19.04.2024 I Wiederveröffentlichung eines Aufsatzes von Rupert Graf Strachwitz
In seinem 1963 erstmals erschienen Handbuch des Stiftungsrechts[1] beschreibt Hans Liermann im Zusammenhang des Kapitels ,Das Zeitalter der Aufklärung und der Säkularisation‘ Immanuel Kants Definition einer Stiftung, „nicht als eine auf die Dauer, sondern als eine bis zum ,Aussterben‘ (der Begünstigten) errichtete wohltätige Anstalt“[2], um ihn dann wie folgt zu zitieren: „Stiftungen, … sobald sie einen gewissen, von dem Stifter nach seiner Idee bestimmten entworfenen Zuschnitt haben, können nicht auf ewige Zeiten fundiert und der Boden damit belästigt werden; sodann der Staat muß die Freiheit haben, sie nach dem Bedürfnisse der Zeit einzurichten.“[3] Die – völlig korrekte –Quellenangabe dazu lautet: „Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 4. Aufl., hrsg. von Karl Vorländer, Philosophische Bibliothek, Bd. 42, Leipzig 1922, S. 200, Anhang erläuternder Bemerkungen zur Rechtslehre ,Von den Rechten des Staats in Ansehung ewiger Stiftungen für seine Untertanen‘ …“
Von Liermann haben seitdem viele Autoren das Zitat übernommen, um, ihm darin folgend, die für die Zeit Kants typische, stiftungskritische öffentliche Meinung eindrucksvoll zu belegen, die deutsche Stiftungsgeschichte aber zugleich von der französischen abzugrenzen, wo dieses Rechtsinstitut im Verlauf der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts vollständig beseitigt wurde[4]. Dies ist nicht zu kritisieren. Doch verführt der relativ umständliche Quellenverweis dazu, zu fragen, wie denn das berühmte Zitat tatsächlich in Kants Metaphysik der Sitten oder gar in sein Rechtsdenken insgesamt einzuordnen ist. Dabei interessiert im Zusammenhang von Untersuchungen des Stiftungswesens insbesondere die Frage, ob sich Kant tatsächlich, wie die ohne Zweifel ganz erhebliche Bedeutung seiner Interpretation für die nachfolgende Entwicklung des Stiftungswesens nahelegt[5], den Stiftungen als eigenem Gegenstand seiner Untersuchung genähert hat oder ob diese nicht eher beiläufig, ja fast zufällig in den Zusammenhang seiner Betrachtung gelangt sein könnten.
Die ,Metaphysik der Sitten‘, eines von Kants Hauptwerken, erschien erstmals 1797 und umfaßte zwei Teile: ,Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre‘ und ,Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre‘.[6] In dieser Erstauflage findet sich in ,Der Rechtslehre zweiter Teil – Das öffentliche Recht – Erster Abschnitt: Das Staatsrecht‘ ein einziger Verweis auf Stiftungen: ,,Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d.i. als Übernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Armenwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst milde, oder fromme Stiftungen genannt. „[7] Nicht nur dem heutigen Leser gibt dieser Satz Rätsel auf; auch ein zeitgenössischer, anonym gebliebener Rezensent[8] hat wohl daran Anstoß genommen, denn Kant fühlte sich bemüßigt, der zweiten, „mit einem Anhange erläuternder Bemerkungen und Zusätze vermehrte(n) Auflage“ 1798 unter Ziff. 8 relativ lange, eben jene von Liermann auszugsweise zitierten Ausführungen hinzuzufügen.[9] Hierzu wurde nicht der Text verändert; vielmehr wurden die ,Erläuternden Bemerkungen‘ tatsächlich gesondert aufgenommen und dem zweiten Teil ‚Das öffentliche Recht‘ vorangestellt, finden sich also in der 2. Auflage von 1798 vor der aus der 1 . Auflage unverändert übernommenen kurzen Erwähnung.[10]
Diese recht unsystematische und kursorische Abhandlung kann als Anhaltspunkt dafür dienen, daß Kant dem Gegenstand der Stiftungen eine eher marginale Bedeutung zugemessen hat. Denn schon beim ersten Blick auf seine Aussagen wird deutlich, daß Kant sich eine genauere Prüfung der Frage, um was es sich dabei eigentlich handle, versagt, und vielmehr relativ willkürlich einen von mehreren Stiftungstypen herausgegriffen hat, um ihn für ein ganz anders gelagertes Argument zu gebrauchen. Dies wird noch deutlicher, wenn man den der kurzen Erwähnung in der 1. Auflage vorausgehenden Text liest, aus dem auch der zunächst schwer verständliche Begriff des ‚Oberbefehlshabers‘ deutlich wird.
