MY COLLEAGUE FROM UKRAINE: Die Arbeit von freiwilligen Graswurzelinitiativen während des Krieges: Stellt die fehlende rechtliche Registrierung ein Problem dar? [Ausgabe 4]

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Die Arbeit von freiwilligen Graswurzelinitiativen während des Krieges: Stellt die fehlende rechtliche Registrierung ein Problem dar?

Ausgabe 4 | 01.07.2022

 

Eine Blog-Reihe unserer ukrainischen Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova

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Oftmals gehen starke zivilgesellschaftliche Organisationen aus Graswurzelinitiativen und Freiwilligengruppen hervor, die Menschen zusammengebracht haben, um dringende Probleme anzugehen oder bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse (zum Beispiel bei Naturkatastrophen usw.) in der Gesellschaft zu erfüllen. Sobald diese Ereignisse vorüber sind, können solche Initiativen eine Phase der Institutionalisierung und Professionalisierung durchlaufen und sich zu einer etablierten NGO (Non-Government-Organisation)  oder Stiftung mit langfristigen Zielen entwickeln. Genau dies ist mit vielen ehrenamtlichen Graswurzelinitiativen passiert, die während des Maidan in 2014 in der Ukraine entstanden sind.

Viele Menschen sowohl in der Ukraine als auch im Ausland (vor allem VertreterInnen der ukrainischen Diaspora) schlossen sich zunächst zusammen, um verschiedene Bedürfnisse der Protestbewegung auf dem Maidan zu erfüllen, und später, um der Armee und den Opfern des Konflikts in der Ostukraine zu helfen. Als der Bedarf dringender Hilfe abnahm, revidierten einige von ihnen die Ziele ihrer Aktivitäten oder formulierten neue Ziele. Sie setzten ihre Hilfe für die Ukraine auf nachhaltigere Weise fort, indem sie den Rechtsstatus einer NGO oder einer gemeinnützigen Stiftung erhielten. Dies war zum Beispiel die Geschichte der gemeinnützigen Stiftung ‚Razom for Ukraine‘, die aus einem Netzwerk aktiver UkrainerInnen, die während des Maidan in den USA lebten, hervorging. Aktuell stellt das Razom-Team Medikamente für Krankenhäuser und taktische Ausrüstung bereit und hilft bei der Evakuierung gefährdeter Bevölkerungsgruppen.

Auch eine ganze Reihe von Initiativen, die 2014 Binnenvertriebenen und Opfern der militärischen Aggression in der Ostukraine und auf der Krim halfen, entwickelten sich bald zu schlagkräftigen NGOs in diesem Bereich. Oft wurden solche Initiativen, die zu NGOs wurden, von den Binnenvertriebenen selbst gegründet. Vostok-SOS zum Beispiel, hilft seit Beginn des Krieges, für Binnenvertriebene eine Unterkunft zu finden, engagiert sich bei der Evakuierung von Menschen aus Konfliktgebieten, sammelt und verteilt humanitäre Hilfe.

Ich möchte aber auch auf die aktuellen Erfahrungen jener Graswurzelinitiativen und Freiwilligengruppen eingehen, die erst mit dem Beginn des Krieges entstanden sind. Der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, der im Februar dieses Jahres begann, hat zu einer noch nie dagewesenen Mobilisierung der Zivilbevölkerung in der Ukraine geführt. Zudem gibt es eine große Anzahl von Freiwilligengruppen und Graswurzelinitiativen, die die Initiativen einiger weniger Freunde oder Nachbarn mit einer viel größeren Anzahl von Menschen zu einem komplexen, miteinander verbundenen Netzwerk zusammenbringen.

In den meisten Fällen leisten solche Gruppen und Initiativen humanitäre und medizinische Hilfe für die Zivilbevölkerung, versorgen territoriale Verteidigungseinheiten mit Mitteln für die taktische Ausrüstung und unterstützen medizinische und soziale Einrichtungen sowie lokale Behörden bei der Evakuierung. In diesen Gruppen engagieren sich sowohl Menschen, die bereits in der einen oder anderen Form zivilgesellschaftlich aktiv sind, als auch solche, die erst zu Beginn des Krieges mit dem freiwilligen Engagement begonnen haben. Eines eint diese Initiativen: sie haben in der Regel noch keinen rechtlichen Status — sie sind nicht als NGO oder Stiftungen registriert.

