Teil 1: Die französische Zivilgesellschaft in Zeiten der Pandemie // Teil 2: Die Situation von queeren Civil Society Organisationen nach der Rosenrevolution (2003) in Georgien

Opusculum 163 | 09.06.2022 | Zweiteiliges Doppelobservatorium |

Unser Opusculum 163 setzt sich aus zwei einzelnen Arbeiten zusammen:

  • Teil I wurde von Lino Eden verfasst und trägt den Titel „Die französische Zivilgesellschaft in Zeiten der Pandemie
  • Teil II wurde von Marcel Willi Wilkens verfasst und trägt den Titel „Zivilgesellschaft zwischen Tradition und Aufbruch: Die Situation von queeren Civil Society Organisationen nach der Rosenrevolution (2003) in Georgien

Im folgenden haben wir für Sie die Übersichtstexte beider Teile bereitgestellt. Das gesamte Opusculum finden Sie wie immer oben als Pdf-Datei zum Download.

Übersichtstext Teil I (Lino Eden): Die französische Zivilgesellschaft in Zeiten der Pandemie

Im Rahmen der Corona-Pandemie wurde die Zivilgesellschaft stark beansprucht und je nach Funktion unterschiedlich in die Krisenbewältigung einbezogen. Als Dienstleister wurde sie zu Beginn der Krise insbesondere im Gesundheits- und Pflegesektor als wichtiger und wesentlicher Partner bei der unmittelbaren Krisenbewältigung anerkannt. Auch spielte die gemeinschaftliche Selbsthilfe innerhalb der Gesellschaft eine zunehmend entscheidende Rolle. In ihrer Funktion als Gemeinschaftsbilder ergab sich die besondere Herausforderung, die nötige Solidarität ohne soziale Kontakte aufzubauen und zu erhalten, wodurch insbesondere Kreativität aber auch digitales Know-How gefragt waren. Diese Aufgaben und Herausforderungen waren in Deutschland und Frankreich ähnlich.

Unterschiedliche Tendenzen lassen sich vor allem im Eigenverständnis der Zivilgesellschaft in ihren Funktionen erkennen: Die überwiegend in Vereinen organisierte französische Zivilgesellschaft scheint sich als Gemeinschaftsbilder und Themenanwalt zunehmend von innen zu stärken und ihren Platz als gesellschaftlich notwendige Alternative zwischen Staat und Markt zu beanspruchen, während sie im Bereich der Dienstleistungsfunktion aufgrund der Nähe zum Staat und der Konkurrenz des Privatsektors kaum eine eigene Identität entwickelt hat. Verglichen mit Deutschland lässt die politische und akademische Anerkennung des französischen Dritten Sektors insgesamt zu wünschen übrig.

Neben der zivilgesellschaftlichen Aufgabe, als Dienstleister einen Hilfebeitrag zu leisten und als Gemeinschaftsbilder unter starken Einschränkungen mittels Solidarität das gesellschaftliche Verständnis für die Maßnahmen zu stärken musste sie zeitgleich ihrer Funktion als Wächter nachgehen und gerade diese Maßnahmen kritisch hinterfragen. In Deutschland wurde dieser komplexe Spagat dadurch erschwert, dass die kritische Perspektive auf staatliches Krisenmanagement gerade von der unzivilen Seite der Zivilgesellschaft monopolisiert wurde. In Frankreich waren solche Meinungen und Bewegungen zwar ebenfalls vorhanden, durch die schärferen Beschränkungen jedoch deutlich weniger präsent und mediatisiert. Im öffentlichen Diskurs entstand jedoch kaum Platz für zivilgesellschaftliche Akteure, die kritisch, aber loyal gegenüber den Grundsätzen einer freiheitlichen Demokratie sind und es ist beiden Ländern nicht gelungen, die Zivilgesellschaft in die Entscheidungsprozesse beim Umgang mit der Pandemie zu integrieren und als Partnerin auf Augenhöhe zu betrachten.

