Zivilgesellschaft in der Corona-Krise

Ein Telegramm aus Österreich

Observatorium 41 | 15.04.2020 | Aufgrund der Corona-Krise musste die österreichische Zivilgesellschaft Phasen der Schockstarre, Euphorie und Ernüchterung durchlaufen. Dennoch hat sie durch die Krise die Chance sich nicht nur gut zu behaupten, wie sie vor fünf Jahren Migrationskrise eindrucksvolle unter Beweis stellen konnte. Sie kann eine Steigerung der Partizipation und Bürgerbeteiligung erreichen, ein ganz neues Miteinander, das die Gesellschaft und vor allem das Vertrauen in die Zivilgesellschaft auch langfristig stärken kann.

1. Am Beginn der Krise

Nachdem die erste Schockstarre in der Corona-Krise überwunden war, begannen sich die ersten zivilgesellschaftlichen AkteurInnen, zunächst nur zaghaft, zu regen. Ungeachtet der Lähmung der Zivilgesellschaft während der ersten Hiobsbotschaften über die Pandemie stand das Rote Kreuz in Österreich von der ersten Stunde an der Regierung zur Seite, konnte als starker Partner für die ausgerufenen Maßnahmen im Fernsehen und Rundfunk auftreten und genoss dadurch in der Öffentlichkeit eine unangefochtene Expertenstellung. Dazu muß man wissen, dass das Österreichische Rote Kreuz, als supranationaler und staatlich sondergeförderter Organismus eigentlich eine „Quasi-NGO“, von zwei Dritteln aller ÖsterreicherInnen als die klassische NGO empfunden wird. Insofern waren NGOs – und vor allem viele Freiwillige – bei der Durchführung von CoV-Maßnahmen an vorderster Front. Die Zivilgesellschaft in Österreich war sichtbar beteiligt.

Als erste messbare Auswirkungen wurden zuerst vor allem die ganz praktischen Dinge des NGO-Alltags gesehen, bevor der Verlust zahlreicher Arbeitsplätze bewusst wurde. Danach schwankten die Erfahrungen zwischen Euphorie und Ernüchterung, bis zu grundsätzlichen Fragen des Überlebens.

2. Absage von Veranstaltungen

Viele zivilgesellschaftliche Veranstaltungen unterliegen einem straffen Zeitplan und den strengen Regeln der Fördergeber, sei es als EU-Projekte oder auf Grund von nationalen Bestimmungen. Die ersten Absagen geförderter Veranstaltungen schienen vielen NGOs daher einer Katastrophe gleichzukommen. Man stand zunächst fassungslos den neuen Einschränkungen gegenüber, bevor dann die Gefährdung der Arbeitsplätze auch auf dem Sektor der Zivilgesellschaft sichtbar wurde.

3. Suche nach neuen Formaten

Jetzt zahlte sich aus, wer bereits vor der Krise in digitale Beteiligungstools wie virtuelle Plattformen, Foren und Systeme investiert hatte: So wie in vielen Restaurants die Bewirtung aus dem Gastraum sich in Abhol- und Lieferservice verwandelte, entstanden plötzlich unzählige Präsenz-Formen von NGOs im virtuellen Raum. Weiterbildung wurde angeboten, Bildungsplattformen wurden errichtet, Beratung stand hoch im Kurs, und der Erfindungsreichtum blühte bereits wenige Tage nach Überwindung des ersten Schocks. Wer nicht über eine geeignete technische Ausstattung verfügte, um Präsenz online zu verlagern, konnte mit guten Einfällen ebenfalls noch punkten – sei es mit den helfenden Händen regionaler Nachbarschaftszentren oder durch Besticken von Masken, wie es die Klimt-Villa in Wien nun zeigt. Der digitale Austausch für Freiwilligenorganisationen wurde organisiert; es gab unzählige Aktionen, von Anleitungen für „Sicher von zu Hause spenden“, über die Aktion „Wirtschaft hilft“ bis zur „Konflikt- und Friedensberatung für Eltern und Lehrende in der Heimschulung“.

Der bereits etablierte Aktionstag #GivingTuesday, weltweit zum #GivingTuesdayNOW am 5. Mai umfunktioniert, fand rasch nach Österreich. Wieder sind es die kreativen Ideen und Aktionen, die in den sozialen Netzwerken geteilt werden und Aufmerksamkeit, junge Engagierte und online-affine UnterstützerInnen für zivilgesellschaftliche Anliegen gewinnen sollen.

4. Zusammenarbeit mit Regierungsstellen

Die Zusammenarbeit zwischen Ministerien bzw. anderen Behörden und NGOs passte sich der neuen Situation erstaunlich rasch an. Vermehrt wurden per E-Mail Informationen und Unterlagen an NGO-Mitglieder von Komitees gesandt, bspw. vom Sozialministerium zu Arbeitsausbeutung und Menschenhandel oder zur Unterstützung von Vermittlungsagenturen für 24-h-Pflege, oder von der Stadt Wien zum Danube Local Actors Platform. Das Zivilgesellschaftsforum der Europäischen Donauraumstrategie in Wien machte eine eigene Förderschiene auf. Die Einladung zur Präsentation von Ideen und Projekten wurde sehr unbürokratisch verstärkt.

