Observatorium 66 – Der Gesellschaft etwas schenken: Ein Theorie-Praxis-Dialog

Observatorium 66 I 28.03.2023 I Philip M. Pankow I Tagungsbericht

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Müssen wir uns um unsere Gesellschaft verdient machen, um sie uns zu verdienen? Der momentane Zeitgeist, der mit einer Sinnspruch-Ökonomie à la „Leistung muss sich lohnen“ aufwartet, lässt das vermuten. Doch eine Gesellschaft, die durchweg von merkantilistischen Kalkülen durchzogen wird, muss verelenden. Für ihr Fortbestehen bedarf es der freiwilligen Gabe einzelner an die Gesellschaft – ein Engagement jenseits ökonomischer Handlungslogiken als System-Kitt. Weshalb Menschen anderen etwas abgeben, wer die Gebenden sind und in welche Zukunft wir steuern, all das waren Themen der Tagung, zu welcher die Maecenata Stiftung, unterstützt von der Dohle Stiftung, vom 2. auf den 3. März in die Räumlichkeiten der Kreuzberger Musikalischen Aktion e.V. nach Berlin einlud.[1]

  1. Warum schenken wir?

Diese Frage mag einen rhetorischen Beigeschmack haben. Doch Appelle von Wirtschaft, Werbung, teils auch Politik, die den Eigennutz als Handlungslogik priorisieren, delegitimieren nicht selten freiwillige Schenkungen als implizit naiven Auswuchs eines vermeintlichen Gutmenschentums. Weshalb, so ein Argument, sollte man etwas abgeben, wenn die menschliche Natur doch stets ihren egoistischen Trieben nach der eigenen Vorteilsmaximierung folgt? Derlei Mutmaßungen steht indes ein breiter Konsens verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen gegenüber. So legen Erkenntnisse aus Anthropologie, Soziologie und auch Neurologie nah, dass das Schenken eine universelle Konstante einer jeden Gesellschaft bildet. Und auch die ersten Tagungsbeiträge dekonstruierten das Bild eines rein egoistisch gepolten Menschen, der in Opposition zur Gemeinschaft stünde. So verwies Prof. Dr. Schulz-Nieswandt in seinem Impulsreferat auf Antoine de Saint-Exupérys Definition des Individuums als Knotenpunkt sozialer Beziehungen. Wenn das Individuum jedoch den Knotenpunkt seiner sozialen Beziehungen bildet, dann ginge ihm stets die Gemeinschaft voraus, so Schulz-Nieswandt. Damit sei der Mensch in diese Beziehungen eingebettet und könne als soziales Wesen nicht getrennt von diesen verstanden werden. Das ist indes keine selbstverständliche Vorannahme, schließlich richtet sie sich gegen den kartesianischen Dualismus, der für die neuzeitliche Philosophie und auch die Naturwissenschaften prägend war und es vielfach noch ist. Dieser geht im Sinne René Descartes’ davon aus, dass eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Körper und Seele, externaler Welt und Bewusstsein existiere. In diesem Dualismus leitet das Individuum seine Existenz aus dem eigenen Denken ab, oder – im Sinne der „kartesianischen Gabe“ nach Schulz-Nieswandt – von seinem Geben: „Ich gebe, also bin ich.“ Gegen solch starken Individualismus grenzte Schulz-Nieswandt die responsive Gabe ab, welche sich stets auf jemand anderes beziehe, der – genau wie die Gesellschaft – schon immer da und somit a priori im Selbstkonzept des Gebenden miteinbezogen sei. „Am Anfang stand die Gabe“, betitelte Schulz-Nieswandt seinen Vortrag; was in jener beschrieben Reziprozität zu verstehen ist und nicht nur den Grundtenor seines Impulses, sondern auch vieler Folgebeiträge bildete.

