26.02.2024 I Rupert Graf Strachwitz rezensiert Freiheit oder Zwang – Wer kann Nachhaltigkeit besser – offene Gesellschaften oder Autokratien?
Stefan Brunnhuber: Freiheit oder Zwang – Wer kann Nachhaltigkeit besser – offene Gesellschaften oder Autokratien? München: Oekom 2023
Quelle: oekom Verlag
Im Oktober 2000 veröffentlichte Stefan Brunnhuber, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychotherapie der Universität Würzburg, in Maecenata Actuell, dem (damaligen) Journal des Maecenata Instituts, einen Aufsatz mit dem Titel „Zur Psychologie und Psychopathologie des Altruismus“[1]. Es war der Beginn einer mehrjährigen Zusammenarbeit, die in der Beteiligung des damaligen Kollegen Rainer Sprengel an einem Projekt mit dem Arbeitstitel ‚Beyond Meadows‘ gipfelte, dessen Ergebnisse 2003 unter dem Titel „Wie wir wirtschaften werden“ publiziert wurden[2]. Das Projekt knüpfte an den Bericht an den Club of Rome an, der 1972 unter dem Titel The Limits to Growth von Donella Meadows und anderen veröffentlicht worden war. Dieser Bericht hatte „drei wesentliche Bereiche unberücksichtigt gelassen […]: die Geopolitik, die Technologie-Entwicklung und die Geld- und Finanzwirtschaft“[3]. In diesem Zusammenhang ging es auch um Bürgerbeteiligung, vor allem aber um die Beurteilung von Szenarien einer Wirtschaftsentwicklung. Das nachhaltige Wachstum wurde besonders hoch bewertet, nicht zuletzt deshalb, weil „ein hoher Organisationsgrad in der Zivilgesellschaft […] gleichzeitig [ermöglicht], dass lokale und regionale Besonderheiten erhalten bleiben.“[4]
Für Stefan Brunnhuber (geboren 1962), den seit Jahrzehnten interdisziplinär studierenden und arbeitenden Forscher und Praktiker, ist die offene Gesellschaft mit all seinen gesellschaftlichen Konsequenzen also kein Neuland. Er hat über Karl Popper promoviert, ist Mitglied des Club of Rome – und Ärztlicher Direktor der Diakonie-Kliniken Zschadraß in Sachsen, eines Fachkrankenhauses für Psychiatrie und Psychotherapie. Wenn er nun ein Buch vorlegt, in dem er die Frage stellt, ob offene Gesellschaften oder Autokratien besser geeignet sind, die Herausforderung der Nachhaltigkeit anzunehmen und zu bewältigen, so läßt dies aus mehreren Gründen aufhorchen. Zum einen spricht hier weder jemand aus dem Elfenbeinturm der Sozialwissenschaften, noch ein Trittbrettfahrer eines Modethemas, sondern ein ausgewiesener und erfahrener teilnehmender Beobachter. Zum anderen aber gründen seine Argumente auf der täglichen Erfahrung eines Menschen, der sich mit den Vor- und Nachteilen einer offenen Gesellschaft herumschlagen muß und vielleicht geneigt sein könnte, einer straffen Führung und der Priorisierung des Funktionierens den Vorzug vor einer Kultur der Partizipation, aber auch der ständigen Falsifizierung zu geben.
Im ersten Teil seines gerade einmal 150 Seiten umfassenden Textes (+ Anhang) bietet Brunnhuber zunächst eine Analyse des Ist-Zustandes. Daß er auf das Ende des „Endes der Geschichte“, auf die Covid-Pandemie, auf den, wie er es benennt, „Wechsel des gesellschaftlichen Aggregatzustandes“ abhebt, ist nicht erstaunlich und bietet zunächst noch keinen gänzlich neuen Blick. Allerdings macht er strenger als andere auf ein fundamentales Novum aufmerksam: „In Bezug auf die ökologischen Fragen des 21. Jahrhunderts gibt es […] nichts auszuhandeln.“ (S. 25) Das heißt, das Thema, ob die erprobten Mechanismen einer offenen Gesellschaft sich für die Bewältigung dieser Fragen eignen, ist ein fundamental neues. Optimistisch erkennt der Verfasser in Anknüpfung an die griechische Mythologie den Kairos, den richtigen Augenblick. „Wir sitzen jetzt im Fahrerhaus. Wir erleben einen solchen Kairos-Moment, und das überall auf der Welt.“ (S. 30) Tun wir das wirklich? Darum geht es im folgenden.
