkeit einer Organisation schwierig: das bürgerschaftliche Engagement, früher meist Ehrenamt genannt. Richtig ist, daß sich dieses zu über 80% in Organisationen der Zivilgesellschaft verwirklicht und daß diese durch dieses freiwillige und im wesentlichen unentgeltliche Engagement geprägt wird. Jedoch kann umgekehrt einer Organisation, die nicht durch Engagement gekennzeichnet ist, nicht schon deshalb die Zugehörigkeit zur guten Zivilgesellschaft abgesprochen werden.
All diese Kriterien so zusammenzufassen, daß durch Abhaken auf einer Strichliste Organisationen der Zivilgesellschaft als hell oder dunkel einordnet werden können, wird der Komplexität des Gegenstandes nicht gerecht. Nicht nur haben wir es hier nicht mit einer binären, sondern einer differenzierten Zuordnung zu tun. Nicht einmal die Treue zur staatlichen Verfassungsordnung taugt letztlich als entscheidendes Merkmal einer Legitimität; diese muß sich vielmehr auch – und in manchen Fällen gegen die geltende Verfassung oder Rechtsordnung – an universellen Menschen- und Bürgerrechten messen, wie man bspw. in Ägypten oder der Türkei erkennen kann. Vor allem aber werden letztlich persönliche Urteile gefällt; für diese bilden die genannten Kriterien eine wertvolle Hilfestellung, aber keinen interpretationsfreien Raum.
V. Fazit
Die Antwort auf die im Titel gestellte Frage ist eindeutig: Zivilgesellschaft ist nicht immer gut. Ähnlich wie in den Arenen des Staates und des Marktes tummeln sich in der Zivilgesellschaft höchst unterschiedliche Akteure. Insofern würde mit zweierlei Maß gemessen, wenn von den Akteuren der Zivilgesellschaft eine höhere moralische Qualität verlangt werden würde. Auch kann es nicht angehen, daß die gesamte Arena oder alle ihre Akteure als gleichrangige Mitgestalter abgelehnt werden, weil nicht alle den moralischen Standards oder politischen Vorstellungen gerecht werden, die der Arena zugemessen wird. Oft genug ist diese Ablehnung als typisches Killer-Argument zu sehen, das vorsätzlich und wider besseres Wissen genutzt wird, um die Zivilgesellschaft auszugrenzen oder zu marginalisieren.
Durch seine Beschreibung der Demokratie in den USA, die nach seiner Beobachtung wesentlich von freiwilligen Zusammenschlüssen von der Art geprägt war und ist, die wir heute unter dem Begriff Zivilgesellschaft zusammenfassen, hat Alexis de Tocqueville 183515 eine Denkschule begründet, die Zivilgesellschaft und Demokratie als zwei Seiten der gleichen Medaille sieht. Dies mag insofern richtig sein, als sich Demokratiemodelle, die sich einer lebendigen Zivilgesellschaft verpflichtet fühlten, als beständiger erwiesen haben als solche, die das nicht taten.16 In Tocquevillescher Tradition haben dies Ernst-Wolfgang Böckenförde17 und Robert Putnam18 so ausgedeutet, daß der demokratische Staat nicht aus sich selbst heraus bestehen kann. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ 19
So sehr dies plausibel und so sehr eine aktiv mitgestaltende Zivilgesellschaft in der Krise der Demokratie vor allem geeignet erscheint, die Krise zu überwinden, so unplausibel erscheint der häufig daraus abgeleitete Umkehrschluß. Wie die Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa in den 1980er Jahren mehr als deutlich gemacht haben, kann sich eine aktive Zivilgesellschaft gerade auch unter widrigen Umständen entwickeln und zur Verwirklichung einer freiheitlichen Gesellschaft wesentlich beitragen. Beide Beispiele zeigen weisen auf die politische Funktion von Zivilgesellschaft hin; diese darf nicht dadurch beeinträchtigt oder gar desavouiert werden, daß einzelne Akteure nicht den Anforderungen an eine die freiheitliche Gesellschaft mitgestaltende Zivilgesellschaft genügen. Es ist daher demokratietheoretisch wichtig, Zivilgesellschaft nicht mit Pauschalurteilen zu belegen, sondern ihre Akteure zunächst in einen Beurteilungsrahmen zu stellen, der eine formale Zuordnung erlaubt, um anschließend anhand qualitativer Merkmale eine Beurteilung vornehmen zu können. Dieses Vorgehen kann einerseits die Kennzeichnung von Akteuren sicherstellen, die einer dunklen, d.h. negativ zu beurteilenden Seite der Zivilgesellschaft zuzuordnen sind, wobei hier gewiß graduelle Unterschiede zu konstatieren sind und nicht in jedem Fall Einigkeit in der Beurteilung herrschen wird. Andererseits sollte diese Vorgehensweise dazu führen, daß eine brauchbare, für den politischen, medialen und öffentlichen Diskurs geeignete Arbeitsdefinition angeboten wird, die nicht Gefahr läuft, permanent von mehr oder weniger unterschiedlichen Einzeldefinitionen verdrängt zu werden.
