Aktivitäten der Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbänden während des Krieges in der Ukraine
Eine Blog-Reihe unserer ukrainischen Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova
Gewerkschaften werden oft als Organisationen der Zivilgesellschaft bezeichnet. Vor allem dann, wenn wir über den “dritten Sektor” als Akteur jenseits von Markt und Staat sprechen, der den dritten Teil des sozialen Dialogs verkörpert und fähig ist, auf Verhandlungen über Gemeingüter Einfluss zu nehmen, also auf Fragen des öffentlichen Interesses. Natürlich gibt es strukturelle Unterschiede darin, wie Gewerkschaften aussehen, welche Rolle und welchen Einfluss sie in verschiedenen Ländern haben.
Obwohl viele Gewerkschaften in der Ukraine rechtlich Nachfolger der Gewerkschaften aus der Sowjetzeit sind, bedeutet dies nicht, dass ihre jetzigen Aktivitäten sich ausschließlich um die administrative Rolle der Verteilung von Sozialleistungen in Verbindung mit dem Arbeitsplatz drehen wie es früher der Fall war. Vielen alten “staatlichen” Gewerkschaften und unabhängigen Gewerkschaften gelingt es, in der unabhängigen Ukraine neue Identitäten anzunehmen und die Forderungen der ArbeitnehmerInnen sowie kritische Positionen zu bestimmten Gesetzen oder politischen Maßnahmen zu vertreten. In diesem Blog möchte ich über die Situation der Gewerkschaften in der Ukraine während des Krieges berichten: wie der Krieg ihre regulären Aktivitäten beeinflusst und vor welchen Herausforderungen sie stehen.
Bereits im März hat das ukrainische Parlament ein Kriegsgesetz verabschiedet, das die bestehenden Rechte der Gewerkschaften auf die Vertretung und den Schutz ihrer Mitglieder beschränkte. So wurde es den ArbeitgeberInnen beispielsweise gestattet, ArbeitnehmerInnen zu entlassen oder ihre Arbeitsverträge auszusetzen, ohne die Zustimmung der Gewerkschaft einzuholen, wie es bisher der Fall war.
Viele Gewerkschaften sahen diese Beschränkungen jedoch als unvermeidliche Erfordernis für den Krieg an und konzentrieren ihre Aktivitäten hauptsächlich auf humanitäre Missionen. Sie sammeln Spenden und leisten Hilfe, sowohl für ihre Mitglieder und deren Familien als auch für andere UkrainerInnen, die unter dem Krieg leiden. Wie Artem Tidva berichtet, der den Europäischen Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EPSU) in der Ukraine vertritt, haben viele Gewerkschaftsmitglieder ihren Arbeitsplatz bzw. ihr Zuhause verloren, da sowohl Unternehmen als auch Wohnhäuser durch den Beschuss zerstört wurden. Dank der Kommunikation zwischen den GewerkschaftsaktivistInnen und den Gewerkschaften in verschiedenen Regionen finden viele Menschen jedoch Hilfe und eine vorübergehende Unterkunft. Im Allgemeinen fanden seit Beginn des Krieges mehr als 350.000 Binnenvertriebene in den Freizeiteinrichtungen der Gewerkschaften, die dem ukrainischen Gewerkschaftsbund angehören, eine zeitweilige Unterkunft.
Häufig arbeiten die ukrainischen Gewerkschaften mit der internationalen Gewerkschaftsgemeinschaft und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Ausland zusammen. So hat der Internationale Gewerkschaftsbund einen Spendenaufruf gestartet, um Mittel zur Unterstützung der humanitären Arbeit der Gewerkschaften und Verbände, die dem Ukrainischen Gewerkschaftsbund und dem Bund Freier Gewerkschaften angehören, zu sammeln. Viele Gewerkschaften in den Nachbarländern (Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Moldawien) helfen den Mitgliedern der ukrainischen Gewerkschaften aus denselben Bereichen (Bau, Bergbau, Gesundheitswesen, Eisenbahn usw.) und ihren Familien bei der Evakuierung und Unterbringung oder schicken humanitäre Hilfe an diejenigen, die in der Ukraine bleiben, um ihren Dienst zu verrichten.
