Observatorium 72 I 13.12.2023 I Christopher Gohl
Dieser Beitrag ist eine gekürzte und editierte Variante der Stellungnahme von Dr. Christopher Gohl zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 27. März 2023 zum Entwurf des Demokratiefördergesetzes.
Das Vorhaben des „Demokratiefördergesetzes“ (DFördG) ist umstritten (Bundestag 2023). Ich will eine systematisch und historisch strukturierte Einordnung leisten und Vorschläge zur weiteren Diskussion machen, um sachliche demokratische Lernprozesse zu fördern.
I. Streit um Quellen und Kultivierung eines demokratischen Ethos
Das Anliegen der „Demokratieförderung“ berührt zentrale Fragen des Selbstverständnisses unserer Demokratie und Bürgerschaft. Im Kern stellt es das Diktum des Staatsrechtslehrers und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde in Frage: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 2006, S. 112). Böckenförde konkretisierte 2010: „Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art ‚Gemeinsinn‘ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann?” Mit dem Entwurf des DFördG widerspricht die Regierung dem Böckenförde-Diktum zumindest teilweise: Der freiheitlich-demokratische Staat kann und will doch zur Pflege des demokratischen Ethos beitragen. Diese Auffassung unterstütze ich – aber unter Bedingungen.
Ethos meint die Gesamtheit von Werten, Konventionen und (mindestens informelle, aber daraus auch entstehende institutionelle) Praktiken, die für eine Gemeinschaft und ihre Mitglieder in einem bestimmten (zeit)geschichtlichen, geographischen und öffentlichen Raum für den Vollzug des eigenen Lebens prägend sind. Das Ethos prägt damit die Demokratie als (verfasste) Lebensform (vgl. Gohl 2023 i.E.). Böckenförde selbst glaubte, dieses Ethos sei vorstaatlich und speise sich aus der „gelebten Kultur“ aus den Quellen des Christentums, der Aufklärung und des Humanismus. Ähnliches glauben Anhänger einer sog. „Leitkultur“ (Tibi 2017), die eine solche entweder in deutschen, europäischen und / oder abendländischen Werten begründet sehen.
Andere Positionen gehen davon aus, dass ein freiheitlich-demokratisches Ethos in demokratischen Such-, Lern- und Gestaltungsprozessen selbst entsteht. Dabei verdichten sich geschichtliche Erfahrungen, kulturelle und geistige Traditionen und sich bewährende Praktiken des Umgangs, der Selbstregulierung und Kommunikation zu den Werten, Normen und Formen eines bürgerschaftlichen Comments. Ein demokratisches Ethos ist dann ein Ethos des friedlichen und vielfältigen Miteinanders freier und an Rechten gleicher Menschen oder (Staats)Bürger (je nach Grad der Inklusion und Prägung).
Der erste Bundespräsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, vertrat letztere Auffassung. Die junge Demokratie stand aus seiner Sicht vor der Aufgabe einer doppelten „Konstitution“: einerseits die Verfassung der Staatsform Demokratie in Grundgesetz und Regierungspraxis, wozu er auf politische Führung wie auf die „Tüchtigkeit seine(r) Beamtentungen“ hoffte; und andererseits das freiheitliche Gemeinwesen als eine von Bürgern im Alltag erfahrbare und mitgetragene Lebensform. Die geschriebene Verfassung sei keine „Glücksversicherung“, sondern müsse durch bestimmte Formen menschlichen Verhaltens mit Leben gefüllt werden.
Demokratie als „Gesinnungskraft und Lebensform lebt aus dem Ehrenamt“, so Heuss 1952 in einem Vortrag „Formkräfte einer politischen Stilbildung“ (Hamm-Brücher 1984: 76-78). Im demokratischen Gemeindewesen der kommunalen Selbstverwaltung, aber am stärksten in den freien Verbänden sei „immer etwas von diesem ehrenamtlichen Dem-Anderen-zur-Verfügung-Stehen vorhanden gewesen und vorhanden geblieben: Die vielen Freiwilligkeiten sind die Heimat und der Nährboden eines demokratischen Lebensstils…“ Für Heuss wie für seine Ziehtochter Hildegard Hamm-Brücher, 1998 Begründerin einer ersten Agenda der „Demokratiepolitik“, war die Demokratie als Lebensform immer voraussetzungsreich – zu garantieren durch politische Bildung, durch die Pflege demokratischer Kultur einerseits und durch die Wertschätzung der „freien Bürgergesinnung“ mündiger Bürgerinnen und Bürger andererseits. Das Demokratiefördergesetz hat ähnliche Anliegen.
