Observatorium 73 I 09.01.2024 I Finn Büttner
Über den seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland herrschenden destruktiven Diskurs und wie wir ihm entgegenwirken können
von Finn Büttner
Ein Autofahrer hört im Radio: “Ein Falschfahrer auf der A…!” Darauf der Fahrer: “Was? Einer? Hunderte!” Schaut man auf die hiesige Debatte über die erneuten Eskalationen in Gaza/Israel/der Westbank/dem Libanon und deren Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft, wird man das Gefühl nicht los, dass sich ein einflussreicher Teil der Diskursteilnehmenden argumentativ in diesem einen Auto befindet. Die politische Klasse hält unverbrüchlich Kurs – in Wechselwirkung mit auflagenstarken Medienhäusern und Teilen der Öffentlichkeit, ungeachtet triftiger Argumente, welche die Risiken dieser Fahrt aufzeigen.
Der eingeschlagene Kurs ist eine tendenziöse und undifferenzierte Bewertung der gewalttätigen Eskalationen am Ostufer des Mittelmeers sowie der gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Zuspitzung in Europa. Die Tendenz zeigt sich in einem vorherrschenden Generalverdacht[1] gegen arabische und muslimische Teile unserer Gesellschaft, für judenfeindliche Übergriffe in Deutschland hauptverantwortlich zu sein. Hierfür sind der sogenannte „importierte Antisemitismus[2] und die Provokation Jan Fleischhauers im Magazin Focus: „Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen“[3] nur die Spitzen des diskursiven Eisbergs.
Die entstandenen Fronten stehen sich stumm gegenüber. Neben einem alarmierenden und inakzeptablen Anstieg antisemitischer Haltungen und Angriffe in Deutschland, zeichnet sich ebenso ein Anstieg muslimfeindlicher Ressentiments und Attacken ab. An Türen geschmierte Davidsterne[4], mit Fäkalien versehene Drohbriefe[5] und Schändungen muslimischer Gräber[6] sind beschämende Belege für diese Entwicklung, in der sich zwei Teile unserer Gesellschaft zunehmend ausgegrenzt und in Gefahr sehen. Dies ist nicht hinnehmbar.
Dass sich jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger keineswegs sicherer fühlen, wenn sich ihre muslimischen (und als solche gelesenen) Mitbürgerinnen und Mitbürger mit einer größeren Abneigung, ja Feindschaft konfrontiert sehen, sollte einleuchten. Von jüdischer Seite wird eher auf eine erstarkende Rechte in Bundestag und Landtagen sowie auf alltäglichen und strukturellen Rassismus verwiesen, der insbesondere von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgeht.[7] Dass antisemitische Einstellungen weit in die deutsche Gesellschaft reichen, zeigen zahlreiche Studien.[8] Judenfeindlichkeit wird nicht dadurch bekämpft, dass zwischen der Empathie für die Bürgerinnen und Bürger Israels und für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland einerseits und der Kritik an Maßnahmen der gegenwärtigen Regierung Israels nicht oder kaum differenziert wird. In Israel selbst ist das Ansehen von Ministerpräsident Netanjahu und seiner Regierung auf einem Tiefststand. Warum soll es in Deutschland anrüchig oder gar untersagt sein, sich dieser Einschätzung anzuschließen?
Die feindliche Stimmung in Deutschland, durch politische Statements und einschlägige Nachrichtenbeiträge bestärkt, greift andererseits Menschen an, die sich Palästina durch persönliche, familiäre, oder religiöse Bande verbunden fühlen. Oft sind dies Menschen muslimischen Glaubens und/oder arabischer Herkunft. So berichten Menschen dieses gesellschaftlichen Spektrums von einer in der deutschen Öffentlichkeit vorherrschenden Empathielosigkeit mit Palästinenserinnen und Palästinensern. Diese zeigt sich in einer Unterbelichtung der Opferzahlen der in Gaza zu Tode gekommenen Menschen (>20.000 Menschen, Stand 08.01.2024) – nicht nur von medialer, sondern auch von politischer Seite. Diesen Eindruck vermittelt auch die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers, der das humanitäre Leid in Gaza und der Westbank gänzlich unberücksichtigt ließ.[9] Die selektive öffentliche Empathie schlägt sich ebenso in persönlichen Gesprächen nieder[10], in denen sich nur selten nach dem Wohlergehen der Familie in Gaza/der Westbank erkundigt wird. Kühle politische Schlussfolgerungen aus der Situation in Deutschland wonach „wir (…) mehr und schneller abschieben [müssen]“ führen insbesondere unter den Menschen zu Irritationen, die sich ohne deutsche Staatsbürgerschaft für friedliche Lösungen engagieren.