So konnte auch Prof. Dr. Frank Adloff diese einleitenden Gedanken aufgreifen und auf das Verhältnis vom Menschen zur Natur abstrahieren. Die Natur gelte den Menschen historisch betrachtet – und ganz im Sinne des kartesianischen Dualismus – als stets verfügbare Ressource. Dabei werde vielfach übersehen, dass wir uns ebenfalls in einem Beziehungsgeflecht mit der Natur befänden. Entsprechend widmete sich Adloff der Frage, wie sich ein Zyklus der Reziprozität von Menschen und Natur wiederherstellen ließe, der in unserer ökonomischen Tradition verloren gegangen sei, da wir die Natur zu einem stummen Rohstofflieferanten degradiert hätten. Diese Asymmetrie gelte es in eine Symmetrie umzuwandeln. Hierzu, so Adloffs Überlegungen, könne die Natur in einen juristischen Quasi-Subjektstatus versetzt werden. Entsprechende Ansätze fänden sich bereits vielfach wieder, so in Bezug auf unser gewandeltes Verständnis von Tierrechten oder auch auf globale Gesetzgebungen; Neuseeland hätte etwa in jüngerer Zeit einen Fluss und Spanien ein Flussdelta zur Rechtsperson ernannt, während in Ecuador ein Verfassungszusatz zu den Rechten der Natur eingeführt wurde. Auch geschichtlich habe sich immer wieder gezeigt, dass sozialer Fortschritt durch die Zusicherung von Rechten erzielt werden konnte, ein Prinzip, das – so die Idee – sich auch auf Ökosysteme applizieren ließe.

  1. Erfahrungen aus der Praxis

Solcherlei Überlegungen, Entwicklungen und Debatten demonstrieren den Diskurs- und Mentalitätswandel, der dem eingangs zitierten ökonomischen Paradigma des egoistischen Individuums widerspricht. Derlei Ansätze mögen vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen sein. So verwies Ise Bosch in ihrem Beitrag zur Philanthropie darauf, dass es prominenten Stiftern wie etwa Rockefeller oder Carnegie einst als selbstverständlich galt, über den Einsatz ihres gespendeten Geldes genau zu bestimmen – selbst in der Philanthropie hielt sich somit stets ein stark ausgeprägter Individualismus. In den USA erheben verschiedene Gruppen schon seit einigen Jahrzehnten vielfach Kritik an solchen Haltungen; Impulse, die laut Bosch zunehmend auch in Deutschland aufgegriffen würden. Problematisiert werde hierbei insbesondere die Vergabekontrolle, die Stifter:innen über ihr gespendetes Kapital haben. Diese erschwere es, die Spenden für Projekte einzusetzen, die gesellschaftliche Transformation herbeiführen könnten. Im Gegenteil reproduzierten die Geldschenkungen nicht selten soziale Strukturen, da Spender:innen die Welt durch ihren persönlichen Erfahrungskontext betrachteten, der jedoch immer nur einen unvollständigen Ausschnitt der Realität abbilde. Doch Bosch kann derweil ein Umdenken feststellen, flankiert etwa durch sog. Direct Giving-Plattformen; Spenden, die über solche Plattformen entrichtet werden, gelangen direkt und ohne zwischengeschaltete Stiftungen bei den begünstigten Institutionen, die frei über das Vermögen verfügen können. Das berge Potenziale für demokratische Philanthropie.

Dass solch transformative Entwicklungen in der Philanthropie tatsächlich nachhaltige, systemische Veränderungen herbeiführen, ist auch Odin Mühlenbein ein wichtiges Anliegen. Bei Ashoka, dem größten Netzwerk von Sozialunternehmer:innen, beteiligt er sich an der Erarbeitung entsprechender Strategien. Mühlenbein präsentierte einen bei Ashoka erarbeiteten Konsens, den Ethiker:innen, Menschen aus der Praxis und Hochvermögende gemeinsam entwickelten. Dieser zeige, ähnlich wie es die Ausführungen von Ise Bosch nahelegten, dass die Freisetzung des philanthropischen Potenzials vor allem durch die Ermittlung von Praktiker:innen in verschiedenen Tätigkeitsfeldern gelingen könne. Diese sollten über eine fundierte Expertise verfügen und Veränderungsbedarfe aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung, ohne den Einfluss der zwischen-geschalteten Geldgeber:innen, benennen. Wie es konkret aussehen kann, wenn zivilgesellschaftlich Engagierten große Gestaltungsspielräume ermöglicht werden, demonstrierte Irene Armbruster, die sich mit der Bürgerstiftung Stuttgart u.a. für die Belebung öffentlicher Räume einsetzt. Eines ihrer Leuchtturmprojekte verwirklichte die Stiftung gemeinsam mit Harry, einem ehemaligen Obdachlosen, der durch eine Essensausgabe eine ganze Bewegung startete, die einen einst unscheinbaren, öffentlichen Ort nun zu einem Treffpunkt von Menschen diverser Hintergründe und Biografien transformierte. Mehrere Organisationen hätten sich angedockt und den Platz zusätzlich belebt, etwa eine Boutique. Daran zeigt sich, dass es nicht nur Geldspenden, sondern ebenso soziale Interaktionen sind, die einen Gabe-Charakter haben können. So schenken Menschen in ihrem Engagement neben Geld vor allem Zeit und Wissen – drei Kerncharakteristika der Zivilgesellschaft, wie Lukas Niederberger in seinem Vortrag feststellte. Auch er wies auf die Gefahren des expandierenden Wirkens von Markt und Staat hin, welche mit ihren jeweiligen Handlungslogiken von Recht und Zwang, bzw. Tausch und Profit zunehmenden Druck auf die Zivilgesellschaft ausübten. Dabei sicherten gerade die vielen gesellschaftlichen Ehrenämter, ebenso wie die zumeist von Frauen verrichtete Care-Arbeit, das Bestehen der Gesellschaft.