Brunnhuber arbeitet erst einmal gängige Fehleinschätzungen und vor allem fehlerhafte Selbsteinschätzungen ab. „Es ist nicht davon auszugehen“, sagt er beispielsweise, „daß Behörden, Gebietskörperschaften, Parteien oder Religionsgemeinschaften automatisch einen höheren, exklusiveren oder privilegierteren Informations- und Wissensstand […] haben.“ (S. 40 f.) Eigentlich eine Binsenweisheit, aber doch wenigen in den verschiedenen bubbles bewußt. Er kommt auf die Instabilität und Komplexität der modernen Gesellschaft zu sprechen; all das ist gut argumentiert und leuchtet ein, aber bietet noch keine unbedingt neuen Erkenntnisse. Zu Recht weist Brunnhuber darauf hin, daß Gesellschaftssysteme Zyklen haben und macht auf die Gefährdung der Demokratie aufmerksam, „wenn es nicht gelingt, durch das schmale Fenster einer repräsentativen Demokratie den Ausweg in eine offene Gesellschaft zu finden“. (S. 48) Man kann nur hoffen, daß die Politiker mehrerer Parteien, die am Anfang des Buchs mit lobenden Worten zu diesem zitiert werden, diesen Passus tatsächlich gelesen haben. Denn es geht tatsächlich um eine hoffentlich erfolgreiche Suche, nicht um die Feststellung, die bestehende repräsentative Demokratie sei schon die Lösung. An dieser Stelle wird es interessant. Brunnhuber macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen resilienten und robusten Gesellschaften und stellt die These auf, robuste Gesellschaften seien fragiler, weil sie in ihrer gegebenen Form verharren. Fühlen wir uns da nicht an häufige Bekenntnisse zu einer robusten Demokratie erinnert?
Im folgenden Kapitel (3) werden die beiden „Kontrahenten im Systemkonflikt“ (S. 50) beschrieben. Es verwundert nicht, daß dies in Popperschen Kategorien geschieht. Zu Recht, aber doch etwas schnell wird die moderne Autokratie als eine „große alternative Utopie von einer anderen Welt und einem anderen Menschen“ und zugleich als eine „Illusion der Kontrolle und Stabilität“ (S. 54) abgetan, in der die erwähnte Feleinschätzung dominiert. Festgemacht wird dies freilich zur Freude und Genugtuung des Rezensenten an der Unterdrückung zivilgesellschaftlichen Engagements bzw. an deren Reduzierung auf „den Rumpf informeller nicht öffentlicher Nachbarschaftshilfe“. Hier fragt man sich, ob die erwähnten Laudatoren das tatsächlich gelesen haben, denn gerade sie vertreten, obwohl gewiß gute Demokraten, genau diese Position. Brunnhuber sagt es ganz deutlich: „Offene Gesellschaften leben […] von der Überzeugung, daß es neben dem ersten Sektor (Politik) dem zweiten Sektor (Wirtschaft) unabdingbar einen Dritten Sektor (Zivilgesellschaft) geben muß.“ (S. 55) Die Formulierung unterscheidet sich kaum von der, die er schon vor 20 Jahren gebraucht hatte: „Jenseits von Staat und Markt gibt es einen dritten Bereich gesellschaftlicher Selbstorganisation, in dem sich Bürger für die Belange des Gemeinwesens einsetzen […]. Wir wählen in unserer Darstellung den Begriff der zivilgesellschaftlichen Organisationen…“.[5] 2023 fügt er an: „Zivilgesellschaftliches Engagement ist der Maschinenraum, ohne ihn funktionieren weder Wirtschaft noch Politik. […] Aber zivilgesellschaftliches Engagement kann man nicht verordnen, es entsteht spontan, es entsteht aus freien Stücken – oder eben auch nicht. Am wichtigsten jedoch: Zivilgesellschaftliches Engagement kann man nicht wirklich kontrollieren.“ (S. 55) Andererseits: „Engagierte Menschen in einer Zivilgesellschaft sind häufig mutige Menschen.“ (S. 140)
Es muß sehr nachdenklich stimmen, daß es nach 20 Jahren notwendig erscheint, dies so deutlich herauszustellen, zumal zahlreiche andere Autoren ähnliches vorgetragen haben. Es scheint, als habe sich zu wenig bewegt, als würden tatsächlich autokratische Verhältnisse, geschlossene Verhältnisse die Oberhand gewinnen, als führe die Tatsache, daß „offene Gesellschaften nach außen fragil, träge und unbeholfen wirken“ (S. 56), zu ihrem Untergang. Weltweit erhobene Zahlen scheinen dies zu bestätigen.[6] Brunnhuber argumentiert aber genau umgekehrt: „Autokratien sind unterkomplex, nicht hinreichend antifragil und nicht wirklich anpassungsfähig. [… Sie] sind […] selbstlimitierend und parasitär.“
Das 4. Kapitel des Buchs ist notwendigerweise der Frage gewidmet, wie all dies denen verständlich gemacht werden kann, die immer noch glauben, mehr Autokratie sei gut, um beispielsweise Nachhaltigkeit durchzusetzen oder die nicht wahrhaben wollen, daß unsere angeblich offene Gesellschaft deutliche autokratische Züge trägt. Dazu greift der Autor ausführlich auf C.P.Snow zurück und entwickelt eine neue, auf der Digitalisierung aufbauende Disziplin, eine Dritte Kultur. In dieser erscheint Kritik (im Ursinn) als Kraft der Unterscheidung als „grundlegende Voraussetzung für Freiheit, Wohlstand und Wohlbefinden“. (S. 86). Ein 5. Kapitel widmet sich im besonderen der Freiheit.
