Observatorium 52 | 15. Juli 2021 | Publikation zur digitalen Fachveranstaltung „Die Funktion der Zivilgesellschaft in Berlin während und nach der Pandemie“ am 9. Juli 2021, 16.00-18.00 Uhr.
Die Pandemie hat alle gesellschaftlichen Bereiche getroffen, die Zivilgesellschaft aber besonders. Warum? Sie wurde einerseits in ihrer Arbeit stark eingeschränkt, teils sogar stillgelegt. So konnten Veranstaltungen der in Berlin mehr als 25.000 eingetragenen Vereine, Verbände und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht mehr stattfinden. Oder denken wir nur an die zahlreichen Sportvereine – allein in Berlin sind es rund 2.500, die ihre Aktivitäten einstellten. Reguläre innerorganisatorischen, demokratischen Grundsätze und bewährte Praktiken wie Vorstands- oder Mitgliederversammlungen konnten nicht mehr in der gewohnten Weise realisiert werden. Besonders waren die traditionellen Engagementformen in und außerhalb der Organisationen eingeschränkt oder entsprechende Aktivitäten kamen sogar ganz zum Erliegen. Auch fühlten sich Mitarbeiter und Engagierte in der Pandemie oft alleingelassen. Unter dem Eindruck, dass ihre Tätigkeit mehr oder weniger kommentarlos wegfiel, machte sich hier ein gewisser Frust breit.
Die Leistungen, Potentiale und Ressourcen der Zivilgesellschaft sind unverzichtbar
Dennoch reagierten zahlreiche Organisationen, deren Mitarbeiter und ehrenamtlich Engagierte sehr initiativreich und intensiv. Sie realisierten ihre bisherigen und neu entstehende Aufgaben unter den veränderten Bedingungen. Sicher sind z.B. die vielen Aktivitäten im Sinne der spontanen Nachbarschaftshilfe und Unterstützungsleistungen für Hilfebedürftige in Erinnerung. Zahlreiche Organisationen veränderten ihre Arbeitsweise, indem sie von „Komm-Strukturen“ auf „Geh-Strukturen“ umstellten, d.h. das Hilfebedürftige nicht mehr in die Einrichtungen kamen, sondern von den Betreuern zu Hause aufgesucht wurden. Insgesamt agierten die zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Corona-Pandemie zumeist sehr umfassend. Sie haben dringlich erforderliche Leistungen erbracht und vielfältige Zeichen der Solidarität gesetzt. Es zeigte sich eindrucksvoll, dass die Aktivitäten, von zivilgesellschaftlichen Organisationen und den dort Beschäftigten und Ehrenamtlichen unverzichtbar sind. Und das nicht nur im Gesundheitswesen oder bei der Pflege und Betreuung.
Veränderungen in der Zivilgesellschaft – Ergebnisse von Studien und Untersuchungen
Heute können wir auf der Grundlage verschiedener Studien und Untersuchungen eine erste Bilanz ziehen, wie sich die Pandemie auf die Zivilgesellschaft auswirkte. Zu nennen sind hier u.a. Studien des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, die unter der Überschrift „Ein Rettungsschirm für die Zivilgesellschaft“ erfolgten. Untersucht wurden nicht nur die Folgen und Auswirkungen, sondern die vorhandenen Defizite in der Unterstützung der Organisationen.
Betrachtet man die Aktivitäten und Leistungen zivilgesellschaftlicher Organisationen kristallisieren sich bestimme Muster heraus:
In der Tätigkeit der Organisationen sind zugleich eine Reihe problematischer Entwicklungen festzustellen:
Einbeziehung der Zivilgesellschaft durch den Staat war mangelhaft
Der Staat in Form von Bundes- und Landesregierungen – in Berlin der Senat – hat in der Corona-Krise eine enorme Handlungsfähigkeit bewiesen. Wenn man es kurz auf einen Nenner bringen will: Es wurde nach innen mit Beschränkungen und Förderprogrammen durchregiert. Die Zivilgesellschaft bis hin zu den Bürger*innen und ihren Vertreter*innen im Bundestag und den Landesparlamenten wurden häufig, so sind zahlreiche kritische Einschätzungen, zum Zuschauen degradiert. Die dadurch begrenzte Sprach- und Handlungslosigkeit stellte für die organisierte Zivilgesellschaft eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Denn, wenn der Staat gefragt ist und seine Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit breite Anerkennung und Zuspruch erfahren, stellt sich die Frage, wo bleibt die Zivilgesellschaft, deren Stellenwert doch als unverzichtbar für unsere Gesellschaft angesehen wird. Und was wird nach der Corona-Krise erfolgen – wenn der Staat gezeigt hat, dass er bestimmte Leistungen übernehmen und erfüllen kann, sowie in einem sehr umfangreichen Maße die finanziellen Grundlagen sichert? Wird dann die Zivilgesellschaft überhaupt noch im bisherigen Maßstab erforderlich sein? Nicht nur im Gesundheits- und Pflegebereich fordert man eine stärkere Rekommunalisierung von der auch die Zivilgesellschaft betroffen sein kann.
Es reicht wohl nicht, wenn gegenwärtige nur einzelne Organisationen reagieren und durchaus aktiv sind. Es geht um Grundsatzfragen, um Positionen der Zivilgesellschaft aktuell und in der Zukunft. Zivilgesellschaft muss sich auch oder gerade in Krisenzeiten als ein eigenständiger Bereich erweisen und durch die eigenen Wirkungsmechanismen und Potentiale etwas leisten, was Staat und Wirtschaft nicht können.
