Observatorium 67 I 30.05.2023 I Rupert Graf Strachwitz I Einordnung des Vorgehens gegen AktivistInnen der Letzte Generation
Diese Demokratie ist schwer zu verteidigen!
In einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekannt geworden ist[1], wurden vor 75 Jahren Grundsätze einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft festgeschrieben. Im Mittelpunkt dieser Erklärung standen „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“, „die Herrschaft des Rechts“, „die grundlegenden Menschenrechte“, „die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ und grundlegende Bürgerrechte wie „das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung“, „das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen“ und „das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten … unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken“. Die Unterzeichner stellen auch fest: „Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt.“
Europa nimmt für sich in Anspruch, diese Grundsätze nicht nur maßgeblich entwickelt und gepflegt zu haben, sondern ihnen überall auf der Welt zur Geltung verhelfen zu wollen. In grundlegenden Dokumenten des Europarats und der Europäischen Union wurden sie bekräftigt. Auch das Grundgesetz formuliert die Grundrechte ähnlich. Der vom Economist herausgegebene Demokratieindex 2022 stützt diesen Anspruch jedoch nur zum Teil. Von den 27 EU-Mitgliedsstaaten werden 17 als eingeschränkte Demokratien (flawed democracies) bezeichnet, nur 10 als volle Demokratien (full democracies). Unter den letzteren rangiert Schweden weltweit auf Rang 4, gefolgt von Finnland (5), Dänemark (6), Irland (8), den Niederlanden (9), Luxemburg (13), Deutschland (14), Österreich (20) sowie Frankreich und Spanien (beide 22). Das Schlußlicht in der EU bildet Rumänien als flawed democracy auf Rang 61 der insgesamt 167 untersuchten Länder[2]. Insofern hat die Europäische Union jeden Grund, diese Thematik ernst zu nehmen und mit hoher Priorität an Verbesserungen zu arbeiten.
In der vergangenen Woche sind Staatsanwaltschaft und Polizei in Deutschland in einer Weise gegen eine zivilgesellschaftliche Organisation vorgegangen, die diesen Grundsätzen nicht entspricht. Späteres Zurückrudern hin oder her – auch nur auf die Idee zu kommen, sich als Organe eines Rechtsstaates in so eklatanter Weise über etablierte Verfahren eben dieses Rechtsstaates hinwegsetzen zu können, zeigt uns und der Welt, daß es in Deutschland um Grundprinzipien unserer freiheitlichen Ordnung schlecht bestellt ist. Es geht dabei wohlgemerkt nur sehr bedingt um den Einzelfall, das Vorgehen gegen die Aktivisten und Aktivistinnenen von Last Generation. Deren Aktionen sind nicht zu billigen, auch wenn ihr Anliegen berechtigt ist. Sie stehen keinesfalls mit ihrem Verhalten unter einem besonderen Schutz des freiheitlichen Staates, der es diesem untersagen würde, den Aktionen Grenzen zu setzen und Grenzüberschreitungen mit den Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, zu ahnden. Auch „für die gute Sache“ ist eben mitnichten alles erlaubt. Aber: Aktivisten müssen wie jeder andere Bürger davon ausgehen können, daß jeder Beamte, jeder Richter die Grenzen kennt, die das Recht ihnen setzt. Daß Staatsdiener geglaubt haben, sich an einer Stelle, an der sie inhaltlich wohl die meisten Menschen auf ihrer Seite haben, darüber hinwegsetzen zu können, zeigt, wie schlecht es um die freiheitlich-demokratische Grundordnung bestellt ist. Kein Wunder daß dieser Begriff zu einem unverständlichen Nuschelwort verkommen ist.
