Eine Blog-Reihe unserer ukrainischen Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova
In diesem Blog werde ich über die Aktivitäten ukrainischer NGOs und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen im Kulturbereich während zu Zeiten des Krieges berichten. Wie ich bereits in den vorherigen Blogs erwähnt habe, zwang der Krieg viele CSOs in der Ukraine dazu, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit vorübergehend zu ändern oder zumindest einige zusätzliche Aktivitäten als Reaktion auf die aktuelle Situation hinzuzufügen.
Auch AktivistInnen aus dem kulturellen Bereich sind davon nicht ausgenommen. Verschiedenste kulturelle NGOs haben zahlreiche Initiativen zur Unterstützung der Kultur- und Kunstschaffenden in Kriegszeiten gestartet, viele widmen ihre Zeit der Hilfe für die Zivilbevölkerung vor Ort oder dem Kauf und der Lieferung von Medikamenten und taktischen Hilfsgütern.
Ich beginne mit den verschiedenen Kulturinitiativen aus Mariupol, einer Stadt, die seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar mit den schlimmsten Verwüstungen konfrontiert wurde und in der nach vorläufigen Schätzungen ukrainischer Behörden etwa 20 000 Zivilisten getötet wurden. Die Stadt, deren Infrastruktur, darunter auch das Akademische Regionale Dramatheater, nun praktisch zerstört ist, hatte 2021 den Status der Großen Kulturhauptstadt der Ukraine. Eben genanntes Theater diente zeitweise als Schutzbunker für schätzungsweise 600 Zivilisten und wurde im März bei einem russischen Luftangriff zerstört.
Die Plattform “Tu” ist eine Kunstplattform in Mariupol, deren Geschichte 2015 begann, als einige der zukünftigen Mitglieder der Organisation aus den besetzten Regionen Donezk und Luhansk in die Stadt flohen. Die NGO wurde in 2016 registriert und arbeitet seitdem an der Förderung von Menschenrechten und Freiheit durch Kultur und zeitgenössische Kunst, indem sie eine Reihe von Projekten realisiert: Kunstresidenzen (u.a. Woven network/Women’s network, das sich mit der Pandemie und der massenhaften Abriegelung des kulturellen Bereichs während der Lockdowns befasst), Workshops und ein Kunstcluster Os` — ein Projekt für die Jugendlichen von Mariupol, das auf eine stärkere Einbeziehung junger Menschen in das kulturelle Leben der Stadt abzielt.
Da der Krieg im Februar 2022 zum zweiten Mal nach Mariupol kam, richtete die Plattform “Tu” einen Emergency Fund ein. Sie ließ damit Menschen, die aus der Stadt geflohen waren, einmalige finanzielle Unterstützung zukommen. In besonderer Weise wurden dadurch die Familien von Jugendlichen, die Mitglieder des Os` Kunstcluster sind, unterstützt sowie Menschen, die während des Beschusses oder der Evakuierung verletzt wurden, Menschen mit Behinderungen und Familien mit Kindern.
“Freefilmers” ist eine Kinobewegung und NGO, die unabhängige Filmschaffende in der Ukraine, insbesondere in der Ostukraine, und die Dezentralisierung des kulturellen Prozesses fördert. Ihr Ziel ist es, “Filme zu machen, die so aufmerksam und sensibel wie möglich auf die Realität reagieren und deren Hauptaugenmerk auf dem menschlichen Leben und dem Kampf für Gleichheit und Freiheit liegt”. Die Organisation, die mit der Plattform “Tu” zusammenarbeitet, wurde in Mariupol gegründet, wobei einige aktive Mitglieder auch in anderen ukrainischen Städten leben. Seit Beginn des Krieges hat sich das Team der “Freefilmers”, deren Mitglieder aus Mariupol geflohen sind und nun in verschiedenen Städten leben, neu organisiert, um vielfältige Unterstützung zu leisten, die sich nicht nur auf Künstlerkreise beschränkt. Neben der Unterstützung der vom Krieg betroffenen Underground-KünstlerInnen und Queer-AktivistInnen auf einer horizontalen Basis gegenseitiger Hilfe, hilft die Organisation beim Kauf und der Lieferung humanitärer Güter, Medikamente und medizinischer Ausrüstung in die am stärksten vom Krieg betroffenen Regionen. Ebenso organisiert sie den Transport geflüchteter Menschen in sicherere Orte, unterstützt Krankenhäuser und Freiwilligenzentren. “Freefilmers” sammelt u.a. Spenden zur Unterstützung dieser Aktivitäten.