Kant hat hier seine Vorstellung von einem Herrschaftssystem ausführlich entwickelt, ein System, das weniger vom Ursprung und Wesen gerechter Herrschaft, sondern eher von dem Leitgedanken einer einheitlichen Herrschaft geprägt ist. „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, … ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens sofort wieder aufzunehmen …“[11] In diesem Zusammenhang definiert Kant drei Gewalten, die einander bedingen, um dann klarzustellen: ,,Von diesen Gewalten, in ihrer Würde betrachtet, wird es heißen: der Wille des Gesetzgebers (Iegislatoris) … ist untadelig (irreprehensibel), das Ausführungsvermögen des Oberbefehlshabers (summi rectoris) unwiderstehlich (irresistibel) und der Rechtsspruch des obersten Richters (supremi iudicis) unabänderlich (inappellabel).“[12]
An diese Festlegungen schließen sich ausführliche Bemerkungen darüber an, daß gegen die Staatsgewalt, so sie einmal konstituiert ist, kein Widerstand zulässig ist, und zwar selbst dann nicht, wenn sie sich als tyrannisch erweist – Ausführungen, die in anderem Zusammenhang fraglos überaus folgenreich erscheinen, hier jedenfalls als Hinweis für die in ihrer Bedeutung wohl noch unterschätzte Rezeptionsgeschichte des Kantschen Systems dienen können. Für das hier zu erörtende Thema ist dagegen eine andere Konsequenz entscheidend. „Da der Boden die oberste Bedingung ist, unter der allein es möglich ist, äußere Sachen als das Seine zu haben, … so wird von dem Souverän als Landesherren … alles solche Recht abgeleitet werden müssen.“[13] „Er besitzt alles; weil er das Befehlshaberrecht über das Volk hat (jedem das Seine zu Teil kommen zu lassen), dem alle äußere Sachen … zugehören. Hieraus folgt: daß es auch keine Korporation im Staat, keinen Stand und Orden, geben könne, der als Eigentümer den Boden zur alleinigen Benutzung den folgenden Generationen (ins Unendliche) nach gewissen Statuten überliefern könne. Der Staat kann sie zu aller Zeit aufheben.“[14]
Jetzt wird deutlich, was Kant mit seiner geradezu schnoddrigen Bemerkung über die Stiftungen im Urtext[15] meint. Er bezieht sich auf die tatsächlich in größerer Zahl vorhandenen selbständigen, überwiegend kirchlich geprägten Anstaltsstiftungen, die oft über bedeutenden Grundbesitz verfügen und die in der Tat anderen Einrichtungen vergleichbar sind. Sie alle widersprechen seiner Idee von unbeschränkter Herrschaft, die sich in allererster Linie in der Verfügungsgewalt über den Grund und Boden manifestiert. Daß er damit nur einen kleinen Teil der Stiftungen überhaupt erfaßt, ist ihm an dieser Stelle nicht wichtig. Ihm geht es um Beispiele dafür, wo ältere – polyarchische – Traditionen der Verwirklichung seines im Wortsinn strikt monarchischen Herrschaftssystems im Wege stehen könnten. Dabei ist die Frage, ob dieses System von einem Monarchen im traditionellen Sinn geführt wird, von untergeordneter Bedeutung. Daß dieses im alten Reich ein reales Problem war, steht außer Frage. Beispielsweise waren in den sog. Habsburgischen Erblanden zu dieser Zeit 3/8 des Bodens im weiteren Sinne kirchliches Eigentum, worunter auch, aber keineswegs nur die kirchlich geprägten Stiftungen zu verstehen sind.[16] ln protestantischen Ländern wie Preußen war dies freilich auf Grund früherer Säkularisationen bei weitem nicht so ausgeprägt.