Hier geht eine Saat auf, die fast täglich gesät wird. In jeder der vielen beliebten Polizei-Vorabend-Serien kann man bei genauerem Hinsehen kleinere Übergriffigkeiten beobachten: Verstöße gegen die Unverletztlichkeit der Wohnung sind dafür ein Beispiel. In sich und für sich allein genommen mögen sie harmlos sein, auch wenn schon die Tatsache, daß viele dieser Serien mit tatkräftiger Unterstützung der Polizei entstehen, bedenklich stimmen sollte. Vor allem aber bilden sie den Anfang eines Prozesses, an deren Ende maßlose Übertreibungen in der Beurteilung von Sachverhalten, Razzien und Beschlagnahmungen von Vermögen stehen, Forderungen nach Verboten für ausländische Unterstützung inklusive. Wenn gleichzeitig Beamte fast oder ganz ungestraft davonkommen, die den Rechtsstaat in ihrem Privatleben in Frage stellen, während Wissenschaftlerinnen, die das, zugegebenermaßen mit falscher Wortwahl, anprangern, schwerste berufliche Folgen erleiden, läuten endgültig die Alarmglocken.
Dabei ist das ja noch nicht alles. Obwohl es Bürgerin und Bürger kaum glauben können, es gibt tatsächlich Menschen, die dem Staat und den staatsnahen Unternehmungen von der Bahn bis zu den Sozialversicherungsträgern pauschal zubilligen, in der Erbringung von Basisdienstleistungen schlechter sein zu dürfen als vergleichbare private Anbieter – oder als andere Staaten. Leistung wird durch immer mehr Kontrollen und bürokratischen Mechanismen ersetzt. Sicherheit wird ganz groß geschrieben. Aber geht es wirklich um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger oder doch nicht nur um die des Staatsapparats? Die Arbeitszeiterfassung ist ein anderes Beispiel: Richter und Beamte sollen pauschal davon ausgenommen werden. Und: Politiker und Politikerinnen und Menschen, die ihnen nahestehen, verdienen sich in der heißesten Phase der Corona-Pandemie an dieser goldene Nasen. Kurzum: Gegen Bürgerin und Bürger wird das Recht exekutiert, Politik und Verwaltung leben in einer anderen Welt.
Es scheint, als ziehe sich der Staat mit seinem riesigen Apparat immer mehr in eine Wagenburg zurück, in der er sich gemütlich einrichtet, die er mit Zähnen und Klauen und mit allen der hoheitlichen Gewalt zu Gebote stehenden Mitteln verteidigt. Ein sichtbares Zeichen dafür wird in wenigen Wochen vor dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Bundestags, zu besichtigen sein. Dort wird im Sommer ein Ha-ha gebaut, ein tiefer, zum Gebäude hin senkrecht aufragender Graben, den englische Landschaftsgärtner einst erfanden, um die Kühe im englischen Landschaftsgarten davon abzuhalten, in den inneren Teil des Gartens vorzudringen. Ein passendes Symbol dafür, wie sich Politik, Verwaltung, Richter, Polizei und andere Hoheitsträger vom Volk, dem sie doch dienen sollen, abkapseln und wie sie dieses Volk einschätzen! Daß sie im demokratischen Staat nicht die Herren und Herrinnen, sondern Diener und Dienerinnen der Bürgerinnen und Bürger sind, scheinen sie schon lange vergessen zu haben. Und nun wissen sie nicht einmal mehr, daß Recht und Gesetz auch für sie gelten.
Eine so verunstaltete, dysfunktionale, ja geradezu pervertierte Demokratie sollen wir glaubhaft verteidigen? Wo wir doch das Vertrauen, das wichtigste Element einer politischen Ordnung längst verloren haben! Sollen wir wirklich denen vertrauen und glauben, die uns erzählen wollen, diese Demokratie müsse gegen autoritäre und extreme Regime verteidigt werden? Welche Argumente haben wir denn dafür noch? Wenn wir uns die Freiheit erhalten wollen, wenn wir in einer Ordnung leben wollen, in der der Staat nicht selbstherrlich und, wenn er will, übergriffig mit uns umgeht, wie er will, dürfen wir diese Demokratie nicht hinnehmen, sie auch nicht verteidigen, sondern müssen sie entwickeln, neu gestalten und resilient machen gegen die Gefährdungen von innen und außen, oben und unten, rechts und links oder wo immer sie herkommen mögen.