Wenn wir uns der Zentralukraine zuwenden, sollten wir das kulturelle Gemeinschaftszentrum Shelter+ erwähnen, dass in der Industriestadt Krywyj Rih zu Hause ist. Diese NGO sieht ihre Aufgabe in der “Schaffung eines Umfelds, in dem sich Menschen unabhängig von Alter, Glauben, Nationalität, sozialem und finanziellem Status frei und sicher fühlen können”. Seit 2020 hat Shelter+ verschiedene Projekte in den Bereichen Kunst, Sport und politische Bildung durchgeführt, die sich vor allem an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene richten. Nun hat sich die Organisation zu einem Freiwilligenzentrum entwickelt, das Binnenvertriebene verschiedene Hilfen anbietet, einschließlich kurzfristiger Unterbringung und psychologischer Unterstützung. Sie versorgt bedürftige Menschen und Kinderheime in Krywyj Rih und den umliegenden Städten sowie in den besetzten Städten und Dörfern der Region Cherson mit Medikamenten, Lebensmittel u.ä.. Darüber hinaus organisiert Shelter+ die Evakuierung von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien und hilft ihnen, in anderen Ländern eine ihren Bedürfnissen entsprechende Unterkunft zu finden. Auch Shelter+ finanziert sich durch Spenden.
Zahlreiche Kyjiwer Kulturorganisationen haben ihre Arbeit aufgrund der Herausforderungen, die der Krieg mit sich gebracht hat, ebenfalls neu ausgerichtet.
Das gilt zum Beispiel für die Kyiv Contemporary Music Days – eine NGO aus dem Musikbereich. Seit 2015 hat diese Organisation hunderte von Vorträgen und Meisterklassen für KomponistInnen und MusikerInnen durchgeführt. Ebenso veranstaltete sie für ein breiteres Publikum viele internationale Festivals und Konzerte für Kammer- und Orchestermusik sowie elektroakustische Musik. Die Organisation sieht ihre Aufgabe darin, die Gemeinschaft der MusikerInnen zu fördern, das Ökosystem der modernen akademischen Musik weiterzuentwickeln und neue Formate und Möglichkeiten für die künstlerische Ausbildung, die professionelle Interaktion und die Realisierung von Projekten der Kunstschaffenden zu ermöglichen.
Nach Ausbruch des Krieges richtete diese NGO einen Fonds zur Unterstützung klassischer MusikerInnen ein, insbesondere für ältere und MusikerInnen mit Behinderungen, für MusikerInnen, die ihre Arbeit verloren haben, und für solche, die aus der Ukraine fliehen mussten. Diese Unterstützung umfasst die Befriedigung der grundlegendsten Bedürfnisse wie die Gewährleistung eines minimalen Lebensstandards und gewisse Sicherheiten: Lebensmittel, Medikamente und eine Unterkunft sowie eine einmalige finanzielle Unterstützung. Darüber hinaus versucht die Organisation, den MusikerInnen zu helfen, ihre Musikpraxis aufrechtzuerhalten, indem sie ihnen eine kleine finanzielle Unterstützung gewährt, damit sie im Falle eines Verlustes ein preiswertes Instrument kaufen und ihre Instrumente in ausreichendem Zustand erhalten können.
Die Kyjiwer Biennale ist ein Projekt, das von der NGO Visual Culture Research Center als internationale Biennale für zeitgenössische Kunst ins Leben gerufen wurde. Sie findet seit 2015 alle zwei Jahre in Kyjiw statt und ist ein Forum für Kunst, Wissen und Politik, das Ausstellungen und Diskussionsplattformen miteinschließt. Zu Beginn des Krieges hat die NGO die Emergency Support Initiative (ESI) gegründet, um die Mitglieder der kulturellen und künstlerischen Gemeinschaft auf vielfältige Weise zu unterstützen. Während das Hauptziel der ESI darin besteht, sofortige finanzielle Unterstützung zu leisten, um die Grundbedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die aufgrund des Krieges umgesiedelt werden mussten und die in den von der russischen Armee besetzten Städten zurückgeblieben sind, unterstützt sie auch Kunstresidenzen in der Ukraine, die ihre Kapazitäten erweitert haben, um Geflüchtete aufzunehmen.
Schließlich möchte ich auch eine relativ neue Initiative erwähnen, die während des Krieges entstanden ist. Das Museum Crisis Center – ist eine Graswurzelinitiative, die von der Direktorin des in Lemberg ansässigen Gedenkmuseums für totalitäre Regime “Territorium des Terrors” entwickelt wurde und von ebendiesem Museum in Kooperation mit zwei NGOs umgesetzt wird: Insha Osvita und Neues Museum. Die Initiative zielt darauf ab, kleine regionale Museen und ihre Teams in Kriegszeiten finanziell, organisatorisch und personell zu unterstützen. Da sich die staatliche finanzielle Unterstützung auf nationaler Ebene immer noch hauptsächlich auf die großen nationalen Museen und den Erhalt ihrer Sammlungen konzentriert, sehen sich kleinere Museen in kleineren Städten und Dörfern mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Die lokalen Behörden sind nicht immer in der Lage ihnen zu helfen, da die Mittel in den lokalen Haushalten fehlen. Hier setzt die Arbeit des Museum Crisis Center an. Es versucht solchen regionalen Museen in dieser schwierigen Zeit helfen und eine stabile Graswurzelstruktur zu entwickeln, die die Museen im Prozess der Wiederherstellung nach dem Krieg stärken kann. Zudem soll eine solche Struktur als ein Instrument gegenseitiger Unterstützung zwischen Museen und NGOs in diesem Bereich dienen – auch in etwaigen Krisensituationen nach dem Krieg.