Das Virus krempelte also nicht nur das Alltagsleben um, sondern es wird uns langfristig beeinflussen – nicht nur in Fragen der Gesundheit, sondern ebenso in Angelegenheiten der Demokratie, der Parti-zipation, der Solidarität, des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Zivilgesellschaft gegenwärtig und künftig dürfen wir deshalb nicht aus dem Blick und nicht außer Acht lassen. Was passieren kann, wenn wieder eine gewisse Normalität eintritt, müssen wir uns für die Zivilgesellschaft schon heute überlegen, denn es wird wohl nicht alles so bleiben, wie es einmal war.
Die Pandemie hat bereits vorhandene Entwicklungen verstärkt – ein zukunftsfähiges und nachhaltiges Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat erfordert neue Ansätze und Lösungen
Wie zahlreiche Analysen zeigen, hat die Pandemie bereits vorhandene Entwicklungen verstärkt und verschärft sie weiter. Bereits vor der Pandemie und das nicht nur in Deutschland, sondern international, gewinnt die Nationalstaatlichkeit an Bedeutung. Die Juristen sprechen hier sogar von einem gewissen Neoetatismus. Die Zunahme staatlicher Einflussnahme hat unterschiedliche Ursachen. Vier Aspekte sollen an dieser Stelle kurz genannt werden:
Gleichzeitig stellen sich Fragen, was die Zivilgesellschaft anders machen kann, wie sie sich noch aktiver einbringt. Es kann also nicht darum gehen, alles nur auf den Staat und den öffentlichen Bereich zu schieben. Grundsätzlich ist es erforderlich, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland und auch in Berlin die Partikularinteressen ihrer Organisationen, besonders die der großen Verbände, überwindet und mit einheitlicher Stimme spricht. Das bedarf der besseren Zusammenarbeit und Kooperation. Der Anspruch eines Auftretens auf Augenhöhe mit dem Staat darf nicht ad acta gelegt werden, sondern kann gerade durch die eigene Funktions- und Leistungsfähigkeit untermauert werden. Die Zivilgesellschaft kann dabei den Vorzug ihrer Multifunktionalität bewusst nutzen. Sie hat nicht nur Funktionen bei der Erbringung von Dienstleistungen, bei der Wahrnehmung von Interessen und bei der Sicherung von sozialer Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern sie hat auch anwaltschaftliche Aufgaben bei der Verteidigung von Grundrechten. Dies darf gegenwärtig nicht verloren gehen.
Die Zivilgesellschaft muss ihre Krisenkommunikation deutlich verbessern. Sie hat für Mitarbeiter, Mitglieder, Engagierte und alle Menschen deutlich sichtbar zu bleiben – Zuversicht, Trost, Solidarität, Vertrauen sind neben der Erbringung von Leistungen in Krisenzeiten fundamentale Aufgaben. Wichtig ist es Zeichen zu setzen, die die Leistungen der Zivilgesellschaft zeigen und ihre Potentiale zur Überwindung der Pandemie demonstrieren. Dazu gehören gemeinsame Aufrufe und Projekte ebenso wie die Bereitstellung von Mitteln – bis hin zu Beiträgen, besonders von großen Stiftungen, für Sonderfonds und Unterstützungsprogramme.
Nicht zuletzt ist zu überlegen, wie die Zivilgesellschaft nach der Krise, für die Zukunft und für die Bewältigung weiterer Krisen (um)zugestalten ist. Allein auf Digitalisierung zu setzen ist dabei wohl keine Lösung.
Ausblick – Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft gestalten
Die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit ihrer großen Zahl an Mitarbeitern, Mitgliedern und freiwillig Engagierten stellen ein bedeutendes Potential dar, das einen gewichtigen Beitrag bei der Überwindung der Krise und deren Folge leisten kann. Gleichzeitig wird durch die Pandemie verstärkt der Fokus auf Fragen gerichtet, wie die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft weiter zu gestalten sind. Denn die Pandemie hat neben den Leistungen und der Leistungsbereitschaft der Zivilgesellschaft auch deren Schwachstellen und ihre Verletzlichkeiten aufgezeigt. Und das nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern in den Arbeitsweisen, den Zuständigkeiten, den Zugangsmöglichkeiten, in Fragen der Planbarkeit und einer nachhaltigen Tätigkeit. In diesem Kontext ist das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat bzw. öffentlicher Hand auf den Prüfstand zu stellen. Die Auswertung der Ereignisse und Folgen der Pandemie können dafür ein guter Anlass sein. Es bedarf allerdings der Klärung grundlegender Fragen für die Zukunft.
Ob in Form eines Runden Tisches oder noch besser mit einer Enquetekommission des Abgeordnetenhauses sollten grundlegende Fragen der Perspektiven der Zivilgesellschaft und des Zusammenwirkens von Zivilgesellschaft und Staat in Berlin neu auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Entsprechende Enquetekommissionen sind nicht ungewöhnlich. Gerade liegt beispielsweise dem Landtag Nordrhein-Westfalen eine Beschlussempfehlung und ein Bericht der Enquetekommission zum Thema „Subsidiarität und Partizipation“ vor. Für Berlin wäre, so mein Vorschlag, durchaus eine Thematik wie „Die Zukunft der Zivilgesellschaft in Berlin sowie ihre Kooperation und ihr Zusammenwirken mit dem Staat“ denkbar.
Der Beitrag war ein Inputvortrag der digitalen Veranstaltung „Die Funktion der Zivilgesellschaft in Berlin während und nach der Pandemie“ des Paritätischer Wohlfahrtsverband LV Berlin e.V. und Gesundheitsstadt Berlin e.V./GmbH am 9.Juni 2021.