Die Stimme der Zivilgesellschaft in Zeiten von Covid-19

Observatorium 45 | 01.10.2020 | Wurde die Stimme der Zivilgesellschaft in Zeiten von Covid-19 gehört? Ein Kooperationsprojekt der MaLisa Stiftung und des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft hat untersucht, inwiefern VertreterInnen der Zivilgesellschaft im medialen Corona-Diskurs zu Wort kamen.

Wurde die Stimme der Zivilgesellschaft in Zeiten von Covid-19 gehört? Ein Kooperationsprojekt der MaLisa Stiftung und des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft hat untersucht, inwiefern VertreterInnen der Zivilgesellschaft im medialen Corona-Diskurs zu Wort kamen. Die Untersuchung zeigt, dass die Zivilgesellschaft noch nicht im großen Maße in ihrer Sprecherrolle in den Medien zu Wort gekommen ist. Die so häufig zitierten ‚„Vertreterinnen der Zivilgesellschaft“, sind im öffentlichen Diskurs nur unzureichend abgebildet.

Die Coronakrise wird unsere Gesellschaft verändern, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, in welcher Weise. Absehbar wird sie einen Digitalisierungsschub mit sich bringen, der dem Land flächendeckend Homeoffice und digitale Bildung ermöglicht. Vielleicht wird sich auch der Trend zur Urbanisierung umkehren und die ländlichen Regionen werden wieder stärkere Zuzüge erleben. Bereits jetzt zeigt sich aber auch, dass die Folgen der Virusepidemie Ungleichgewichte, die die Gesellschaft bereits vorher geprägt haben, weiter verstärken. Beispielsweise werden Kinder aus armen oder bildungsfernen Haushalten die entstandenen Bildungslücken absehbar nicht mehr aufholen können, prekäre Arbeitsverhältnisse in Gastronomie, Hotel- oder anderen Dienstleistungsgewerbe sind entweder in Kurzarbeit oder gleich in Kündigungen gemündet, während Beamte davon wohl nicht betroffen sein werden. Frauen haben ihre Arbeitszeiten verkürzt und dies signifikant häufiger als die Männer, um die Heimbetreuung ihrer Kinder zu gewährleisten. Das dürfte ihnen, sowohl bei den Rentenansprüchen als auch in der Karrierebildung, anschließend vor die Füße fallen. Wir alle sind also von der Pandemie betroffen, aber nicht in gleichem Maße.

Die Folgen der Coronakrise wurden medial viel diskutiert, gesellschaftlich wurde beraten, welche Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensregeln zur Vorbeugung weiterer Infektionen sinnvoll einzusetzen seien und wer vom Staat wie und mit welchen Mitteln gestützt werden sollte. Ein öffentlicher Diskurs der eine unbedingte Notwendigkeit in einer Demokratie darstellt. Doch wie war dieser Austausch strukturiert? Welche gesellschaftlichen Gruppen wurden gehört und wie war das Verhältnis von Politik, etwa zu Wirtschaft, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft? Wer kam in den politischen und medialen Diskursen zur Corona-Pandemie am meisten zu Wort?

Folgt man rückblickend oder ‚outputorientiert‘ den staatlichen Hilfsprogrammen, lässt sich erahnen, dass wohl die Wirtschaft, die großen Konzerne, aber auch die mittelständischen und kleineren Unternehmen, dominant im Diskurs vertreten waren und ihren Interessen in der Politik Gehör verschafft haben.[1]

Aber wie war es um die Stimmen jener Gruppen bestellt, die dann auch eher am Rand der Rettungsschirme standen: Kinder- und Jugendliche? Ehrenamtliche? MigrantInnen? Jene vulnerablen oder oft übersehene Gruppen, um deren Lobbyfähigkeit es traditionell schlecht bestellt ist?