Auf unterschiedliche Einstellungen zu ehrenamtlichem Engagement in Deutschland, Österreich und der Slowakei ging Karin Bachmann in ihrem Beitrag ein. So gelte es vielen Österreicher:innen im Vergleich zu ihren deutschen Nachbar:innen als selbstverständlicher, sich in die Gemeinschaft einzubringen. Während Deutsche den Einsatz im Ehrenamt eher als Kontaktbörse interpretierten, verstünden Österreicher:innen diesen oftmals als Kontaktpflege. Der österreichische Staat fördere zudem zivilgesellschaftlich Engagierte außergewöhnlich stark, nicht bloß durch emphatische Öffentlichkeitsarbeit, sondern ebenso durch diverse Aufwandsprämien und steuerliche Vergünstigungen. Eine ähnliche pro-ehrenamtliche Haltung zeige sich auch in der Slowakei. Während das Vertrauen in staatliche Institutionen eher gering sei, leisteten viele Slowak:innen durch zivilgesellschaftliches Engagement wichtige Beiträge für die Gesellschaft. Insbesondere für junge Menschen gebe es dabei auch praktische Motivationsgründe, da sie sich viele Kompetenzen, die im Bildungssystem vernachlässigt würden, auf diesem Wege aneignen könnten.

  1. Herausforderungen des Wandels

Ein wesentlicher Engagement-Zweig wird in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten wohl wegbrechen. So wies Dr. Christian Fischbach auf die große Rolle der Kirchen für den deutschen Sozialstaat hin, deren Mitgliederzahlen sich bis 2060 voraussichtlich halbieren werden. Dabei leisteten insbesondere Diakonie und Caritas essenzielle Beiträge für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Christof Weterhoven befasste sich in seinem Vortrag zwar nicht mit der Rolle der Kirche, jedoch mit dem Hintergrund eines besonderen Kirchturms. Dieser ginge auf eine Schenkung der Landshuter Bürger:innen zurück und passt somit in Westerhovens Forschung, der momentan zu den Stiftungen der bayerischen Mittelstadt promoviert. Dabei stellte Westerhoven fest, dass die Zwecke sämtlicher in Landshut aktiver Stiftungen, ob aus dem Mittelalter, der Renaissance oder Neuzeit, eine ungebrochene Aktualität haben und dass die Stiftungsanliegen somit nicht an bestimmte Zeiten und Epochen gebunden sind. Es gelang ihm gar, die Tätigkeiten sämtlicher Stiftungen in die gesamte Palette der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen einzuordnen – der globalen Nachhaltigkeitsagenda also, an der die Stiftungen somit, bewusst oder unbewusst, allesamt mitwirkten.

Das von Westerhoven untersuchte Beispiel Landshut bildet ein pars pro toto dafür, wie geschichtliche Entwicklungen aus dem Gabe-Kontext in die heutige Zeit fortwirken. Und während sich der Martinskirchturm in das materielle Erbe unserer Kultur einschreibt, ist es vielfach auch das immaterielle Kulturerbe, welches durch Stiftungen oder zivilgesellschaftliche Organisationen gefördert wird. Dr. Stefan Donath und Hella Dunger-Löper widmeten sich in ihrem Vortrag der Amateurmusik und verdeutlichten deren Relevanz am Beispiel eines der bedeutendsten Laienchöre unserer Zeit: Die Berliner Singakademie. Am 11. März 1829 dirigierte der junge Felix Mendelssohn Bartholdy in deren Konzertsaal die Matthäus-Passion des damals bereits in Vergessenheit geratenen Johann Sebastian Bach und initiierte somit eine der größten Revivals der Musikgeschichte. Es folgten Aufführungen der Johannes-Passion, des Weihnachtsoratorium und der Brandenburgischen Konzerte. So überrascht es nicht, dass jenes, über die Jahrhunderte gewachsene Notenarchiv, inzwischen zu den bedeutendsten der klassischen Musik zählt. Ohne zivilgesellschaftliche Laienchöre und Amateur-Musiker:innen, die bis heute überall in der Republik aktiv sind und das immaterielle Kulturerbe pflegen, wären diese kulturellen Schätze wohl den Mühlen der Zeit zum Opfer gefallen, von dem gemeinschaftsbildenden Effekt des gemeinsamen Musizierens ganz abgesehen.