Erst im 3. Teil des Buches (6. Kapitel) kommt Brunnhuber auf seine Titelfrage zu sprechen: Wer kann Nachhaltigkeit besser – offene Gesellschaften oder Autokratien? Seine Antwort überrascht nicht, eher schon, daß er sich ihr mit einer Vielzahl von Argumenten nähert, die versuchen, so viele Diskurse wie möglich einzubeziehen. Das ist eine Stärke des eher schmalen Bandes, aber zugleich eine Schwäche, denn die Fülle verwirrt auch, zumal sie letztlich ein Plädoyer für die offene Gesellschaft beinhaltet, die ausführlich beschrieben und mit Merkmalen charakterisiert wird. Dieses ist sympathisch und durchaus überzeugend (und dem Rezensenten aus der Seele gesprochen). Die unvoreingenommene analytische Gegenüberstellung bleibt ein wenig auf der Strecke. Der Autor macht seine Position an einem „Sixpack“ (S. 110) fest, das er als Sechserpack und als Kraftpaket definiert sehen will. Ein zentrales Element bildet dabei eine ‚Konsultative‘, die beispielsweise in der Form von Bürgerräten ausgebildet sein, aber, anders als von Brunnhuber tituliert (S. 115), gerade nicht eine vierte Gewalt darstellen kann. Hier erscheint ein Einwand zwingend. Ein wesentlicher Aspekt jedes Versuchs, die Gemeinschaft der Menschen zu ordnen, wird nicht diskutiert: die Ausübung von Macht, auch verbunden mit der Frage, ob nicht die Lust daran das Handeln stärker bestimmt als alle Einsicht in eine gute Ordnung. Muß sich nicht die offene Gesellschaft dieser Frage pragmatisch und ehrlich stellen?
Ein zweiter Einwand schließt sich an: Beschreibt die Dichotomie, die Brunnhuber ausführlich darlegt (hie offene Gesellschaft – da Autokratie), die Welt, wie sie wirklich ist? Müssen wir nicht selbstkritisch fragen, ob unsere angeblich offene Gesellschaft nicht zu viele autokratische Elemente enthält? Wieviele solche Elemente sind tolerierbar? Sind einige am Ende sogar notwendig, andere dagegen verzichtbar oder Krebsgeschwüre, die eine Gesellschaft auffressen?
Trotz dieser Einwände bleibt der Band höchst lesenswert – ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte über Nachhaltigkeit ebenso wie über gesellschaftliche Ordnung, die geführt werden muß, vor allem dort, wo heute eine Wagenburgmentalität jede vernünftige offene Debatte verhindert. Er reiht sich ein in eine rasch zunehmende Zahl wichtiger Überlegungen, wie wir „das schmale Fenster“ (S. 48) finden, das uns den Weg in die offene Gesellschaft eröffnet – wohlgemerkt in diese, wir haben sie mitnichten schon erreicht.
Dr. phil Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung.
[1] Stefan Brunnhuber: Zur Psychologie und Psychopathologie des Altruismus. In: Maecenata Actuell Nr. 24/2000, S. 15-17
[2] Stefan Brunnhuber / Harald Klimenta: Wie wir wirtschaften werden. Frankfurt am Main / Wien: Überreuter 2003
[3] Martin Vogelsang: Zukunft des Wirtschaftens. (Rezension zu Stefan Brunnhuber/Harald Klimenta: Wie wir wirtschaften werden). In: Maecenata Actuell Nr. 44/2004, S. 63
[4] a.a.O., 64
[5] a.a.O., S. 68
[6] s. bspw. https://freedomhouse.org/report/freedom-world