Frauen, soweit wissen wir schonmal, wurden weit weniger gehört. Eine Studie der MaLisa Stiftung, die die Geschlechterverteilung in der Berichterstattung im Fernsehen und in den Online-Auftritten von Printmedien im April dieses Jahres untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem die Meinung von Männern gefragt wurde. In den TV-Formaten war nur eine von fünf ExpertInnen weiblich (22%). In der Online- Berichterstattung wurden Frauen nur zu rund 7 Prozent als Expertinnen erwähnt. Als MedizinerInnen kamen vor allem Männer zu Wort (obwohl die Hälfte aller ÄrztInnen in Deutschland weiblich ist). Insgesamt kamen sowohl im Fernsehen als auch in den Online-Berichten der Printmedien mit Corona-Bezug auf eine Frau zwei Männer.[2]

Ein weiterer Meßgrad der Beteiligung unterschiedlicher sozialer Gruppen im Diskurs dürfte der Sprechanteil der Zivilgesellschaft darstellen. Oft nimmt die Zivilgesellschaft in ihrer advokatischen Funktion die Position ein, für Gesellschaftsgruppen zu streiten, soziale Probleme zu benennen und gleichsam aggregiert in die Diskussion zu tragen.[3] Sie gilt zudem als Wächter, beispielsweise, wenn es darum geht, Verbraucherinteressen oder Bürgerrechte vor Missbrauch zu schützen. Das diese aber häufig unterpräsentiert sind, zeigt eine Studie des Progressiven Zentrums.[4]

Vor diesem Hintergrund hat das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft in Kooperation mit der MaLisa Stiftung den Datensatz der Studie neu ausgewertet und untersucht, inwiefern VertreterInnen der Zivilgesellschaft in der Berichterstattung im Fernsehen gefragt wurden.

Wer ist die Zivilgesellschaft eigentlich?

Möchte man die Sprechanteile nach Geschlecht analysieren, lässt sich dies recht einfach über die Codierung [Frauen/Männer/Divers] zuordnen. Etwas schwieriger sieht das bei der Frage nach zivilgesellschaftlichen Sprechern aus, denn hinter diesem Begriff verstecken sich eine Vielzahl unterschiedlichster Formen und Organisationen. Somit stellte sich also zunächst die Frage: Wer ist die Zivilgesellschaft eigentlich?

Der Begriff Zivilgesellschaft (engl. civil society) bezeichnet, neben Markt und Staat, die dritte Arena kollektiven Handelns in der Gesellschaft. Zur Zivilgesellschaft gehören in Deutschland rund 645.000 organisierte Bewegungen, Organisationen und Einrichtungen sowie zahlreiche unorganisierte oder spontane kollektive Aktionen, die auch kurz als ZGO (zivilgesellschaftliche Organisationen) bezeichnet werden. Ihre Organisationen und Initiativen unterscheiden sich stark in Größe ebenso wie in Form und Ziel, eine einheitliche weltanschauliche Einstellung findet sich ebenso wenig wie eine einheitliche Art der Projektumsetzung; und dennoch lässt sich die Zivilgesellschaft über ihre gesellschaftlichen Funktionen und eine ihr inhärente, gemeinsame Logik bestimmen. Zivilgesellschaftliche Organisationen eint, dass sie in der Regel auf Freiwilligkeit gegründet sind. Sie unterscheiden sich in ihrer Logik von staatlichen und gewinnorientierten Organismen, verfolgen subjektiv Ziele des allgemeinen Wohls und sind zudem in ihrer Finanzierung zu einem wesentlichen Teil auf die Geschenke von Zeit und materiellen Ressourcen angewiesen.