Der zeitgenössische Rezensent war, wie wir gesehen haben, damit, was die Stiftungen betrifft, offenbar nicht zufrieden und hat so Kant veranlaßt, ausführlicher darauf einzugehen, nicht aber, seinen Standpunkt zu verändern oder sich mit dem Stiftungswesen intensiver zu beschäftigen, dabei etwa die Tradition der von Städten, Kirchen oder Universitäten verwalteten sog. Handgeld-, d.h. Förderstiftungen in den Blick zu nehmen, neue Entwicklungen wie die selbständige Senckenbergische Stiftung in Frankfurt am Main zu untersuchen oder auch die Behandlung der Stiftungen im einige Jahre zuvor in Kraft getretenen Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten zu prüfen. Selbst die seit 1791 geltende republikanische französische Verfassung, die den Stiftungen und Vereinen als unerwünschten Intermediären den Garaus gemacht hatte, findet offenkundig keine Beachtung[17]. Sein Bild der Stiftung als autonome, mit Grundbesitz ausgestattete, vermögende Anstalt bestimmt auch in den ausführlichen ‚Erläuternden Bemerkungen‘ seine Position. Die Stiftung bleibt ihm fremd: „… der, welcher gutmütiger- aber doch zugleich etwas ehrbegieriger Weise eine Stiftung macht, will, daß sie nicht ein anderer nach seinen Begriffen umändere, sondern Er (sic) darin unsterblich sei. Das ändert aber nicht die Beschaffenheit der Sache selbst und das Recht des Staats, ja die Pflicht desselben zum Umändern einer jeden Stiftung, wenn sie der Erhaltung und dem Fortschreiben desselben zum Besseren entgegen ist, kann daher niemals als auf ewig begründet betrachtet werden.“[18] Es ist wohl nicht ganz zufällig, daß in diesem Satz ein sinnentstellender Fehler enthalten ist, den die (spätere) Akademieausgabe durch Einfügung der Worte „und eine solche“ vor „kann“ zu heilen erwägt.[19]
Das einschlägige Kapitel der Bemerkungen eröffnet Kant mit einem Definitionsversuch: „Stiftung (sanctio testamentaria beneficii perpetua) ist die freiwillige, durch den Staat bestätigte, für gewisse aufeinander folgende Glieder desselben bis zu ihrem gänzlichen Aussterben errichtete wohltätige Anstalt.“[20] In zweifacher Weise kommt hier Kants Vorverständnis zum Ausdruck: Zum einen bindet er die Existenz einer Stiftung an eine staatliche Bestätigung, ein Grundsatz, der sich erst Generationen später, und auch dann nur in allerdings wesentlichen Teilen durchsetzen wird, zum anderen bindet er sie, was ihre Zeitlichkeit betrifft, nicht etwa an die konkrete Not oder das Anliegen, sondern an die Zeit bis zum Aussterben der Glieder dieses Staates, d.h. an das Bestehen des „ursprünglichen Kontrakt(s)“[21]. Solche Stiftungen sind für Kant „die Hospitäler, … die Kirchen, … die Orden, … die Majorate“[22], die in der Tat nach allgemeinem Verständnis alle auf Stiftungsakte zurückzuführen sind. Aber nach wie vor dienen ihm die so, und wie die Einlassungen des Rezensenten[23] zeigen, nicht unwidersprochen definierten Stiftungen in erster Linie dazu, beispielhaft die Herrschaft der Obrigkeit über alles, was sich im Staate bewegt, darzustellen. „Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einem souveränen (alle durch Ein (sic) Gesetz vereinigenden) Willen, ist Tat, die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so zuerst ein öffentliches Recht begründet. – Gegen diese Machtvollkommenheit noch einen Widerstand zu erlauben (der jene oberste Gewalt einschränkete (sic)), heißt sich selbst widersprechen …“[24]
Uns scheint, diese Art des Verhältnisses zwischen Staat und Stiftung hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts trotz der kursorischen Erwähnung als maßgeblich durchgesetzt und ist es im 20. geblieben. Sie spiegelt den von Kant überaus deutlich postulierten Interventionsstaat wider. Die Stiftung in der Behandlung, die ihr hier widerfährt, wird als Paradigma für eine spezifisch deutsche Form des korporatistischen Etatismus in seinen Wurzeln erkennbar.