II. Ansprüche zur Gestaltung des demokratischen Ethos im Demokratiefördergesetz
Das Motiv der Bundesregierung für das DFördG ist, eine entschlossene Antwort auf eine „Vielzahl demokratie- und menschenfeindlicher Phänomene“ geben zu wollen, die „die freiheitliche demokratische Grundordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ bedrohen. Damit meint sie „unterschiedliche Formen des Extremismus“ und „eine sich in Teilen der Gesellschaft verfestigende demokratiefeindliche und gegenüber staatlichen Institutionen ablehnende Haltung“. Zu den demokratie- und menschenfeindlichen Phänomenen zählt sie konkret “(u)nter anderem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islam- und Muslimfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit und Extremismen wie Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus, Linksextremismus sowie Hass im Netz, Desinformation und Wissenschaftsleugnung und die gegen das Grundgesetz gerichtete Delegitimierung des Staates”.
In Antwort auf diese Phänomene gibt die Bundesregierung als leitenden Gedanken des DFördG aus, „die Demokratie in Deutschland als Gesellschaftsform und Grundlage des Zusammenlebens zu schützen, weiter zu gestalten und für aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu stärken“ („A. Problem und Ziel“, S. 1). Dafür definiert der Gesetzesentwurf in § 2 als Gegenstand von Maßnahmen vier Handlungsfelder und zwei Anliegen der Kapazitätssteigerung:
Die Maßnahmen wiederum will der Bund sowohl in Eigenregie durchführen (§ 3) als auch „Maßnahmen Dritter“ (§ 4) fördern. Die Förderung erfolgt insbesondere durch finanzielle Zuwendungen (§ 5.1). Zu diesen Dritten zählen Träger der Zivilgesellschaft: juristische Personen sowohl des öffentlichen Rechts als auch des privaten Rechts (§ 5.1)
Verschiedene Ansprüche an die Gestaltung des Ethos der Demokratie werden in der bisherigen Diskussion offensichtlich aus drei unterschiedlichen Perspektiven abgeleitet, begründet und bewertet:
III. Zur handwerklichen Durchführung des DFördG
Schon der Koalitionsvertrag machte deutlich, welch herausragende Rolle für unsere Demokratie mittlerweile Verwaltungen spielen, die Stakeholder konsultieren. Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung von Betroffenen an der Klärung von Formen künftiger (Selbst-)Beteiligung an der Politik. Im vorliegenden Fall sollte „(z)ur verbindlichen und langfristig angelegten Stärkung der Zivilgesellschaft (…) nach breiter Beteiligung“ bis 2023 ein Demokratiefördergesetz eingebracht werden.
Der offene Prozess der Ministerien, Stakeholder der Zivilgesellschaft zu beteiligen, signalisiert einerseits Partnerschaft statt Paternalismus. Aber ist er nicht auch problematisch? Welche Legitimation verspricht sich der Gesetzgeber von “ein(em) breite(n) Beteiligungsverfahren mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler” zwischen Ende Februar und Anfang Mai 2022, wenn weder die eingegangenen Stellungnahmen veröffentlicht noch deren Auswertung transparent gemacht wurde, und wenn die Konferenz am 4. Mai als „eine PR-Veranstaltung für die beteiligten Ministerinnen“ (Strachwitz 2023) wahrgenommen wurde? Welche Erwartungen hat der Gesetzgeber an die Anhörung vom 27. März, wenn bereits für den 24. Mai 2023 der Beschluss im Ausschuss, den 26. Mai 2023 die Zweite und Dritte Lesung, den 16. Juni Stellungnahmen des Bundesrats und dann am 1. Juli 2023 die Veröffentlichung durch den Bundespräsidenten geplant sind? Zudem sieht der Koalitionsvertrag vor, den Bundestag „als Ort der Debatte und der Gesetzgebung“ zu stärken. Sollten wir in unserer Demokratie die Meinungsbildung nicht doch besser im Parlament als in Veranstaltungen und Konferenzen von Ministerien zentrieren?
Name und Begründungen des „Demokratiefördergesetzes“ versprechen, die Demokratie als Lebensform per parlamentarischem Beschluss und staatlicher Finanzierung wehrfähig zu machen. Sie erwecken den Eindruck, der freiheitlich-demokratische Staat könne und wolle ein demokratisches Ethos der Bürgerschaft garantieren und ausgestalten; zwar nicht im Alleingang, aber in der Kooptation einer mit Millionen geförderte Zivilgesellschaft könnten gesellschaftliche Werte, Konventionen und Praktiken auf wünschenswerte Weise ein Update erfahren; und so könnte durch die gemeinsame Anstrengung von Staat und Nicht-Regierungsorganisationen die Demokratie als wehrhafte Lebensform vor Bedrohungen durch Wertewandel, Inkompetenz, Extremismus, Menschenfeindlichkeit und einfältiger Diskriminierung gerettet werden. Mehr noch: Manche Wortmeldungen von Befürwortern des Demokratiefördergesetz lassen befürchten, es gehe tatsächlich darum, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein Bürgerinnen und Bürger zu erziehen, indem die Zivilgesellschaft zur Vollzugshilfe des sich gegen ihr missliebiges Verhalten wehrenden Staates wird – und nur so könne die liberale Demokratie von ihren Bedrohungen und Leiden erlöst werden.