Trotz ihrer Heterogenität schnürt sich in der Coronakrise die Funktionalität der Zivilgesellschaft auf zwei wesentliche Perspektiven oder – diskurstheoretisch gesprochen –‚Stimmen‘ zusammen: (a) zum einen die der ExpertInnen und zwar sowohl in Hinblick auf Erfahrungswissen als auch auf Faktenwissen und (b) zum anderen die der Betroffenen. Ich führe das im Folgenden kurz aus:

(a) Eine der wichtigsten Funktion der ZG ist die Dienstleistungsfunktion. Die ZGO ergänzen von Staat und Wirtschaft erbrachte Angebote und Leistungen als Dienstleister für zentrale Bereiche der sozialen Daseinsvorsorge, diese liegen in erster Linie im Gesundheits- und Bildungsbereich. Zu diesen Leistungen gehören also beispielsweise neben Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Sozialdiensten auch Kindergärten, Schulen und außerschulische Bildungseinrichtungen. Damit liegt die Expertise der ZG in diesen Bereichen nahe. VertreterInnen von ZGO können substantielle Einschätzungen zur Versorgungs- und Problemlage der sogenannten Carearbeit machen.[5] Das sind jene Bereiche, die während der Coronakrise zu großen Teilen entweder zurück in die privaten Haushalte gereicht wurden, wie etwa die Kinderbetreuung und -bildung während der Zeit der Schulschließungen. Oder Bereiche, die massiv in ihren Betreuungsverhältnissen betroffen waren, wie etwa die Altenpflege, welche die zeitweiße, (zum Teil noch geltenden), Kontakt- und Besuchsverboten zu stemmen hat.

Viele ZGO arbeiten darüber hinaus im Bereich der Themenanwaltschaft (engl. advocacy). Damit ist gemeint, dass sie sich für die Rechte bestimmter Themen wie dem Naturschutz oder vulnerablen Minderheiten einsetzen. Sie verhelfen diesen Themen in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu verschaffen und vertreten sie insbesondere gegenüber Politik und Verwaltung. Viele dieser Themen und Minderheiten, um deren Lobbyfähigkeit und Anhörungsrechte es generell schlecht bestellt ist, wurden durch die Coronakrise weiter marginalisiert, bzw. drohen durch den dominanten Diskurs zur Rettung der deutschen Wirtschaft restlos aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verschwinden. So wurden die Proteste der Fridays for Future Bewegung durch das Demonstrationsverbot ebenso abrupt ausgebremst, wie die Auswirkungen der Corona Maßnahmen auf die Prävention und Bekämpfung von häuslicher oder sexualisierter Gewalt oder die illegitime Internierung von Geflüchteten nur unzureichend diskutiert wurden.[6] ZGO die als Themenanwälte fungieren, verfügen in der Regel zum einen über einen direkten Austausch mit den Betroffenen und somit über wichtige Informationen und zum andern auch über jahrelanges Faktenwissen in den Fachgebieten, was sie zum Verfassen von Folgenabschätzungen prädestiniert.

Auch in ihrer Wächterfunktion war die Zivilgesellschaft in der Coronakrise, zum Beispiel im Bereich des Datenschutzes, aktiv: Die Entwicklung einer App zur Verfolgung von Covid-19-Infektionsketten und die Frage nach der Übermittlung von Daten infizierter Personen, z.B. an die Polizei und zum Zweck einer Zwangsquarantäne, war sehr umstritten. Nach heftigen Protesten von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Chaos Computer Club (CCC) wurden bei der Entwicklung der Corona-App hohe Standards des Datenschutzes beachtet. Der Protest führte zu Verbesserungen hinsichtlich der Rückverfolgungsmethode der verwendeten Datenspeicherung und die Entwickler veröffentlichten den Quellcode der App auf der Open-Source-Plattform Github. Bis August wurde die App in Deutschland über 17,2 Millionen Mal heruntergeladen.[7]

