Muslimisches Spendenverhalten in Deutschland

Opusculum 143 | 01.10.2020 | Die explorative Untersuchung betrachtet das Spendenverhalten von in Deutschland lebenden Muslimen*. Da viele der Muslime* seit mehreren Immigrationsgenerationen in Deutschland leben und deutsche sekundäre Sozialisationsinstanzen durchlaufen haben, in denen pluralistische Werte und Ethik anstelle von Religion vermittelt werden, wird dieser Einfluss auf das religiös legitimierte Spendenverhalten untersucht.

Einleitung

Das Ziel von Wohltätigkeit ist in der Regel, mit Hilfe von Spenden Not, Armut und Bedürftigkeit von anderen Menschen zu lindern. Wie in allen Religionen stellt auch in der innerweltlichen Ethik des Islams das Konzept von Wohltätigkeit einen zentralen Aspekt der religiösen Lehre dar. Sowohl im Koran, als auch in der Sunna, der Prophetentradition, gibt es zahlreiche Aufforderungen zu Almosen-Gaben und zur Hilfe für Bedürftige, die ihre Anhänger*innen zu einer bestimmten religiösen Lebensführung motivieren soll. Hierzu gehört auch die institutionaliserte Spendenform der Zakāt – das Zahlen einer Almosensteuer – welches die Muslime* jährlich dazu verpflichtet 2,5% ihres gesamten Kapitalvermögens an Bedürftige zu spenden. Studien zu religiös motivierter Wohltätigkeit konnten aufzeigen, dass persönliche Religiosität und religiöse Feste oftmals einen großen Einfluss auf das Spendenverhalten haben (vgl. Bertelsmann Religionsmonitor 2017). Dabei ist die nominale Religionszugehörigkeit jedoch nicht ausreichend, um eine hohe Spendenbereitschaft zu erklären; vielmehr ist entscheidend, wie hoch die Stärke der religiösen Bindung zu der eigenen Religion ist (vgl. Priller, Sommerfeld 2005: 26).

Im Zuge der europäischen Modernisierung verlor die katholische Kirche durch die Verweltlichung und Rationalisierung der alltäglichen Lebensführung ihr alles überwölbendes Interpretationsmonopol für ein gottesfürchtiges Alltagshandeln (Max Webers Protestantismus- und Säkularisierungsthese). Der Glaube bzw. die ihm zugrundeliegende Ethik wie Nächstenliebe verlagerten sich zunehmend in einen privaten Bereich (Luckmanns Privatisierungsthese). Mit der Entstehung des Wohlfahrtsstaates wurden die Bürger aus ihrer karitiativen Verantwortungsfplicht für die Armen entlassen. Reste kirchlicher Fürsorge finden sich in verschiedenen karitativen Organisationen im Nahbereich (z.B. Caritas), mit der Entgrenzung der Welt aber auch zunehmend im Fernbereich (z.B. Misereor, Brot für die Welt). Andere zivilgesellschaftliche Organisationen enkleiden die Ethik ihrer religiösen Anbindung (z.B. Lion’s Club, die Tafeln, Ärzte ohne Grenzen). Doch gilt dieser hier skizzierte Prozess auch für Kulturen anderer Religionen – oder noch spezifischer: welchen Einfluss haben bei Migranten*innen die Kultur und Religion, wenn sie in die säkularisierte Gesellschaft migriert sind und hier schon in zweiter oder dritter Immigrationsgenerationen0F[1] leben?

Während in der modernen westlichen säkularen Gesellschaft religiös geprägte Werte und Normen einer (nicht-religiösen) pluralistischen Ethik gewichen sind, geht das traditionelle Bild des Islams davon aus, dass die Muslime* die gesellschaftliche Mehrheit bilden und sich auch der Staat an den islamischen Regeln und Werten orientiert. Die in Deutschland lebenden Muslime* sehen sich, sofern sie nicht in einer „Parallelgesellschaft“ in ethnisch-religiös segrigierten Enklaven leben, einer stark säkularisierten und pluralisierten Wertekultur des Westens gegenübergestellt, die oft wenig gemein hat mit den traditionellen Lebensformen in muslimischen  Ländern. Während religöse Vorgaben und Werte in islamisch geprägten Ländern hohe gesellschaftliche Geltung haben und die alltägliche Lebensführung stark bestimmen, werden sie in der deutschen Gesellschaft als Privatsache angesehen. Dies trifft auch den Kontext der Wohtätigkeit. Viele der Muslime* in Deutschland leben jedoch seit mehreren Generationen in Deutschland, sind hier geboren und haben deutsche sekundäre Sozialisationsinstanzen durchlaufen, in denen pluralistische Werte und Ethik anstelle von Religion vermittelt werden. Vor allem die religiöse und ethnische Identität ab der zweiten Generation ist durch die dominante, säkularisierte Kultur des Westens stark beeinflusst, sodass Studien aufzeigen konnten, dass sich auch bei ihnen die religiöse institutionalisierte Bindung verändert. Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf das religiös legitimierte Spendenverhalten von Muslimen in Deutschland?

Die folgende explorative Untersuchung betrachtet daher das Spendenverhalten von in Deutschland lebenden Muslimen*. Die zentrale Forschungsfrage versucht sozialwissenschaftlich zu analysieren, wie und wofür Muslime* in Deutschland spenden, welche Bewegründe und Motive sie hierfür haben und welche Besonderheiten das muslimische Spendenverhalten im Vergleich zu der in Deutschland lebenden Gesamtheit aufweist. Zudem soll, abgeleitet von der religionssoziologischen Annahme der Migrationsforschung, dass ab der zweiten Generation die Religiosität durch die dominante, individualisierte, säkularisierte Kultur des Westens stark beeinflusst wird, überprüft werden. In diesem Kontext wird speziell das Spendenverhalten von Muslimen* der verschiedenen Generationen betrachtet, um zu überprüfen, ob und welche Auswirkungen die Sozialisation in einer nicht-muslimisch, säkularisiert-pluralistischen Gesellschaft auf das Spendenverhalten hat.

[1] Im Folgenden nur noch Generation genannt.