Ivanna Khrapko, Leiterin des Jugendrates des ukrainischen Gewerkschaftsbundes, berichtet, dass das Interesse und die Unterstützung der internationalen Partner in den ersten Kriegsmonaten beispiellos waren: “In den ersten Wochen begannen alle unsere Partnerorganisationen im Ausland uns zu schreiben und zu fragen, wo wir sind, wie es uns geht und wie sie uns helfen können. Und es war eine echte Herausforderung für uns, herauszufinden, um welche Art von Hilfe wir zuerst bitten sollten. Während dieser Zeit habe ich persönlich wirklich ein Gefühl dafür bekommen, was Solidarität bedeutet, was internationale Solidarität bedeutet und was die Stärke einer Gewerkschaft ausmacht.”
Als die Gewerkschaftsaktivisten zu ihren üblichen Aktivitäten wie der Organisation von Workshops und Schulungen zurückkehrten, wurde deutlich, so Khrapko, wie stark sich Themen und Fähigkeiten, die in ihren Schulungen behandelt werden müssen verändert haben: “Anstelle der üblichen gewerkschaftlichen Organisationsschulungen denken wir jetzt darüber nach, unsere Mitglieder in Erster Hilfe zu unterrichten, sie über mögliche Probleme zum Thema Menschenhandel aufzuklären, die sie beim Grenzübertritt haben könnten, und so weiter”.
Langsam kehren die Gewerkschaften auch zu ihrer Rolle als dritter Teil des sozialen Dialogs mit Staat und Wirtschaft zurück und richten einen kritischen Appell an die Verantwortlichen der neuen Gesetzesentwürfe, die weitreichende Änderungen des Arbeitsgesetzes vorschlagen. In einer öffentlichen Kampagne versuchten die Gewerkschaften, ihre Kräfte mit denen der europäischen Gewerkschaftsverbänden zu vereinen und wiesen auf die Unvereinbarkeit der Gesetzesentwürfe mit den Grundsätzen und Normen der EU-Gesetzgebung sowie auf Widersprüche zu den von der Ukraine ratifizierten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation hin. Während ich diesen Blog vorbereitete, verabschiedete die ukrainische Regierung die viel diskutierten Gesetzesentwürfe (Nr. 5161 über die Regulierung von atypischen Arbeitsverhältnissen und Nr. 5371 über die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen in kleinen und mittleren Unternehmen). “Obwohl viele Änderungen des Arbeitsgesetzes, die im Gesetz Nr. 5371 verabschiedet wurden, nur während des Kriegsrechts gültig sein werden, haben wir bereits Fälle beobachtet, in denen Arbeitgeber die Macht, die sie dadurch erhalten haben, missbraucht haben”, sagt Tidva vom EPSU.
Khrapko stimmt zu, dass die Möglichkeiten der Gewerkschaften, ihre Überwachungsfunktion im Bereich der Arbeitspolitik und des Arbeitsrechts zu erfüllen, im Moment sehr begrenzt sind. Der beste Weg für die Gewerkschaften, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, sind offizielle Appelle und Briefe an die Behörden. So wandte der ukrainische Gewerkschaftsbund sich in einer öffentlichen Erklärung an den ukrainischen Präsidenten und bat darum, gegen eines dieser Gesetze sein Veto einzulegen. Die ukrainischen Gewerkschaften wandten sich auch an ihre internationalen Partner, um eine gemeinsame öffentliche Kampagne als Reaktion auf die verabschiedeten Gesetze zu starten. “Unter den gegenwärtigen Umständen können wir keine Proteste gegen bestimmte Änderungen und Gesetzesvorlagen organisieren. Wir können jedoch in den Medien und in der Öffentlichkeit über deren Folgen sprechen”, fügt Khrapko hinzu.