(b) Ihre Funktionen der Selbsthilfe und der Gemeinschaftsbildung aber auch der persönlichen Erfüllung macht die Zivilgesellschaft jedoch auch direkt zu Betroffenen. Die Selbsthilfe, z.B. die der Patientenselbsthilfe in der Suchtprävention, war von den Anti-Corona-Maßnahmen, die Versammlungen dieser Art untersagten, genauso betroffen wie die persönliche Erfüllung in den Religionsgemeinschaften, die aufgrund geschlossener Kirchen, Moscheen und Synagogen nicht wahrgenommen werden konnte. Besonders schwer trifft es bis heute ZGO, deren primäres Wirken in der Gemeinschaftsbildungs- oder Geselligkeitsfunktion liegt.[8] Im Bereich der Laienmusik etwa, insbesondere in den Chören, die in Deutschland über 14 Millionen Mitglieder zählen, sind die Auflagen durch die besondere Ansteckungsanfälligkeiten – etwa durch Aerosolverbreitung beim Singen – enorm einschränkend.[9]

Ebenfalls stark betroffen waren ZGO im Herbergewesen wie die deutschen Jugendherbergen oder die Naturfreundehäuser. Viele von ihnen hatten mit fehlenden Einnahmen zu kämpfen, weil Veranstaltungen und Seminare abgesagt wurden, sowie sie natürlich von den Übernachtungsverboten für Touristen und der Schließung von Restaurants betroffen waren.

Im Unterschied zum kommerziellen Hotelgewerbe, das ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, dürfen gemeinnützige Organisationen jedoch nur in sehr begrenztem Umfang Rücklagen bilden, was das Insolvenzrisiko für viele ZGO während der Pandemie bedrohlich steigen lässt.

Dies alles zeigt, dass die Stimme der Zivilgesellschaft wichtig ist, weil sie relevante Informationen, Daten, Fakten und Erfahrungsberichte liefert und nicht ausgeschlossen werden darf aus dem Diskurs darüber, wer wie von Corona betroffen ist und mit welchen Maßnahmen darauf reagiert werden sollte. Die Expertise der ZG für die Folgen-Abschätzung der Coronaeffekte sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Deshalb interessierte es uns zu ermitteln, inwiefern sie tatsächlich in die Diskurse eingebunden sind und inwiefern ihre Stimmen schlussendlich Gehör finden.

Ergebnisse der Studie

Im Rahmen der von der MaLisa Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zur Geschlechterverteilung in der Corona-Berichterstattung, die vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock durchgeführt wurde, wurden insgesamt 174 TV-Informationssendungen mit Corona-Bezug ausgewertet, die zwischen dem 16. und 30. April 2020 ab 18h in ARD-Das Erste, ZDF, RTL und Sat.1 ausgestrahlt wurden. Neben dem Geschlecht wurden Name, Alter und Berufsbezeichnung ausgewertet.

Auf Grundlage dieser Berufsbezeichnungen, sowie mittels einer tiefergehenden Institutionen-Recherche wurde für die hier vorgelegte Studie eine Neucodierung vorgenommen, um die erfassten Personen jeweils einem Bereich, entweder aus Zivilgesellschaft, Politik/Staat/Verwaltung, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Bildung oder der (praktizierenden) Medizin zuzuordnen. Daneben wurden die Rechtsformen der vertretenen Institutionen (bspw. Verein, gemeinnützige GmbH oder Stiftung) soweit ermittelbar erhoben.[10]

Für die Codierung stellten sich einige Zuordnungsfragen und mussten einige Graubereiche diskutiert werden. So wurden Gewerkschaften als ZGO mitaufgenommen, obwohl diese Zuordnung zur Zivilgesellschaft in der Vergangenheit in Frage gestellt wurde.[11] Religionsgemeinschaftliche Organisationen wie beispielsweise die Deutsche Bischofskonferenz oder der Zentralrat der Muslime stellten ebenfalls Grenztypen dar, wurden als ZGO mitberücksichtigt.[12]

Andererseits wurden Angestellte von Krankenhäusern, also beispielsweise ÄrztInnen, selbst wenn diese in gemeinnütziger Trägerschaft standen, nicht als ZGO, sondern in der Kategorie praktizierende [Medizin] erfasst, da angenommen wurde, dass sie aus der Perspektive ihrer Profession heraus und nicht als VertreterInnen einer ZGO sprechen. Berufsverbände wie beispielsweise der Deutsche Apotheker-Verband wurden trotz ihrer teils gemeinnützigen Rechtsform der Wirtschaft zugeordnet.

