Gesellschaftliche Spaltung durch Covid-19 in Indien und Hilfe durch die Zivilgesellschaft am Beispiel einer NGO
Am 24. März verkündete Premierminister Narendra Modi die größte Ausgangssperre der Welt. Öffentlicher und Individualverkehr wurden untersagt, Märkte geschlossen. Die indische Bevölkerung hatte vier Stunden Zeit, um angemessene Vorkehrungen zu treffen. Seither müssen mehr als 1,38 Milliarden Menschen wegen des Virus zu Hause bleiben. In Indien offenbarte sich die brutale strukturelle, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit: während sich die Wohlhabenden und die Mittelschicht in ihre geschlossenen Wohnanlagen zurückziehen können, stehen die ökonomisch schwächer gestellten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen vor großen Herausforderungen. Viele der in Indien lebenden Menschen arbeiten im informellen Sektor und haben keine Krankenversicherung. Oftmals sind sie auf ihren Tageslohn angewiesen, leben von der Hand in den Mund oder kommen als Wanderarbeiter*innen aus anderen Regionen. Zusammen mit anderen Betroffenen leben sie auf beengtem Raum in Slum Unterkünften, unter Brücken oder auf der Straße. Für sie ist die Angst vor dem Virus zweitranging: Es drohen Arbeitslosigkeit und Hunger. [1]
Instrumentalisierung von Covid-19 für Hetze gegen Muslime
Tablighi Jamaat, eine islamische Missionsbewegung, hat ihren Hauptsitz im muslimisch geprägten Stadtteil Nizamuddin Basti im Herzen Delhis. Sie organisierte Mitte März eine umstrittene religiöse Versammlung, an der fast 2.000 Menschen teilnahmen. Dieses Treffen wurde in kürzester Zeit als Hotspot für die Verbreitung des Virus im ganzen Land identifiziert und die muslimische Minderheit von hindunationalistischen Organisationen für die vermeintlich vorsätzliche Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht.[2] Die Basti wurde im Zuge dessen, wie weitere Gebiete, als sogenannte Containment Zonen eingestuft, in der es niemandem gestattet ist, den Stadtteil zu verlassen oder zu betreten.[3]
Hilfe durch die Zivilgesellschaft
Eines der in diesem muslimischen Stadtteil wirkenden Sozialprojekte ist das seit 1976 existierende unabhängige, interkonfessionelle Hope Project. Die Ziele des Projektes sind eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe, Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Investition in die Zukunft über Bildung und Fortbildung. So sollen sich die Bewohner*innen des Stadtteils und der angelegenen Slums eine menschenwürdige Lebensgrundlage schaffen können, die sie unabhängig von Transferleistungen macht.
Auch die Programme des Hope Projects mussten im Zuge der Ausgangssperre geschlossen und die Hilfsangebote eingestellt werden. Eine Suppenküche einzu-richten, konnte nicht verwirklicht werden, da es unmöglich ist die große Zahl der Obdachlosen im Umkreis so zu organisieren, dass die Anforderung für soziale Distanzierung eingehalten werden können. Stattdessen organisierte das Projekt eine Verteilung von Lebensmitteln über ein Telefon Notruf System, um die Übergabe in angemessener Weise zu koordinieren. Anfang April appellierte die Regierung an die Zivilgesellschaft bei der Identifizierung von Hotspots zu unterstützen und Freiwillige und Mitarbeitende zu entsenden, um Dienstleistungen für schutzbedürftige Menschen zu erbringen. Seither dokumentieren die Hope-Mitarbeitenden dem Staat gegenüber kontinuierlich ihre Aktionen, organisieren Informations-Kampagnen um bewussten Umgang und Wissen über COVID-19 in der Bevölkerung zu verbreiten. Lehrkräfte und Sozialarbeitende stehen mit ihren Schüler*innen in Kontakt, leisten emotionale Unterstützung und organisieren E-Learning-Aktivitäten über Smartphones.
Die Dauer der Ausganssperre hat in vielen Familien zu einem starken Mangel an lebenswichtigen Nahrungsmitteln geführt. Es gibt viele Anrufe pro Tag und die Liste derer, die auf diese Unterstützung nicht verzichten können, wird trotz täglich staat-licher Unterstützung von zwei einfach gekochten Mahlzeiten immer länger. Im Projekt wird aktuell diskutiert, wie an die Kinder etwas Obst oder Milch verteilt werden könnte. Hier kommen Erinnerungen an die Mitte der 1970er Jahre auf, wo Mangelernährung in den naheliegenden Slums das Kernthema der ursprünglichen Projektarbeit war.
Es scheint, dass durch die Pandemie die Bewohner*innen der Basti, und das trifft sicher auf viele Gebiete in Indien zu, gerade einen 30-jährigen Rückschritt erfahren. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus, da das, was mühsam über lange Jahre aufgebaut wurde, nun in kürzester Zeit zerstört wird. Die Bewohner*innen der Basti sind meist immigriert aus den ländlichen sehr armen Gebieten Indiens und besitzen keine offiziellen Papiere. Damit sind sie nicht berechtigt, staatliche Unterstützung zu erhalten. Sie leben auf kleinstem Raum zusammengepfercht, ohne gesicherte Arbeit und ohne erreichbare/bezahlbare medizinische Versorgung. Diese Menschen, die in Indien die Mehrheit ausmachen, werden unsere ganze Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl sowie unsere verbindliche langfristige Unterstützung benötigen. So können wir ihre Chance erhöhen nach der Krise ihr Leben wieder aufbauen zu können. Ein erster Schritt dahin ist unser Engagement und die Hoffnung, dass Aufstehen möglich ist.
Mehr Information über das Hope Project: http://www.hope-project.de/
[1] Roy, A. (2020): Durch das Tor des Schreckens. Die Zeit. 9. April. Online abrufbar: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/coronavirus-pandemie-krisenpolitik-indien-armut (zuletzt abgerufen 28.04.2020)
[2] The Guardian (2020): Coronavirus conspiracy theories targeting Muslims spread in India. 13. April. Online abrufbar: https://www.theguardian.com/world/2020/apr/13/coronavirus-conspiracy-theories-targeting-muslims-spread-in-india (zuletzt abgerufen am 01.05.2020).
[3] The Indian Express (2020): Covid-19 lockdown: Centre identifies red, orange, green zones for week after May 3. 1 Mai. Online abrufbar: https://indianexpress.com/article/india/covid-19-lockdown-centre-identifies-red-green-orange-zones-for-week-after-may-3-check-full-list-here-6388654/ (zuletzt abgerufen 01.05.2020).