Bedenklich viele Menschen wünschen sich heute ein autoritäres Regime geradezu herbei. Dort herrsche Ordnung, dort funktioniere alles, dort würden die Dinge rasch erledigt, gaukeln ihnen die Rattenfänger vor. Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsfreiheit, Religionsfreiheit scheinen da nicht viel zu bedeuten, solange nur die sozialen Sicherungssysteme greifen; ein „Volkswille“ wird durch geschickte Manipulation ermittelt und vollstreckt. Viele andere akzeptieren die fehlerhafte Demokratie unbesehen so, wie sie ist und merken gar nicht, wie schnell sie zur Beute ihrer Gegner werden kann. Und manche lassen sich durch Fördermittel korrumpieren; sie gehen den Verteidigern des Ist-Zustands auf den Leim und sehen nicht die Gefahren, die einer offenen und doch stabilen, freiheitlichen und doch der Herrschaft des Rechts unterworfenen, demokratischen und doch von Vertrauen getragenen Gesellschaft drohen.
Auf den bürgerschaftlichen Raum kommt es an, wenn wir uns davor bewahren wollen. Akteure der Zivilgesellschaft sind mehr denn je aufgerufen, als Wächter der Gesellschaft die Stimme zu erheben. Auch sie sind und bleiben der Herrschaft des Rechts unterworfen. Sie können keinesfalls für sich in Anspruch nehmen, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, schon gar nicht, daraus Sonderrechte ableiten zu dürfen. So sehr sie subjektiv davon überzeugt sein mögen, dem Gemeinwohl mehr als andere zu dienen, so wenig ergibt sich daraus für sie nach den Regeln einer offenen Gesellschaft und einer deliberativen Demokratie eine moralische Vorherrschaft. Dies gilt aber ebenso für den Staat, von dem wir als Gegenleistung für die Übertragung des Gewaltmonopols erwarten können, daß er dieses mit äußerster Sorgfalt und nicht zur Verteidigung von Eigeninteressen ausübt.
Dies und das selbstermächtigte bürgerschaftliche Engagement unterscheiden uns von einer autoritären Ordnung, von einer totalitären Willkürherrschaft, von einer Diktatur. Hier und bei uns selbst müssen wir ansetzen, um unsere Demokratie weiterzuentwickeln, sie resilient zu machen gegen Anfeindung, Unterwanderung, Aushöhlung und Pervertierung ebenso wie gegen frontale Angriffe. Der Atlas der Zivilgesellschaft 2023 sagt uns, daß nur noch 3,2% der Weltbevölkerung in „offenen“ Gesellschaften leben; daß die Deutschen dabei sind, ist geradezu erstaunlich und schon deshalb keine Beruhigung, weil Nachbarn wie Frankreich, Italien und Spanien (und die USA) als „beeinträchtigt“ eingestuft sind, Großbritannien sogar als „beschränkt“[3]. Proaktives und gemeinsames Handeln ist angesagt.
Ja, Zivilgesellschaft ist oft lästig und unbequem; sie tickt anders als das staatliche System, auch anders als die Wirtschaft. Aber wer Freiheit will, muß zu ihr ja sagen, nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch im Alltag. Staatsanwälte und Polizeibeamte, die das offensichtlich noch nicht wissen, müssen es schleunigst lernen.
Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung.
[1] Generalversammlung der Vereinten Nationen, 183. Plenarsitzung: Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (15. IV. 2023)
[2] Economist Intelligence Unit: Democracy Index 2022 – Frontline democracy and the battle for Ukraine. London: The Economist 2022
[3] Brot für die Welt (Hrsg.): Atlas der Zivilgesellschaft. München: Oekom 2023, S. 10-11