Wissenschaftliche Einrichtungen und Bildungsinstitute wie Universitäten oder Schulen wurden, sofern sie dem staatlichen Bildungssektor angehörten, in der Kategorie [Wissenschaft/Bildung] codiert, es sei denn, sie gemeinnützig und mit explizit gemeinwohlorientierten Schwerpunkten wie dem Umweltschutz, wie das beispielsweise beim Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität oder dem Hamburger Umweltinstitut der Fall ist.

Im Ergebnis waren 116 Personen und somit knapp 9 % vom Gesamtsample als ExpertInnen und SprecherInnen mit zivilgesellschaftlichem Hintergrund in der Berichterstattung zu Wort gekommen. Zum Vergleich machte die Kategorie der Wissenschaft knapp 28 % aus, WirtschaftsvertreterInnen wurden in 15 % der Fälle befragt. Den größten Anteil nahmen Politik- und StaatsvertreterInnen mit 44 % ein.[13]

Ein Blick auf die Geschlechteraufstellung zeigt, dass sich die Ungleichbesetzung auch bei den Personen aus den ZGO fortschreibt. Von den VertreterInnen der ZG waren 86 männlich und 30 weiblich, also nur knapp 26 %.[14]

Rechnet man die kirchlichen Organisationen heraus, in denen traditionell Frauen in Sprecherrollen unterrepräsentiert sind, verbleibt das Ungleichgewicht bei einen Drittel Frauen zu zwei Drittel Männern. Dies ist umso ärgerlicher, als Frauen im zivilgesellschaftlichen Sektor als ArbeitnehmerInnen rund 75 % ausmachen.[15] Erklärt werden kann dies wahrscheinlich mit der Tatsache, dass in den Sendungen zumeist Personen in Leitungsfunktionen zu Gast geladen waren. Hier kommt der Umstand, dass es auch in den ZGO unverhältnismäßig wenig weibliche Führungskräfte gibt, zum Tragen.[16]

In der Berichterstattung kamen vermehrt große Organisationen zu Wort, etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), das Deutsche Rotes Kreuz (DRK), der Paritätische Wohlfahrtsverband, Ärzte ohne Grenzen, die Stiftung Mercator oder der Deutsche Kinderschutzbund, aber auch die Verbraucherzentrale oder die Stiftung Warentest. Gelegentlich wurden auch kleinere Organisationen als Experten befragt, wie der Chaos Computer Club, der Mietverein München, Initiative #elternkrise, Verein Straßenkinder, Agora Energiewende oder der Tierhilfeverein Kellerranch e.V.

Die meisten eingeladenen Teilnehmenden/Gäste kamen aus Vereinen, wenige aus Stiftungen oder gemeinnützigen GmbH. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Verein die am häufigsten verbreitete zivilgesellschaftliche Rechtsform ist. Von den schätzungsweise 645.000 ZGO sind rund 608.000 Vereine, im Verhältnis zu 27.000 Stiftungen und wenigen tausend gGmbh.[17]

Fazit: Was sagt uns das?

Die Untersuchung zeigt, dass die Zivilgesellschaft noch nicht im großen Maße in den Medien zu Wort gekommen ist. Die so häufig zitierten „Vertreterinnen der Zivilgesellschaft“, sind somit im öffentlichen Diskurs nur unzureichend abgebildet.