Das Versprechen halte ich für zu groß und die genannten Hoffnungen zum Teil für irregeführt. Zu Recht benennt der Koalitionsvertrag viele weitere Vorhaben, die einer Demokratieförderung i.S. einer Stärkung der Demokratie als widerstandskräftige Lebensform zuträglich wären. Zur Ausrichtung des Gesetzes deshalb folgende Fragen:
Bestimmt der Zweck einer geschützten und gestärkten Demokratie in konsistenter Weise die Mittel des Schutzes und der Stärkung der Demokratie? In der 1. Lesung am 16. März 2023 ist zu Recht das Diktum des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann zitiert worden, dem zufolge man das Grundgesetz nicht mit Methoden verteidigen dürfe, die seinem Geist und seinen Zielen zuwiderliefen. Als Zweck kann der leitende Gedanke verstanden werden, „die Demokratie in Deutschland als Gesellschaftsform und Grundlage des Zusammenlebens zu schützen, weiter zu gestalten und für aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu stärken“ (vgl. oben). Zur Bewertung der Zweck-Mittel-Rationalität ergeben sich u.a. folgende Fragen:
IV. Empfehlungen zur Förderung und Stärkung der Demokratie
Anliegen der Demokratieförderung sollten als Teil von Demokratiepolitik verstanden werden. Die liberale Demokratie ist eine Lebensform verantworteter Freiheit. Sie findet ihre Ausformungen in den Such- und Lernprozessen öffentlicher Kritik und Korrektur. Dafür bedarf sie einer wehrhaften freiheitlich-demokratischen Grundordnung, einer eigensinnigen und engagierten Zivilgesellschaft und einer klugen (und deshalb auch zurückhaltenden) Selbstregierung. Das schließt die Möglichkeit differenzierter Demokratieförderung im Sinne des DFördG ein, für die unterschiedliche Akteure der liberalen Demokratie in Achtung vor ihren verschiedenen Rollen zusammenwirken.
Demokratieförderung sollte ein Teil eines umfassenden Ansatzes von „Demokratiepolitik“ (nach Hildegard Hamm-Brücher) sein. Das überfällige, mit Kontroversen zu belebende Politikfeld betrifft die Gestaltung unserer liberalen Demokratie als Staats-, Regierungs- und Lebensform und erfordert die Sorge um Institutionen, Verfahren, Öffentlichkeiten, Assoziationen, Ethos und Personal demokratischer Such-, Lern und Gestaltungsprozesse. Ein wichtiger Teilbereich ist dabei die Engagementpolitik. Zu den Akteuren der Demokratiepolitik sollten sich Parteien, Parlamente, Regierungen, Kommunen, zivilgesellschaftliche Assoziationen und der Bundespräsident zählen.
Zeitgemäße Demokratiepolitik müsste eine integrierte Antwort auf den dreifachen Stresstest der liberalen Demokratie sein: polarisiert von innen, bedroht durch Systemfeinde von außen und herausgefordert durch Megatrends wie den Wandel von Klima und Demographie. Der (Rechts)Extremismus mag gegenwärtig zu den größten Bedrohungen der Demokratie von innen gehören; die größte Herausforderung dürfte aber sein, die Leistungsfähigkeit der liberalen Demokratie auf die multiplen Krisen ausuzrichten, um die Umbrüche von Transformationen zu echten Aufbrüchen für alle zu machen – also den Druck der Probleme umzuwandeln in einen Schub des Fortschritts.
Obwohl das Demokratiefördergesetz diesen Herausforderungen und dem Anspruch seines Namens nicht umfänglich gerecht wird, verdient es nüchterne und differenzierte Unterstützung. Das DFördG ist vor allem als ein Finanzierungsgesetz zu verstehen, das durch einen gesetzlichen Rahmen Planungssicherheit gewährleistet, weil er sowohl künftige Maßnahmen der Demokratieförderung unter einem gemeinsamen Dach ordnet, bündelt, verstetigt und erleichtert als auch diese parlamentarisch legitimiert, sowohl durch eine politische Anerkennung als auch durch eine materiell-rechtliche Grundlage. Das schafft Transparenz, erleichtert die Evaluation und schließlich die Kontrolle.
