1. Der zivilgesellschaftliche Mehrwert – Eine Einführung von Rupert Graf Strachwitz
Einleitung
Zivilgesellschaft ist zu einem Modebegriff geworden, der in politischen Äußerungen immer häufiger vorkommt. Was damit impliziert ist, bleibt vielfach unklar. Geht es um eine Handlungsoption, die sich von einer wie auch immer definierten militärischen abgrenzen soll? Um freiwillige Beiträge der Bürgerinnen und Bürger zur Erfüllung der Staatsaufgaben, weil diese aus dem Steueraufkommen und mit den Mitarbeitern der Staatsverwaltung nicht mehr zu bewältigen sind? Oder um einen vorpolitischen Raum, in dem politische Teilhabe eingeübt wird? Um eine Arena, in der transfamiliäre Interaktion von Bürgern in spezifischer Handlungslogik bestimmend ist? Um eine Form der Beteiligung an der Entscheidungsfindung zu Themen und Prozessen von allgemeinem Belang? Ist Zivilgesellschaft mit Bürgergesellschaft synonym? Ist der Begriff eine modernere Ausdrucksweise für ein Phänomen, das im 19. Jahrhundert als bürgerliche Gesellschaft beschrieben wurde? Ist sie dem Bürgertum eigentümlich? Ist sie Ausdruck von Herrschaft oder setzt sie sich gerade von dieser ab?
Diese Fragen sind heute nicht eindeutig beantwortbar. Es findet darüber in der Wissenschaft ein kontroverser Diskurs statt, der noch nicht zu eindeutigen Begrifflichkeiten geführt hat. Insbesondere ist ungeklärt, ob letztlich ein Bereichskonzept oder ein Handlungskonzept dem Begriff der Zivilgesellschaft zugrunde liegt. Dies macht es schwer, auf die These zu reagieren, ohne eine starke Zivilgesellschaft und das in ihr wirkende bürgerschaftliche Engagement seien die Herausforderungen unserer Zeit und Gesellschaft prinzipiell unlösbar. Dennoch muß versucht werden, sich der Thematik zu nähern und sich insbesondere mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich tatsächlich nichts verändern würde, wenn nicht über neue Werte, über eine in einem sehr allgemeinen Sinn neue Kultur, über eine Neudefinition von gesellschaftlichen Aufgaben Einigung erzielt wird. Ohne Sozialkapital, so die Verfechter einer Stärkung der Zivilgesellschaft, keine Verbesserung der Qualität der öffentlichen Verwaltung, ebensowenig der Marktteilnehmer in ihrer Funktion als soziale Organismen (vgl. Putnam 1994). Wenn die Mitglieder der Gesellschaft dieser im weitesten Sinn nicht permanent etwas schenken, können, so ihr Argument, die eklatant hervorgetretenen Defizite nicht behoben werden. Geschenke sind notwendig – in Zeit und Geld, aber auch Kreativität, Empathie, Gemeinsinn und Verantwortlichkeit.
An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, ein Sozialdruck zu schenken – von einer sanktionsbewehrten Pflicht ganz zu schweigen – höhle nicht nur den Begriff des Schenkens unzulässig aus, indem ihm der Freiwilligkeitscharakter genommen wird, sondern impliziere sogar ein Gesellschaftsbild mit totalitärem Anspruch, wenn sich eine hoheitliche Gewalt die Administration des Schenkens zumessen würde. Das für die Zivilgesellschaft in Anspruch genommene Attribut der Pluralität wäre in einem solchen System nicht mehr aufrechtzuhalten; anstatt der durch die Ausweisung eines eigenständigen zivilgesellschaftlichen Bereichs erstrebten größeren Offenheit der Gesellschaft entstünde deren Gegenteil. Der gesellschaftlich erwünschte Nutzen, die Freisetzung für notwendig erachteter Qualitäten wie Ideenreichtum und Ideenwettbewerb, aber auch Identifikation der Bürger mit ihrem Umfeld, Verhinderung von innerer Emigration, Integration und die Einübung einer Zivilität des Umgangs, würde nicht erarbeitet und fruchtbar gemacht werden können.
These und Einwände sind Gegenstand der aktuellen Zivilgesellschaftsdebatte (vgl. Adloff 2005 b). Zahlreiche Untersuchungen gehen der Frage nach, was die Bürgerinnen und Bürger zu Schenkenden macht. (Vgl. Freiwilligensurvey 2004; s. hierzu auch Sprengel und Strachwitz 2008). Allerdings bleiben diese nicht auf die Analyse der Ergebnisse empirischer Sozialforschung beschränkt, sondern können durchaus auf ordnungstheoretische Konzepte verweisen, die in unterschiedlicher Weise die Zweiteilung in Staat1 und Markt oder Staat und bürgerliche Gesellschaft für defizitär erachtet, die Vorstellung von einem alles überwölbenden Staat zurückgewiesen oder eine Dreiteilung reklamiert haben. So ist Karl Poppers offene Gesellschaft ausdrücklich dem Hegelschen Modell entgegengesetzt. Auch der Strukturwandel der Öffentlichkeit bei Habermas oder die Weltgesellschaft bei Luhmann sind Konzepte, die ein hierarchisches Gesellschaftsmodell nicht akzeptieren. „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur noch ein einziges Gesellschaftssystem.“ (Luhmann 2008, S. 212) Die Globalisierung der Lebensbedingungen und Kommunikation hat, wenn nichts anderes, die Abgrenzung von Regionen obsolet werden und überdies regionale Bezüge entstehen lassen, die eben nicht mit administrativen Regionaleinheiten kongruent sind.
Es geht im folgenden um eine im weitesten Sinn politische Dimension von Zivilgesellschaft – politisch hier ausdrücklich nicht als das Geschäft der Politiker, sondern als die Verfaßtheit von Gesellschaften verstanden. So betrachtet ist die Zeit, in der diese Zivilgesellschaft als nette Marginalie behandelt werden konnte, vorbei. Soll, wie es dem Wesen einer demokratischen und pluralen Ordnung entspricht, der Mensch und Bürger in seiner Freiheit in den Mittelpunkt gestellt werden, kommt dieser Zivilgesellschaft eine grundlegende Bedeutung zu. Die Reformen der letzten Jahre greifen in diesem Sinne zu kurz und tragen zur Lösung des Problems letztlich fast nichts bei. Sie sind populistisch oder fiskalisch bestimmt und blicken aus der Sicht der hoheitlichen Gewalt auf die Gesellschaft und nicht aus der Sicht des Menschen und Bürgers. Es ist daher eindringlich daran zu erinnern, daß nach unserem Gesellschaftsverständnis tatsächlich der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht etwa die Gemeinschaft. „Am 30. Januar ist endgültig die Zeit des Individualismus gestorben. Die neue Zeit nennt sich nicht umsonst Völkisches Zeitalter. Das Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes“, so hatte im März 1933 Joseph Goebbels formuliert. Daß dieses Konzept überwunden ist, muß sich nicht nur in programmatischen Erklärungen und sonntäglichen Reden, sondern täglich neu im Alltagsleben erweisen. Dies gilt in besonderem Maße für den Kontext Raum und Zivilgesellschaft, der in der bisherigen Zivilgesellschaftsdebatte zu wenig entwickelt worden zu sein scheint.
1 Mit Staat sind hier und im folgenden alle Ebenen der Verfaßtheit in öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften, d.h. Gemeinde, Land, Bund und Europäische Union gemeint.