Dies deckt sich mit einer unlängst veröffentlichen Studie zu ‚Repräsentation und Pluralismus in öffentlich-rechtlichen Politik-Talkshows‘ des Progressiven Zentrums, die einen Zeitraum über die Corona-Pandemie hinaus untersucht hat.[18] Die Studie kommt sogar nur auf einen Prozentsatz der Sprechanteile von 2,7 % aus der organisierten Zivilgesellschaft, da sie eine engere, nur auf NGO (Nichtregierungsorganisationen) ausgelegten Zivilgesellschaftsdefinition zu Grunde legt, in der Gewerkschaften und Wohlfahrtverbände nicht mitgezählt wurden. Wären diese mit aufgenommen worden, würden die Ergebnisse, denen der vorliegende Datenanalyse ähneln.

Woran mag diese unzureichende Sprecherrolle im öffentlichen Diskurs liegen? Schließlich hat die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren eine erhebliche Aufwertung erfahren. Kaum eine Sonntagsrede oder ein gesellschaftlich politischer Diskurs kommen ohne Bezug auf sie aus; sie ist in aller Munde.[19]

Zum einen begründet die oben beschriebene Heterogenität der Organisationen und Initiativen ein ganz pragmatisches Problem. Wer sind die geeigneten AnsprechpartnerInnen, wenn mit der Zivilgesellschaft zu sprechen ist? GestalterInnen von Mediensendungen, die Gäste einladen, müssen eine Auswahl treffen. Da es kein offizielles, thematisches Register aller ZGO in Deutschland gibt, ist die Suche und Ansprache etwas aufwendiger und landet zumeist bei den ‚üblichen Verdächtigen‘ aus bekannten Verbänden.

Dieses praktische Problem verweist auf ein tieferes: das Problem der legitimen Sprechfähigkeit und eines gemeinsamen Bewusstseins der Zivilgesellschaft. Sprechende eines Vereins für Kinderrechte werden sich wahrscheinlich nicht als VertreterInnen der Zivilgesellschaft wahrnehmen – viele ZGO, die gemeinwohlorientiert handeln, aber nicht dezidiert advocacy betreiben, tun dies nicht in ausreichendem Maße. Dabei wäre es wichtig, ein verbindendes Bewusstsein, dessen Grundlage die Gemeinwohlproduktion als gemeinsames Merkmal ist, auszubilden und sich als dritte Kraft in Abgrenzung zu Politik und Wirtschaft zu verstehen, als Stimme, die unter anderem auf blinde Flecken und Ungerechtigkeiten hinweist und praktische Fehler zu vermeiden helfen kann.

Daraus leiten sich dreierlei Forderungen ab: Zum einen an MedienmacherInnen die nach mehr Achtsamkeit. Auch wenn es kein Label „Zivilgesellschaft“ gibt, sollten Medien darauf achten, die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte (Staat / Markt (Wirtschaft) / Zivilgesellschaft) ausgeglichen zu Wort kommen zu lassen; wenn den Redaktionen spontan keine ZG-VertreterIinnen einfallen, könnte eine ExpertIinnen-Datenbank ein praktisches Tool sein, um diese schneller zu finden.

Dem schließt sich eine praktische Forderung an: ZGO brauchen, um professionelle Medienarbeit zu machen, um ihre Sprechfähigkeit verbessern zu können, ausreichend Ressourcen. Es bedarf einer größeren Bereitschaft, für Pressearbeit Ressourcen bereitzustellen und die Mitarbeitenden hinreichend zu schulen und ein stärkeres Netzwerk-Bewusstsein mit anderen ZGO zu entwickeln und zu stärken. Auch Förderern und Spenden muss dies deutlich gemacht werden. Damit richtet sich die letzte Forderung an die ZGO selbst: Ihnen muss ihre Rolle im öffentlichen Diskurs stärker bewusst werden.

