Systemischer Reset, jetzt! 20 Einwürfe zu Zivilgesellschaft und Bürgerwissenschaft

Opusculum 154 | 21.06.2021 | Die folgenden 20 Einwürfe sind ein Vorschlag für einen systemischen Reset, eine Reform an Haupt und Gliedern. Dies erfolgt mit Blick auf die Defizite der europäischen Aufklärung, ihre nicht zu Ende gedachten oder veralteten Denkmuster, ihre historischen Fehler.

1. Einstieg: Gerade oder Kreis?

Die Aufklärung hat bei den davon „erleuchteten“ Menschen Europas und ihren Auswanderern auf den amerikanischen Kontinent oder andere Erdteile eine Hybris erzeugt, die Vorstellung von Machern, fast Übermenschen oder eines Homo superior im Nietzsche’schen Sinne, mit wenig Respekt für andere Völker. Europäischer Aufklärungsgeist wurde ihnen übergestülpt. Das ist eine der größten Verfehlungen der Aufklärung und steht im Widerspruch zu ihr. Lineares Denken von Optimierung, Herrschaft und Macht stieß auf zyklisches, in die Natur eingebundenes Denken indigener Gesellschaften und versuchte es zwanghaft zu begradigen. Das Kreisbild erweckt Assoziationen von kreisförmig-spiraligen Abläufen, also eher natürlicheren, als die auf einer aufwärts gerichteten Geraden voranschreitenden. Und überhaupt, wie definiert sich aufwärts?, fragt sich nicht nur der Philosoph.

Wie sehr wir an Linearität gewöhnt sind als tradiert-eurozentristisches Kulturverhalten, zeigen Beispiele von der Misereor Lateinamerikakonferenz Anfang 2020 in München1. Dort berichtete der Ethnologe Volker von Bremen von seinen Erlebnissen, als er in der Gran Chaco Savanne in Brasilien mit einheimischen Stämmen zusammen lebte. So wie sie kein Privateigentum kennen, besitzen sie auch kein Geld und haben keinerlei Vorstellung von seinem Wert. Eine Banknote ist für sie ein unbedeutendes Stück Papier. Ob es sich verbrennen ließe, fragten sie den Deutschen. Schweren Herzens entschloss sich von Bremen, Reste seines deutschen Geldes anzuzünden, um damit Solidarität mit dem Denken und Empfinden seiner Gastgeber zu zeigen.

Der Hamburger Anthroposoph Mayu Supa Stölben hat Quechuawurzeln. Auf der Misereor Konferenz berichtete er aus der peruanischen Inkawelt, in der jeder Gegenstand, jeder Stein eine Seele hat und alles miteinander zirkulär in Verbindung steht, vor der spanischen Conquista ebenso wie auch heute noch. Das klingt mythologisch, für manche befremdlich, nach Spuk und Zauber, hat aber durchaus wissenschaftliche Tiefen. Die ebenfalls weiterhin rätselhafte Quantenmechanik liefert experimentell gewonnene Hinweise, dass alle Elektronen miteinander verbunden sind und kommunizieren, sogar überlichtschnell. Vielleicht werden sich eines Tages ethnologisch gewachsenes, naturkundliches Denken und moderne Wissenschaft wieder aufeinander zubewegen und einander ergänzen, anstatt wie heute schroff und unversöhnlich aufeinander zu prallen.

Der bis heute anhaltende, möglicherweise sich sogar verschärfende Zusammenstoß der Kulturen schürt Konflikte, interne ebenso wie externe. In kleineren Konferenz-Breakout-Workshops berichteten in Deutschland Studierende aus Bolivien und Peru, Ländern mit starken indigenen Anteilen in ihren Populationen, von großen Identitätsproblemen und ihrem Hin- und Her Gerissen-Werden zwischen den Kulturen. Teilnehmende mit negativen Erfahrungen mit der katholischen Kirche in ihren Heimatländern und deren Gender- und Sexualmoral verglichen den christlichen Gott gar mit einer Teufelsfigur. Diese belastende Kultur- und Religionsgeschichte mit ebenfalls großen Anteilen der europäischen Aufklärung setzt freilich auch neue Impulse frei. So sind die Wayuu an Kolumbiens Karibikküste zur Vorwärtsverteidigung mit einer Verschmelzung aller Komponenten angetreten. Ihre Frauen pflegen intensiv ihre Stammestraditionen und zeigen sich gleichzeitig internet-affin mit einer eignen Wikipedia, der „Wikiakua‘ipa“2.

Am kolumbianischen Amazonashafen Leticia, dem Dreiländereck mit Brasilien und dem nahen Peru, sind indes indigene und westliche Frauen kaum mehr zu unterscheiden. In Kleidung und Umgangsstil, womöglich bald auch nicht mehr sprachlich an dieser internationalen Drehscheibe des Handels und Verkehrs. Nicht nur einheimische Sprachen sterben wie die Arten der Natur das auch im noch über 60 indigene Sprachen zählenden Kolumbien. Mit dem Voranschreiten der Globalsprache Englisch werden sie von vielen Einheimischen freiwillig und als altmodisch aufgegeben (selbst in Deutschland, Plattdeutsch etwa wird in Norddeutschland in immer kleineren Zirkeln gepflegt, Bayerisch genießt an Münchner Schulen nur noch eine Randexistenz).

Einheimische Idiome wie auch Dialekte werden dem Englischen geopfert, wie der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke seit langem mit Nachdruck beanstandet. Sie hobelt nicht nur in der Wissenschaft die idiomatischen Feinheiten, Nuancen individueller Sprachen und damit Präzision weg ein in der Tat enormer Kulturverlust. Aber ohne das Beherrschen von Englisch ist man auf internationalen Konferenzen und in internationaler Kommunikation verloren. Die Sprache ist mehr denn je eine entscheidende globale Klammer. Dies ist, positiv gewendet, vielleicht der größte Sieg der Aufklärung, je nach Sichtweise auch ihr größtes Menetekel: Englisch als trojanisches Pferd?

 

1 Kolumbien Aktuell (2020, Nr. 111): Vamos! S. 31 f. URL: https://www.beca-konder-stiftung.de/wp- content/uploads/2020/04/Kolumbien_aktuell_111_April_2020_web.pdf (Stand 28.04.2021).
2 Wikiakua’ipa: Wikipedia en wayuu. Edita por las mujeres de la comunidad (editiert von den Frauen der Gemeinde). URL: https://impactotic.co/wikiakuaipa-la-wikipedia-en-wayuu/ (Stand 28.04.2021).