Befürchtungen einer staatlichen Steuerung des demokratischen Ethos oder einer Verbeamtung der Zivilgesellschaft sollten so wachsam wie gelassen behandelt werden. Weder lässt sich die Demokratie als Lebensform per Gesetz auf ein innen- und sicherheitspolitisches Projekt der Wehrhaftigkeit verkürzen, noch durchdringen die Handlungsfelder und Anliegen des Demokratiefördergesetzes die Totalität der vielfältigen Lebensformen der Demokratie, noch lässt sich die Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements auf mögliche Programmträger verkürzen. Die Vollmacht für den Bund, eigene und zivilgesellschaftliche Maßnahmen zur Eindämmung des Extremismus und der politischen Bildung zu finanzieren, ist kein totales Programm zur Förderung und Entwicklung der Demokratie.
Das Leitbild der „wehrhaften Demokratie“ sollte in der Begründung und öffentlichen Bewerbung des DFördG nicht mehr verwendet werden. Eine vitale Demokratie als Lebensform kann nicht auf die innen- und sicherheitspolitische Leistung der „Wehrhaftigkeit“ verkleinert werden. Dagegen könnte eine „lernende Demokratie“ das Leitbild einer dialog-, erneuerungs- und friedensfähigen Demokratie sein.
Das DFördG ist kein und darf kein Instrument der Erziehung von Bürgern bis weit in die Mitte der Gesellschaft werden. Die Kultivierung von Lernprozessen verantworteter Freiheit setzt auf demokratische Metakompetenzen, nicht ideelle Erziehung als Mittel des Kulturkampfes. Entscheidend aus Sicht eines demokratischen Ethos (Werte, Konventionen und Praktiken gelebter Demokratie) ist die Frage, ob die Programme in den jeweiligen Handlungsfeldern Dispositionen, Kompetenzen und Formen horizontaler, vernunftbasierter Interaktion zwischen Freien und an Rechten Gleichen fördern, wie sie alle Ebenen demokratischen Miteinanders von der alltäglichen Begegnung bis formalen politischen Institutionen prägen (Frega 2019). „Vielfalt zu gestalten“ kann dann nur heißen, Toleranz, Neugier, Dialog- und Lernfähigkeit zu stärken, nicht: die vorhandene und ideell vielleicht nicht immer genehme Vielfalt durch eine schöne neue Diversität zu ersetzen, die alle Bürgerinnen und Bürger schön zu finden haben und sprachlich korrekt zu benennen wissen. Demokratie heißt Streit nach Regeln, der den Dissens fruchtbar macht. Der Beutelsbacher Konsens zum Überwältigungsverbot, zur Kontroversität und zur selbstbewussten Urteilsfähigkeit muss erhalten bleiben.
Ein Bekenntnis zu den Werten des Grundgesetzes ist das Mindeste, was man von Programmträgern erwarten darf, die das Ethos der Demokratie stärken wollen. Und: Der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement sollte sich an der Formulierung der entscheidenden Details von Richtlinien des DFördG beteiligen und sich regelmäßig berichten lassen.
Das DFördG antwortet lediglich auf den Stresstest der Demokratie von innen – auf Polarisierungen, die sich in Realitätsflucht, Verschwörungen und Extremismus zeigen. Aber selbst hier greifen die Maßnahmen zur Pflege des demokratischen Ethos zu kurz und reichen nicht aus. Diese Versäumnisse müssen dringend adressiert werden. Dazu folgende Vorschläge.
Prävention muss auf dauerhafte Lernprozesse setzen, die demokratische Haltungen, Dispositionen, Werte und Praktiken stärken. Diese Lernprozesse finden im selbstwirksamen Engagement statt, wo in der Lebenswelt „die Gesellschaft zumindest im Kleinen“ gestaltet werden kann. Darauf weisen das Netzwerk Engagementförderung und das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement zu Recht seit Langem hin. Dafür braucht es dauerhafte Infrastrukturen und eine dementsprechende Strukturförderung. Zur Engagementstrategie des Bundes sollte deshalb dringend ein „Engagementfördergesetz“ gehören.
Zur künftigen Engagementstrategie des Bundes muss es auch gehören, Initiativen, Vereinen und Verbänden das Leben und das selbstwirksame Engagement einfacher zu machen – so durch Entbürokratisierung; eine digitale Infrastruktur und Einübung in digitale Lösungen, die praktisch und sorgenfrei funktioniert; die dringliche Erneuerung des Gemeinnützigkeitsrechts ohne Gängelungen politischer Betätigung; analog zu Verwaltungshochschulen Lehrgänge zur zivilgesellschaftlichen Führung und Organisation; und Investitionen in die Zivilgesellschaftsforschung.