Auch kleinere Organisationen, auch Dienstleister, sollten die wichtigen Beiträge, die sie zur politischen Entscheidungsfindung einbringen, als solche verstehen und reflektieren, dass ihre Arbeit immer auch eine politische Dimension hat. Insofern sollte advocacy auch Teil ihrer Arbeit sein, selbst wenn sie keine explizite Advocacy-Organisation sind, denn es sollte ein Selbstverständnis als Akteure der Gemeinproduktion im politischen Aushandlungsprozess entstehen. Politische Mitgestaltung im Sinne der deliberativen Demokratie gehört zur Zivilgesellschaft ebenso wie andere Funktionen.

Literatur:

Adloff, Frank (2010). Philanthropisches Handeln. Eine historische Soziologie des Stiftens in Deutschland und den USA. Campus.

Hummel, Siri (2019). Anstifter zur Beteiligung? Die Förderung politischer Partizipation durch gemeinnützige Stiftungen. De Gruyter.

Krimmer, Holger (2019). Summary. Zivilgesellschaft Im Überblick. In: Datenreport Zivilgesellschaft.

Kocka, Jürgen (2003). Zivilgesellschaft in historischer Perspektive. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Band 16, Heft 2.

Strachwitz, Rupert Graf, Eckhard Priller, Benjamin Triebe (2020). Handbuch Zivilgesellschaft. De Gruyter.

Zimmer, Annette, Eckhard Priller, Franziska Paul (2017). Karriere Im Nonprofit-Sektor? Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen von Frauen.

[1] https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Schlaglichter/Corona/corona.html (Zugriff am 28.09.2020)

[2] https://malisastiftung.org/frauen-sind-die-wahren-heldinnen-in-der-krise-erzaehlen-uns-maenner/ (Zugriff am 28.09.2020)

[3] Hummel (2019)

[4] Fröhlich, Hillje (2020), https://www.progressives-zentrum.org/polit-talkshows-gesellschaftliche-repraesentation/
(Zugriff am 28.09.2020)

[5] Als Care Arbeit gelten die Bereiche der Kindererziehung, sowie der Kranken und Altenpflege. Sie wird in Deutschland nach wie vor
in großen Teilen unbezahlt von Frauen übernommen.

[6] Eine Übersicht der Rechtsauswirkungen auf diese Gruppen bietet die Gesellschaft für Freiheitsrechte unter
https://freiheitsrechte.org/corona-und-zivilgesellschaft/ (Zugriff am 28.09.2020)

[7] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/WarnApp/Kennzahlen.pdf?__blob=publicationFile
(Zugriff am 28.09.2020)

[8] Strachwitz et.al. 2020, S. 180

[9] http://www.chorverbaende.de/de/zahlen-daten-und-fakten.html (Zugriff am 28.09.2020)

[10] Ich bedanke mich herzlich bei Laura Pfirter für ihre Mitarbeit.

[11] Kocka (2003)

[12] Zur Frage, inwieweit religionsgemeinschaftliche Institutionen zur Zivilgesellschaft gezählt werden können, siehe Rupert Graf Strachwitz, ed. (2018/2019): Religious Communities and Civil Society in Europe. 2 vols. Berlin: De Gruyter

[13] N=1297, 4% konnten nicht zugeordnet werden.

[14] Die Kategorie [Divers] wurde erhoben, war aber nicht vertreten.

[15] Zimmer, Priller, Paul (2017) https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/ifpol/mitarbeiter/zimmer/_nonprofitfrauen_online.pdf

(Zugriff am 28.09.2020)

[16] Zimmer et al. 2017, oder siehe auch https://fairsharewl.org/de/ (Zugriff am 28.09.2020)

[17] Krimmer (2019)

[18] Fröhlich, Hillje (2020), https://www.progressives-zentrum.org/polit-talkshows-gesellschaftliche-repraesentation/
(Zugriff am 28.09.2020)

[19] Strachwitz et. al. 2020

Siri Hummel

Dr. Siri Hummel

Direktorin des Maecenata Instituts
sh@maecenata.eu

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