Wiederveröffentlichung eines Aufsatzes von Rupert Graf Strachwitz, als Erstveröffentlichung erschienen in der ZSt – Zeitschrift zum Stiftungswesen (jetzt Zeitschrift für Stiftungs- und Vereinswesen (ZStV)), Heft 3 (2007): Berliner Wissenschaftsverlag.
[1] Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, I. Band, Geschichte des Stiftungsrechts, Tübingen 1963, Nachdruck Tübingen 2002
[2] loc. cit., S. 174
[3] ibid.
[4] S. z. B. Andreas Richter, Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation, Überlegungen zur Reform des deutschen Stiftungsrechts auf der Grundlage einer historischrechtsvergleichenden Untersuchung der Entstehung des modernen deutschen und amerikanischen Stiftungsmodells, Berlin 2001, S. 215 f.
[5] Vgl. u. a. Richter, loc. cit., S. 216
[6] Alle Quellenangaben beziehen sich im folgenden auf: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Band IV, Wiesbaden 1956, S. 303-634
[7] loc. cit. S. 446
[8] „Die Veranlassung zu denselben (erläuternden Bemerkungen) nehme ich größtenteils von der Rezension dieses Buchs in den Götting. Anz. 28stes Stück, den 18ten Februar 1797“, loc. cit. S. 480
[9] In der Originalausgabe der 2. Auflage (1798) S. 178-187, zitiert nach der Werksausgabe (1956) S. 492-499
[10] ‚Anhang Erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, 8. Von den Rechten des Staats in Ansehung ewiger Stiftungen für seine Untertanen‘, in der Originalausgabe der 2. Auflage (1798) S. 178-184, loc. cit. S. 492-496
[11] loc. cit. S. 434
[12] loc. cit. S. 435
[13] loc. cit. S. 443
[14] loc. cit. S. 444
[15] loc. cit. S. 446
[16] Liermann, loc. cit. S. 172
[17] Ausweislich seiner Ausführungen zu Stellung und Natur des ‚Oberbefehlshabers‘ hat sich Kant im unmittelbaren Zusammenhang des hier behandelten Abschnitts sehr wohl mit den Entwicklungen in Frankreich auseinandergesetzt. Jedoch ist ihm nicht die Verhinderung von Intermediären, sondern deren Kontrolle das zentrale Anliegen; s. loc. cit. S. 440 ff., insb. die Anmerkung (von Kants Hand)
[18] loc. cit. S. 495
[19] ibid., Anm. 2
[20] loc. cit. S. 492
[21] loc. cit. S. 434
[22] loc. cit. S. 492
[23] vgl. hierzu die ausgesprochen giftigen Bemerkungen gegen den Rezensenten im mit ‚Beschluss‘ überschriebenen letzten Abschnitt der Bemerkungen, S. 496 f.
[24] loc. cit. S. 498
Quelle Beitragsbild: https://www.worldhistory.org/image/18360/immanuel-kant-1768/
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