Wenn Zivilgesellschaft, so wie es international der Fall ist, als die Arena gesehen wird, in der sich die zahlreichen nicht gewinnorientierten und nicht dem hoheitlichen Bereich zuzurechnenden Organismen kollektiven Handelns bewegen, die von einem subjektiven Gemeinwohlinteresse getrieben sind, kann die Stimme „der Zivilgesellschaft“ dadurch nur stärker werden20.
1 Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier et al. (eds.), Global Civil Society – Dimensions of the Nonprofit Sector. Baltimore 1999
2 Enquete-Kommission ‚Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements’ Deutscher Bundestag, Bericht Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen 2002 (Schriftenreihe der Enquete Kommission Bd. 4), S. 59
3 Zur Theorie der Zivilgesellschaft s. ausführlich: Frank Adloff, Zivilgesellschaft – Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main 2005
4 Matthias Freise, Der Diskurs der Zivilgesellschaft: Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen. Opladen 2001
5 s. bspw.: Wolfgang van den Daele / Dieter Gosewinkel / Jürgen Kocka / Dieter Rucht (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und international. Berlin 2004 (WZB-Jahrbuch 2003)
6 s. bspw.: Adalbert Evers, Sektor und Spannungsfeld – Zur Theorie und Politik des Dritten Sektors; in: Maecenata Actuell Bd. 5 Nr. 49 2004, S.7-17
7 François Perroux, Économie et société: contrainte, échange, don. Paris 1960 (dt: Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft. Stuttgart 1961)
8 Albert O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States. Harvard University Press, Cambridge MA 1970 (dt: Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten. Tübingen 1974)
9 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission über die Förderung der Rolle der Vereine und Stifungen in Europa. Luxemburg 1997
10 s. hierzu ausführlich: Rupert Graf Strachwitz, Achtung vor dem Bürger. Ein Plädoyer für die Stärkung der Zivilgesellschaft. Freiburg/Basel/Wien 2014
11 s. hierzu u.v.a. Franziska Blomberg, The Bright & Dark Sides of Civil Society. Democratic Consolidation and Regime Hybridity in Divided Societies. Frankfurt (Oder) 2014
12 s. hierzu: Lars Geiges / Stine Marg / Franz Walter, Pegida – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld 2015. Stine Marg / Katharina Trittel / Christopher Schmitz / Julia Kopp / Franz Walter, No Pegida – Die helle Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld 2016
13 Bedauerlicherweise wird das englische rule of law auf deutsch meist mit Rechtsstaat wiedergegeben. Dies ist nicht nur eine falsche Übersetzung aus dem englischen. Es führt auch zu einer anderen Bedeutung, denn es geht bei rule of law ausdrücklich auch um ein gegen den Staat anzuwendendes Prinzip.
14 s. bspw. Satzung der Europa-Union v. 5. Mai 1949 (https://www.coe.int/de/web/con ventions/full-list/-/conventions/rms/09000016 80306051) oder Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7. Dez. 2000 (https:// www.aws.at/fileadmin/user_upload/Downloads/Sonstiges/COSME_Charta_der_Grund rechte_der_Europaeischen_Union.pdf)
15 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique. 2 Bde. Paris 1835/1840 (deutsch: Über die Demokratie in Amerika, Frankfurt am Main 1956 und öfter)
16 Ein Beispiel ist das kurzlebige französische Modell des von sog. Intermediären prinzipiell freien Bürgerstaates von 1791.
17 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976 und öfter
18 Robert Putnam, Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy. Princeton 1994. S. auch: Ders. (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh 2001
19 Böckenförde a.a.O., S. 60
20 Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft: Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung. Opladen 2001