Dass die Mühlen der Zeit niemals stillstehen, unterstrich Prof. Dr. Nils Otter in seinem Impuls zur Krypto-Philanthropie. Die Attraktivität der Krypto-Währungen speise sich insbesondere aus der sog. „Blockchain-Technologie“, die es ermögliche, Transaktionsdaten unveränderlich abzuspeichern, wodurch Währungsflüsse transparent nachvollziehbar seien. Das stärke das Vertrauen in digitales Geld, dessen Relevanz gegenüber den alten Währungen sukzessive zunehme. Da es zudem keine zentrale Kontrollinstanz wie eine Zentralbank gäbe, läge viel Demokratie-Potenzial in Krypto-Währungen, so Otter. Die nahe Zukunft birgt offenbar viele Veränderungen und auch Herausforderungen, von denen die Zivilgesellschaft besonders betroffen sein wird. Neben Transformationen auf struktureller Ebene werden ebenfalls die Notstände durch den Klimawandel den dritten Sektor absehbar fordern. Sara Merkes und Theres Zimmermann wiesen darauf hin, dass der Katastrophenschutz überwiegend ehrenamtlich getragen werde, weil die öffentliche Daseinsvorsorge in ein historisch gewachsenes Geflecht aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Kontexten eingebettet sei. Doch auch dieses Engagement unterliegt einem Wandel und drückt sich heute zunehmend in einem spontanbürgerschaftlichen Einsatz aus. In einem Forschungsprojekt wird die Katastrophenstelle der Freien Universität Berlin eine Metaanalyse durchführen, beispielsweise um die allgemeine Diversifizierung des Engagements genauer zu verstehen. Engagement sei grundsätzlich, so Prof. Dr. Guido Sprenger, für eine Demokratie notwendig. Sprenger warf aus ethnologischer Perspektive einen näheren Blick auf die Spezifika des Gabe-Transfers und fokussierte hierbei insbesondere die Gesichtspunkte von Identität und Alterität. Beide Elemente seien konstitutiv für Gaben. Hierbei sei es jedoch entscheidend, dass bei den Beteiligten der Gabe stets die identitätsstiftenden Momente gegenüber jenen der Alterität überwögen. Dazu bräuchten die Akteure entsprechend geteilte Konzepte, die eine zueinander empfundenen Unterschiedlichkeit überlagern müssten. Wenn sich die Gabe derart konstituiere, könne auch die Demokratie im permanenten Prozess hergestellt und in die Zukunft entworfen werden.

  1. Fazit

„Was hast Du, was Du nicht empfangen hättest?“ fragte Prof. Dr. Jürgen Werbick in seinem Abendvortrag im biblischen Rekurs auf den ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Obgleich der Tagungsschwerpunkt aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde, kann dieses Zitat als Grundtenor der Gabe-Tagung benannt werden. Wie Werbick konstatierte, existiere „kein Beginn der Leistung eines Individuums“, ab dem es zum eigenständigen Handeln und Schaffen überginge. Stattdessen hieße „selbst sein, teilnehmen zu dürfen.“ Dieses Grundverständnis steht nicht bloß der eingangs zitierten Sinnspruch-Ökonomie à la Leistung muss sich lohnen“ diametral entgegen, sondern kann zugleich den Kern zivilgesellschaftlichen Engagements in einer funktionierenden Demokratie bilden.

Philip M. Pankow studiert Politikwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin und ist studentischer Mitarbeiter im Programm Transnational Giving der Maecenata Stiftung.

[1] Die auf der Tagung vorgetragenen Referate werden im Sommer 2023 in der Online Schriftenreihe Opuscula der Maecenata Stiftung veröffentlicht.