Zur Polarisierung und Realitätsflucht tragen auch Soziale Medien mit Geschäftsmodellen bei, die Emotionalisierung, Gruppen- und Schwarzweiß-denken befördern. Moralisierung, Identitätspolitik, Ängste und Konflikte sind Geschäftsmodelle geworden, die sich gut bewirtschaften lassen. Wer die Demokratie stärken und fördern will, muss Soziale Medien in Verantwortung für Wahrhaftigkeit nehmen und neue Verdienstmodelle für Medien ermöglichen.
Es bedarf eines Bundesbeteiligungsgesetzes analog kommunaler Beteiligungssatzungen, um den Status und die Standards von Konsultationen und Dialogen zu regeln, deren Adressat Institutionen des Bundes sind – der Bundestag und seine Ausschüsse, aber auch Ministerien. Der Einbezug wissenschaftlicher Kompetenz braucht ebenso Ordnungspolitik wie das Beiratswesen der Ministerien und des Bundestags.
Die engagement- und demokratiepolitische Agenda braucht in der kommenden 21. Legislatur einen Hauptausschuss Demokratie und bürgerschaftliches Engagement als Forum der Verständigung wie als Treiber der Veränderung. Die Leistungsfähigkeit unserer liberalen Demokratie im Systemwettbewerb und Transformationsdruck darf nicht erneut zum Nebenthemen in anderen Ausschüssen degradiert, zerstückelt und zerrissen werden. Über 600.000 Vereine, knapp 30 Millionen bürgerschaftlich engagierte Menschen, 60 Millionen Wahlberechtigte und 80 Millionen in Deutschland lebende Menschen verdienen, dass die Institutionen, Verfahren und rechtlichen, personellen und finanziellen Bedingungen einer lebendigen und vielfältigen Demokratie in einem Hauptausschuss gebündelt behandelt werden. Der Hauptausschuss müsste auch eine jährliche Begutachtung zur gesamtdemokratischen Entwicklung ausschreiben.
Die Fähigkeit unseres demokratischen Systems, die Herausforderungen und Krisen des anstehenden Transformations-Jahrzehnts nachhaltig zu bewältigen, erfordert Such-, Lern- und Veränderungsprozesse. Sie werden über den inneren Frieden in Deutschland entscheiden. Eine lernende Demokratie braucht einen lernenden Staat, eine lernende Gesellschaft und als zentralen Ort demokratischer Lernprozesse: ein lernendes Parlament. Wer den Fortschritt wagen will, muss Demokratie besser machen – und das beginnt damit, der Engagement- und Demokratiepolitik im Deutschen Bundestag einen zentralen Ort zu geben.
Dr. Christopher Gohl ist wissenschaftlicher Assistent am Weltethos-Institut an der Universität Tübingen. Er war 2021 als Nachrücker Mitglied des Deutschen Bundestages.
Literatur
Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2006): „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. In: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 92-114.
Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2010): „Freiheit ist ansteckend“. In: Frankfurter Rundschau. 255, 2. November 2010, S. 32.
Bundesregierung (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit., Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP). Mit Zeilennummern verfügbar unter https://dynamic.faz.net/download/2021/Koalitionsvertrag2021-2025.pdf. Zuletzt geprüft 26. Juli 2023.
Deutscher Bundestag (2023): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung (Demokratiefördergesetz – DFördG). Drucksache 20/5823. Berlin.
Frega, Robert (2019). Pragmatism and the Wide View of Democracy. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Gohl, Christopher (2023, i.E.): Hildegard Hamm-Brücher: Vom Ethos der Demokratie zur Demokratiepolitik. In: Heinz Kleger, Ansgar Klein (Hg.): Demokratiepolitik. Neue Formen der Bürgerbeteiligung als Demokratiestärkung. Reihe: Bürgergesellschaft und Demokratie. VS Springer, Wiesbaden.
Hamm-Brücher, Hildegard (1984): Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Theodor Heuss und die deutsche Demokratie. München/ Zürich: Piper.
Strachwitz, Rupert (2023): Mit der Zivilgesellschaft? Ediorial. ZStV – Zeitschrift für Stiftungs- und Vereinswesen (1/2023).
Tibi, Bassam (2017): „Leitkultur als Integrationskonzept – revisited: Zwei missglückte deutsche Debatten 2000–2017“. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Dossier Islamismus, S.176-185.