Übersichtstext Teil II (Marcel Willi Wilkens): Zivilgesellschaft zwischen Tradition und Aufbruch: Die Situation von queeren Civil Society Organisationen nach der Rosenrevolution (2003) in Georgien

Georgien war seit dem Einmarsch der roten Armee im Februar 1921 Teil der Sowjetunion und ist seit 1991 unabhängig. Die Republik Georgien kämpft seit ihrer Gründung zu Beginn der 1990er mit Korruption und Machtmissbrauch. Die Rosenrevolution (2003) resultierte aus der Unzufriedenheit der Georgier*innen mit der Regierung und führte zu einem Regimewechsel. Der Dritte Sektor in Georgien wurde zum einen von den politischen Umbrüchen beeinflusst, zum anderen nahmen CSOs auch Einfluss auf die politischen Strukturen des Landes. In der der Zeit der Georgische Sozialistische Sowjetrepublik erlebte die Zivilgesellschaft in Georgien ihre Wiedergeburt mit der Liberalisierung des sow-jetischen kommunistischen Regimes in den späten 1980er Jahren. Nach der Unabhängigkeit des Landes von der UdSSR begannen sich die demokratischen Länder Europas und Amerikas für die Förderung der Zivilgesellschaft in Georgien zu interessieren, wodurch Personen und Gruppen der georgischen Gesellschaft Zugang zu neuen Ressourcen für ihre Initiativen erhielten. Somit sich veränderte das Umfeld für zivilgesellschaftliche Aktivitäten in Georgien drastisch und entstanden CSOs, die hauptsächlich von der finanziellen Hilfe westlicher Organisationen abhängig waren. Diese Organisationen hatten einen Einfluss auf die Gesellschaft und trugen somit einen Teil zum Sturz der Regierung (2003) bei. Nach der Rosenrevolution zog die neue Regierung viele talentierte und qualifizierte Mitarbeiter*innen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen ab, wodurch die Bedeutung von CSOs in Georgien erneut abnahm. Der pro-europäische Oppositionspolitiker Saakaschwili, der nach der Rosenrevolution Präsident des Landes wurde, gab das Amt nach einer Wahlniederlage 2013 an die Partei „Georgischer Traum“ ab, die aus marktwirtschaftlich und pro-westlich eingestellten Liberalen, aber auch Nationalisten mit populistischer und fremdenfeindlicher Rhetorik besteht.

Die Situation von queeren Menschen und Organisationen in Georgien war in diesen Jahren stehts schwierig. 2021 wurde eine geplante Pride-Parade in der georgischen Hauptstadt Tblisi abgesagt. Die Organisator*innen warfen der konservativen Regierung (Georgischer Traum) vor, sie nicht vor queerphoben Angreifer*innen zu schützen. Am Tag zuvor hatten Angreifer das Büro der Pride-Vereinigung im Stadtzentrum gestürmt und Journalist*innen angegriffen. Medienberichten zufolge wurden mindestens 20 Menschen verletzt, darunter ein Tourist, der mit einem Messer angegriffen und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Gegendemonstrant*innen, die bereits vor der Pride Parade mit ihrem Protest begannen griffen gewalttätig Journalist*innen an, die über die Veranstaltungen berichteten. Zuvor hatte der georgische Premierminister die Parade als „unangemessen“ bezeichnet, da Zusammenstöße zu erwarten gewesen seien.

Die organisierten Attacken auf die Veranstaltung und die Reaktion von führenden Politiker*innen werfen die Frage auf, in welchem gesellschaftlichen Kontext queere Civil Society Organizations (CSOs) in Georgien arbeiten. Es wird deutlich, dass diese CSOs, obwohl sie rechtlich legitimiert sind, durch ihre ausländische Finanzierung gesellschaftlich nicht anerkannt werden. Sowohl die konservative Werteauslegung der Regierung als auch die starke Rolle der orthodoxen Kirche führen dazu, dass diese CSOs in einem Spannungsfeld zwischen Queerfeindlichkeit und großen Bedarf der Leistungen arbeiten.

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