Aber wird dies zu einem bedeutenden Hindernis für den Aktivismus während des Krieges? Welchen Herausforderungen stehen Freiwillige gegenüber, die humanitäre und medizinische Hilfe leisten oder Mittel zur taktischen Verteidigung kaufen, wenn sie nicht als eine NGO oder in einer anderen Rechtsform registriert sind? Wie lösen sie diese?

Nach dem wichtigsten Gesetz, das die Freiwilligentätigkeit in der Ukraine regelt – dem ukrainischen Gesetz “Über die Freiwilligentätigkeit” – ist die Freiwilligentätigkeit eine freiwillige, uneigennützige, sozial orientierte, gemeinnützige Tätigkeit, die von Freiwilligen und Organisationen in Form von freiwilliger Hilfeleistung ausgeübt wird. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass das Gesetz Freiwillige vor allem als diejenigen beschreibt, die sich freiwillig an Aktivitäten bestehender (öffentlicher, privater, nichtstaatlicher) Organisationen und Institutionen beteiligen. Dies kann auf der Grundlage einer Vereinbarung oder ohne eine solche geschehen. Freiwillige Tätigkeiten (“freiwillige Hilfe”) können auch individuell ausgeübt werden, ausgenommen ist jedoch die freiwillige Hilfe bei der Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen oder bei der Durchführung öffentlicher Massenveranstaltungen von “nationaler und internationaler Bedeutung”. Freiwillige Hilfeleistung für die Streitkräfte, die Polizei und andere Strafverfolgungsbehörden sowie die staatlichen Behörden ist einzelnen Freiwilligen nur während der gesetzlichen Regelungen des Ausnahmezustands oder des Kriegsrechts, einschließlich Anti-Terror-Operationen und anderer Maßnahmen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit und Verteidigung, gestattet.

Daria R. startete ihr freiwilliges Engagement während der ersten Kriegsmonate, als ein guter Freund von ihr, der in  die Einheit der Territorialverteidigung ihrer Stadt eintrat, dringend eine Schutzweste benötigte. Um ihm zu helfen, wandten sich Daria R. und ihr Partner an eine gemeinnützige Stiftung, die die Bedürfnisse der einzelnen Freiwilligen sammelte und die Schutzwesten und Helmen im Ausland kaufen konnte. Auf diese Weise gelang es Daria, ihrem Freund zu einer Weste zu verhelfen. Danach begannen sie zusammen mit einen weiteren Freund, mehr Menschen zu helfen, die ähnliche Probleme hatten – diese standen kurz vor dem Eintritt in die territoriale Verteidigungseinheit oder die Armee und es fehlte ihnen an bestimmten Ausrüstung wie Helmen, Westen, Handschuhen usw. Wie viele andere kleine Aktivistengruppen begannen sie, die Bedarfe dieser Menschen zu sammeln und Geldmittel für den Kauf zu beschaffen. Sie arbeiteten dabei mit verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen und anderen Freiwilligen zusammen, um diese Güter aus dem Ausland zu holen und die bestellten Artikel an die Bedürftigen zu verteilen.

Eine der größten Herausforderungen im Zusammenhang mit solchen Kooperationen ist laut Daria der Zeitfaktor. Im Gegensatz zu einzelnen Freiwilligen können die großen zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht immer schnell reagieren, da sie einen hohen bürokratischen Aufwand betreiben müssen. Dies verlangsamt den Prozess der Beschaffung der benötigten Gegenständen. Daria zufolge können die Freiwilligen  bei ihren Aktivitäten deswegen diejenigen Tätigkeiten, die sie selbst ausführen können (ohne Zusammenarbeit mit NRO oder Stiftungen), oft schneller erledigen als große, gesetzlich eingetragene Organisationen.