Daneben berichten Menschen des arabischen/muslimischen Spektrums von einer gesellschaftlichen Ächtung von Palästina-solidarischen Demonstrationen. So werden Teilnehmende an Kundgebungen, die einen Waffenstilstand in Gaza und eine bessere humanitäre Versorgung der Bürgerinnen und Bürger dort fordern, als Sympathisanten der Hamas oder als Antisemiten bezeichnet.[11] Diese Demonstrationen, die nicht selten von behördlicher Seite untersagt werden[12], sind für viele Menschen Orte des Trauerns, der Solidarität und der heilenden Gewissheit, mit dem Schmerz und Verzweiflung nicht allein zu sein. In diesen auch von jüdischen Verbänden mitorganisierten Kundgebungen kommt es immer wieder zu Polizeigewalt, die von den Teilnehmenden als unverhältnismäßig, ja rassistisch motiviert empfunden wird.
Und schließlich berichten arabische und/oder muslimische (oder als solche gelesener) Mitbürgerinnen und Mitbürger von einem als ungerechten Bekenntniszwang, der sich an Menschen „mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln“ persönlich richtet, sich von der Hamas zu distanzieren – so wie vom Bundespräsident Steinmeier gefordert.[13] Diese Forderung impliziert den Generalverdacht, eben diese Menschen seien potenziell Hamas-Unterstützer:innen. Raid Naim hebt die Absurdität und Selektivität dieser Bekenntnisforderung treffend hervor, in dem er darauf hinweist, dass keiner auf die Idee kommen würde, nach der Flugblatt-Affäre Hubert Aiwangers die Menschen in Bayern aufzufordern, sich vom Antisemitismus zu distanzieren.[14] Dass sich Aiwanger nach diesem Leak eines Stimmenzuwachses erfreuen konnte, ist bemerkenswert.
Vor diesem Hintergrund haben muslimische und/oder arabische (oder als solche gelesene) Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht selten das Gefühl, dass sich die öffentliche Stimmung gegen sie verschärft und muslimfeindliche Aussagen und Übergriffe salonfähiger werden. Dass Muslimfeindlichkeit schon vor dem 7. Oktober „ein strukturelles und gesamtgesellschaftliches Problem“ in Deutschland war,[15] zeigt nicht zuletzt der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit.[16] Weitere Evidenz für diesen Eindruck stellt der Religionsmonitor bereit, wonach 58 Prozent der deutschen Gesellschaft der Meinung sind, dass islamistische Terroristen Rückhalt in der muslimischen Bevölkerung fänden.[17] Es entsteht der Verdacht, die seit jeher brodelnde und weitverbreitete Muslimfeindlichkeit genau wie die Judenfeindlichkeit dürfe sich nun Bahn brechen und zwei Teile der deutschen Gesellschaft würden gegeneinander ausgespielt.
Wie ist dem beizukommen? Wie kann der viel beschworene gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden, sich bewähren, wenn es schwierig ist? Um nicht die Symptome, sondern die Ursprünge anzugehen, gilt es, die wesentlichen Faktoren der antisemitischen und muslimfeindlichen Stimmung zu identifizieren. Ein wesentlicher Faktor dieses Zustands ist eine dominante Freund-Feind-Erzählung, in der die Muslime gegen die Juden seien – im Nahen Osten, wie auch in Deutschland, wodurch ein Generalverdacht gegen Muslim:innen heraufbeschworen wird.[18] Oft verwendete Attribute wie pro-palästinensisch vs. pro-israelisch tragen nicht zu einer differenzierenden Sichtweise bei. Die schwarz-weiß gefärbte Debatte scheint sich bisher recht erfolgreich von kontextualisierenden, abwägenden und historisch fundierten Einordnungen abzuschirmen, sodass eine öffentliche Deliberation, die Grautöne zulassen würde, bisher zu wenig stattfindet. Stefan Weidner spricht von einer abgekoppelten Debatte in Deutschland[19], in der selbst nuancierte Überlegungen in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden weitestgehend ignoriert würden.
Beispiele für diese kategorisch anmutende ablehnende Haltung nichtkonformer, weil kontextualisierender Erwägungen finden sich weiterhin in der ablehnenden Reaktion auf die Rede Slavoj Žižeks auf der Frankfurter Buchmesse[20], in der der Philosoph neben der Verurteilung der Hamas, auch Verständnis für Palästinenserinnen und Palästinenser forderte und in der Denunzierung des UNO-Generalsekretärs António Guterres nach seinem Hinweis, den Kontext der „erstickenden Besatzung“ palästinensischer Gebiete durch Israel ebenfalls zu beachten.[21] [22]
Dieses Abschirmen vor wohlüberlegten Grautönen verhindert einen konstruktiven Dialog und ein unvoreingenommenes sich Begegnen. Trotz der Fülle an Beiträgen in Form von veröffentlichten Standpunkten, abgehaltenen Demonstrationen und offenen Briefen kommt kein Gespräch, kein ernsthafter, vertrauensvoller Austausch von Argumenten zustande. Es wird derzeit kaum miteinander geredet.
Wie also diese Fronten aufbrechen? Wie dieser desintegrativen Stimmung entgegenwirken? Wie dafür sorgen, dass man ins Gespräch kommt? Ein wichtiger Teil der Lösung des Problems liegt im integrativen und deliberativen Potenzial von Zivilgesellschaft.