Überhaupt gewann trotz Schließung von Infrastrukturen in vielen Ämtern Bürgernähe plötzlich eine neue Dimension. Vieles war plötzlich möglich, was der österreichische Amtsschimmel vor Corona als unmöglich empfunden hätte, von privaten Anrufen von Magistratsbeamten bis zur außerordentlichen Nutzung stillgelegter Räumlichkeiten.

5. Zivilgesellschaft unter Druck

Spätestens gegen Ende März war es allen klar: Gemeinnützige Organisationen geraten ebenso wie Unternehmen enorm unter Druck, nicht nur wegen der Arbeitsplätze – denn hier hatte die Regierung den Vereinen sehr rasch gleichberechtigte Hilfe für Kurzarbeit, Liquiditätssicherung und Stundung von Beitragszahlungen zugesichert. Mitglieder des ‚Bündnis Gemeinnützigkeit‘ arbeiteten an der rechtlichen Klarstellung intensiv mit, denn die Sozialpartner waren natürlich nicht gerade begeistert, dass Vereine den Unternehmen gleichgestellt werden sollten. Auch hier war also die Zusammenarbeit auf Regierungsebene, das Bewußtsein, nicht um Beteiligung an Gesetzgebungen kämpfen oder im Untergrund opponieren zu müssen ein gewaltiges Plus für die Zivilgesellschaft.

Jetzt aber geht es auch um die ganz grundsätzliche Fortsetzung lebensrettender und gesellschaftsrelevanter Hilfsprojekte, um die Entsendung oder Rückholung von Engagierten und zahlreichen Freiwilligen in oder aus entwicklungspolitischen Projekten im Ausland, um das Aufrechterhalten von Sportstätten im Inland und das Auffangen von Riesenverlusten kultureller Großveranstaltungen, die zum Dienstgeber für Tausende von Arbeitsplätzen in der Sozialwirtschaft geworden waren.

6. Wie geht es weiter?

Nach Schockstarre, Euphorie und Ernüchterung sind die NGOs in Österreich in der Phase der Frage nach dem „Wie geht es weiter“ angekommen. Jetzt arbeiten sie länderübergreifend an gemeinsamen Appellen an die Europäische Kommission, bei aller Wirtschaftshilfe den Sektor der Gemeinnützigkeit nicht zu vergessen, durch Umfragen und Befragungen der Mitgliederorganisationen die dramatischen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft in ihrer Bandbreite zu erfassen, die Bereiche der sozialen Dienste, Katastrophenhilfe, Gesundheitswesen und Pflege zu unterstützen, denen es an Schutzausrüstungen fehlt, deren plötzliche Zusatzleistungen nicht an Fördergeber weiter verrechenbar sind, die durch die Krise neue Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung benötigen.

Der Sektor leidet an Spendeneinbrüchen und am Wegfall von Veranstaltungserlösen ebenso wie am höchstwahrscheinlichen Ausbleiben der Bewilligung eingereichter Förder- oder Leistungsverträge. Die Wirtschaftsuniversität Wien schätzt, dass der durch die Coronakrise verursachte Verlust für gemeinnützige Organisationen in Österreich bis zu 770 Mio. Euro betragen wird.

Die Regierung hat dafür ein offenes Ohr. Das hat sie von Anfang an klar gemacht, denn ihr ist bewusst, was Österreichs Vereine für Gesundheit, Kultur und Bildung bedeuten. In der Umsetzung der Hilfen für die Zivilgesellschaft ist aber eines mehr denn je gefordert: die Zusammenarbeit mit dem Staat, die über die bisher oft in unserem Land erlebte parteipolitische Spaltung, über das „Wir gegen Euch“, weit hinausgeht.

7. Entwicklung der Gesellschaft

Die Frage nach dem Erhalt der Demokratie hat in Zeichen der aktuellen Krise eine neue Blüte erlebt. Sehr, sehr schnell reagierten NGOs, die zum Schwerpunkt Demokratie schon viel Vorarbeit geleistet hatten. Sie brachten policy papers, Artikel und andere Publikationen in die Diskussionen ein. Endlich interessiert sich die Öffentlichkeit für dieses „Randthema“ der politischen Bildung.

Dass Museen, Archive, Literatur- und Musikpaläste sowie andere kulturelle Einrichtungen in Zeiten der Krise ihre virtuellen Türen und Tore öffneten, bescherte den verblüfften ÖsterreicherInnen gerade zu Ostern eine derartige Fülle an neuen Einsichten und Möglichkeiten, dass es mancherorts bereits als Überforderung wahrgenommen wurde.

Vor allem die Kirchengemeinden machten begeistert mit und erleben derzeit einen Boom, der sicher noch weitere Auswirkungen haben wird. Seit ca. 20 Jahren arbeitet gerade die katholische Kirche in zunehmender Distanz zum Staat an einem neuen NGO-Image, das jetzt Früchte trägt.

8. Resümee

Die Zivilgesellschaft in Österreich hat durch die Corona-Pandemie-Krise die Chance, sich nicht nur gut zu behaupten, wie sie vor fünf Jahren Migrationskrise eindrucksvolle unter Beweis stellen konnte. Sie kann eine Steigerung der Partizipation und Bürgerbeteiligung erreichen, ein ganz neues Miteinander, das die Gesellschaft und vor allem das Vertrauen in die Zivilgesellschaft auch langfristig stärken kann. Sie freut sich darauf, an der Krise zu wachsen und stärker, selbstbewusster und kooperativer zu werden als je zuvor.