Serhii M. ist Aktivist in einer größeren Graswurzelinitiative, die Dutzende von AktivistInnen in Kyiv und Lwiw vereint — sie nennen sich ‚Kollektive der Solidarität‘ (bis vor kurzem — Operation Solidarität). Die Gruppe beschreibt sich selbst als “antiautoritäres Freiwilligennetzwerk, das während des Krieges organisiert wurde, um allen fortschrittlichen Kräften in der Gesellschaft gemeinsam zu helfen, der imperialistischen Aggression gegen die Ukraine entgegenzuwirken”, und begann ihre Aktivitäten im März 2022. Dazu gehören neben der Beschaffung von Hilfsgütern und Geldern für den Kauf und der Lieferung von humanitärem Gute, militärischer Ausrüstung und medizinischer Versorgung für die territorialen Verteidigungseinheiten und ihre Familien, auch die Hilfe für geflüchtete Menschen und die Unterstützung anderer progressiver Graswurzelinitiativen. Kollektive der Solidarität ist nicht als NGO registriert.

„Es scheint kein Problem zu sein, weil jeder irgendwie seine Sache hinbekommt”, sagt Serhii. “In der Tat gibt es eine Menge Dinge, die man tun darf, ohne eine offiziell registrierte NGO zu sein. Man braucht keinen legalen Status, um Lebensmittel in ein Dorf zu bringen und den Menschen dort zu helfen. Andererseits werden wir oft gefragt, ob man einen Freiwilligenausweis oder eine Bescheinigung hat. Dies kann von der Polizei in der Stadt oder von MitarbeiterInnen, die den Übergang von Straßensperren oder den Zoll kontrollieren, verlangt werden”.

Dieser Freiwilligenausweis kann nur von Freiwilligen erworben werden, die ihre Tätigkeit in bestehenden Organisationen und Einrichtungen ausüben, nicht aber von einzelnen Freiwilligen oder selbstorganisierten kleinen Aktivistengruppen. Der Grund dafür ist, dass es eine juristische Person geben muss, die eine solche Bescheinigung ausstellt und der die Identität des Freiwilligen und die Art der von ihm ausgeübten Freiwilligentätigkeit innerhalb der Organisation bescheinigt. Serhii schätzt, dass die einzige Möglichkeit für Freiwillige, eine solche Bescheinigung zu erhalten, darin besteht, sich einer NGO anzuschließen, auch wenn sie ihre Aktivitäten in den meisten Fällen individuell durchführen.

Weiter gibt es noch andere Gründe für Graswurzelinitiativen mit etablierten NROs zusammenzuarbeiten. Sowohl Daria als auch Serhii berichten davon, dass viele Stiftungen nur registrierten Organisationen finanzielle Unterstützung oder Hilfe beim Transport gewähren können – da sie nur so Unterlagen für die Finanzberichte vorlegen können. Außerdem unterstreicht Serhii die Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit für die Zwecke der Zollkontrolle. “Derzeit ist es erlaubt, humanitäre oder medizinische Hilfe oder taktische Ausrüstung in die Ukraine zu bringen, entweder für konkrete militärische oder territoriale Verteidigungseinheiten oder für registrierte NGOs oder gemeinnützige Stiftungen“ daher sei es sehr wichtig für eine Graswurzelinitiative, die die Hilfe im Ausland erwirbt, zu diesem Zweck mit einer NGO verbunden zu sein.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Zusammenarbeit mit Freiwilligen und AktivistInnen im Ausland. Wer jetzt in die Ukraine reisen möchte, um beispielsweise Hilfsgüter zu bringen oder als Freiwillige in den Unterkünfte für Binnenvertriebene zu arbeiten, muss eine Einladung erhalten. Schon vor dem Krieg hatten die Grenzbeamten trotz der Visafreiheit für viele Länder das Recht, AusländerInnen bei der Einreise in die Ukraine nach dem Zweck ihres Besuchs zu fragen und Dokumente zu verlangen, die diesen Zweck belegen. AusländerInnen dürfen nach ukrainischer Gesetzgebung nur über bestehende Organisationen und Institutionen ehrenamtlich tätig werden. Wenn sich also Personen aus dem Ausland einer Graswurzelinitiative in der Ukraine anschließen möchten, müssen sie eine registrierte NGO finden und den Großteil ihrer Freiwilligenarbeit dieser widmen.

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