Die Erkenntnis, dass Zivilgesellschaft für gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig ist, ist insbesondere auf Alexis de Tocqueville und Robert Putnam zurückzuführen. Ersterer argumentierte für die Relevanz von Vereinigungen für das Erlernen von Kooperation und Empathie mit ansonsten unverbundenen Mitmenschen.[23] Putnam leitete aus Tocquevilles Werk die These ab: Je ausgeprägter die Zivilgesellschaft ist, umso stärker ist die Gesellschaft darin, Konflikte und Probleme zu lösen.[24]
Dass diese Qualität nicht per se gilt, steht außer Frage, bildet die Zivilgesellschaft doch die Gesellschaft ab – mitsamt ihren Fragmentierungen und so auch desintegrativen und destruktiven Kräften.[25] Wenn sich Zivilgesellschaft allerdings des Problems desintegrativer Prozesse bewusst ist und aktiv versucht, diesen entgegenzuwirken, kann sie ein […] Ort sein“[26], in dem gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt wird. Ausschlaggebend hierfür ist das Ausmaß der Befähigung ihrer Akteure, sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen.
Wenn also diese Bedingung erfüllt ist, können im öffentlichen, aber geschützten und moderierten bürgerschaftlichen Raum leisere, versöhnliche Stimmen zu Wort kommen. Hier können Akteure miteinander in einen konstruktiven Dialog treten, ihre Anliegen vorbringen und gemeinsam differenzierte Lösungen erarbeiten – auf zwischenmenschlicher und empathischer Ebene, jenseits von destruktiven binären und polarisierenden pro-Palästina/pro-Israel Schablonen. Hier ist die Zivilgesellschaft zugleich herausgefordert, vom Sportverein bis zur Nachbarschaftsinitiative. Diese rund 800.000 Bewegungen, Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft in Deutschland erreichen weite Teile der Gesellschaft. In diesen Foren können polarisierende Haltungen im Dialog ad absurdum geführt werden. Der destruktive diskursive Kurs kann bottom-up zum Einlenken bewegt werden. Das ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft! Sie ist die Arena der Empathie; diese Empathie gilt es in allererster Linie zu praktizieren, auszuschöpfen, zu verteidigen, zu vermitteln – über alle Grenzen hinweg.
Finn Büttner M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Maecenata Institut und Doktorand im Wasatia Graduiertenkolleg der Europa Universität Flensburg.
[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektnachrichten/antisemitismus-und-rassismus-der-nahost-krieg-offenbart-risse-in-der-deutschen-gesellschaft
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/friedrich-merz-israel-einbuergerung-antisemitismus
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/friedrich-merz-israel-einbuergerung-antisemitismus
[4] https://www.zeit.de/2023/44/antisemitismus-berlin-davidstern-uebergriffe-hamas
[5] https://www.deutschlandfunk.de/hassbotschaften-mit-verbrannten-koranseiten-schweinefleisch-und-faekalien-gehen-weiter-100.html
[6] https://www.claim-allianz.de/aktuelles/news/pressemitteilung-gewaltvolle-uebergriffe-drohungen-diskriminierungen-zahl-antimuslimischer-vorfaelle-bundesweit-erneut-gestiegen/
[7] https://www.instagram.com/reel/CyvEMqQs_h9/?utm_source=ig_web_button_share_sheet
[8] https://mediendienst-integration.de/desintegration/antisemitismus.html
[9] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/neujahrsansprache-2024-2251114
[10] https://www.zeit.de/2023/52/palaestinenser-berlin-fadi-abdelnour-nahostkonflikt
[11] https://www.zeit.de/2023/54/muslime-deutschland-hamas-angriff-kuebra-guemuesay/seite-2
[12] https://www.fr.de/frankfurt/frankfurt-verbot-demonstration-antisemitismus-ordnungsamt-sicherheit-92741405.html
[13]https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2023/11/231108-Nahost-Runder-Tisch.html
[14] https://taz.de/Debatte-um-den-Nahost-Konflikt/!5973156/
[15] https://www.dw.com/de/islamfeindlichkeit-in-deutschland-weit-verbreitet/a-66069199
[16]https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/06/uem-abschlussbericht.html
[17] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektnachrichten/antisemitismus-und-rassismus-der-nahost-krieg-offenbart-risse-in-der-deutschen-gesellschaft
[18] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektnachrichten/antisemitismus-und-rassismus-der-nahost-krieg-offenbart-risse-in-der-deutschen-gesellschaft
[19] https://qantara.de/artikel/krieg-nahost-wo-bleiben-die-graut%C3%B6ne
[20] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2023-10/slavoj-zizek-frankfurter-buchmesse-eroeffnung-palaestina-protest
[21] https://www.zeit.de/news/2023-11/22/strack-zimmermann-guterres-ist-fuer-sein-amt-ungeeignet
[22] https://www.zeit.de/politik/2023-10/uno-antonio-guterres-nahost-israel
[23] Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika [1835/1840], Frankfurt/M. 1956
[24] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/im-dienst-der-gesellschaft-2021/329324/zivilgesellschaft-und-gesellschaftlicher-zusammenhalt/#footnote-reference-12
[25] ebd.
[26] ebd.