Zivilgesellschaftliche Kommunikation in einer fragmentierten Gesellschaft

Observatorium 37 | 01.12.2019 | Dieser Text fußt auf einem Projekt, das vom Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft durchgeführt und von OSIFE gefördert wurde. Wesentlicher Teil des Projekts war ein Workshop von 25. bis 26.09.2019, an dem Mitarbeiter verschiedener deutscher Stiftungen teilnahmen: Ähnliche Projekte wurden von OSIFE in Polen, Spanien und weiteren europäischen Ländern durchgeführt.

Die fragmentierte Gesellschaft

Die öffentlichen Debatten in Deutschland zeichnen das Bild einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft, in der heterogene Milieus in der Aushandlung darüber, was gesellschaftlich erwünscht ist, vermehrt aufeinanderprallen. Das Ziel einer tolerant-pluralistischen und offenen Gesellschaft scheint ferner denn je, und die Meinungen der gesellschaftlichen Teilgruppen scheinen miteinander immer unversöhnlicher. Diese Unversöhnlichkeit beeinflusst auch die Arbeit von Stiftungen in vielerlei Hinsicht. Die fragmentierte Gesellschaft macht eine sozialgruppenübergreifende Ansprache für zivilgesellschaftliche Organisationen zunehmend schwieriger, sodass es neuen Strategien der Kommunikation bedarf.

Obwohl die Vorstellung einer ehemals völlig homogenen Gesellschaft historisch sicher unhaltbar ist, bringen die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, geprägt von Globalisierung und Digitalisierung, doch eine Vielzahl an pluralistischen Lebensstilen mit sich, die in ihrer Fülle neu sind. Die zunehmende Unversöhnlichkeit zwischen einigen dieser Lebensstil-Milieus wird sichtbar an der normativen Polarisierung in Fragen der Zuwanderung, der Gendersensibilisierung und des Klimawandels. Sie wird auch genährt durch einen zunehmenden Skeptizismus gegenüber wissenschaftlichen oder journalistischen Fakten bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern.

Allgemein scheint die Stimmung innerhalb der Gesellschaft schlecht zu sein: 70 Prozent der deutschen Bevölkerung sind der Meinung, dass sich Deutschland in die falsche Richtung bewegt. Inzwischen ist jeder Zweite unzufrieden damit, wie die deutsche Demokratie funktioniert und eine Mehrheit ist der Meinung, dass sich die gesellschaftliche Lage in den letzten fünf Jahren verschlechtert hat. Ihnen stehen nur etwa fünf Prozent gegenüber, die in den kommenden Jahren eine Verbesserung erwarten.[1] Dem Missmut gegenüber der aktuellen Demokratieperformance stehen jedoch Umfragen entgegen, die zeigen, dass 56 Prozent der deutschen Bevölkerung das (prinzipielle) Konzept von Demokratie unterstützen. Im europäischen Vergleich steht Deutschland hiermit auf Platz drei.

Auch wenn Parteien wie die AfD Ängste vor Zuwanderern schüren, zeigen die Erhebungen, dass die deutschen Bürgerinnen und Bürger mit 15 Prozent im europäischen Vergleich recht niedrige Werte an negativen Stereotypen von Migrantinnen und Migranten aufweisen.[2]

Die Bedeutung der Kommunikation

Der Politik- und Kommunikationswissenschaftler Matthew MacWilliams hat in seinen Studien zu autoritären und populistischen Zustimmungswerten im europäischen Ländervergleich zeigen können, dass Autoritarismus einen signifikanten Effekt auf die Unterstützung von populistischen, rechtsstehenden nationalen Parteien hat. Mithilfe eines Propensity Scores lassen sich Vorhersagen zur Wahrscheinlichkeit eines rechtspopulistischen Wahlverhaltens treffen, im Falle von Deutschland bezogen auf die AfD. Die Wahrscheinlichkeit einer Wahlentscheidung zugunsten der AfD, so MacWilliams, erhöht sich, je höher die Autoritätsaffinität einer Person mit ihrer Ideologiezustimmung kombiniert ist.[3] Geschlecht, Alter und Bildung haben zwar auch eine statistische Signifikanz und Auswirkung, doch ist vor allem Autoritätsaffinität der entscheidende Faktor. Dieser wurde auf Grundlage von Einstellungen zur Kindererziehung ermittelt; MacWilliams‘ Ergebnisse zeigen, dass in Deutschland fast jeder dritte Volljährige stark autoritär eingestellt ist, was starken Einfluss auf das Wahlverhalten hat.[4]  Während nur 5,2 Prozent der nicht-autoritären Personen eine populistische Partei wählten, waren es bei den autoritären 47,4 Prozent.[5]

Mit den erhobenen Daten lässt sich aber nicht nur die Wahlwahrscheinlichkeit vorhersagen, sondern auch eine Bevölkerungsstruktur ablesen, die in einzelne Segmente mit bestimmten Werte- und Überzeugungsfundamenten gegliedert ist. Ähnlich wie etwa bei den Sinus- Milieus[6] kann von der Existenz einer kosmopolitisch-liberalen Basis (die ersten zwei Segmente) mit hohen Zustimmungswerten für das Konzept einer offenen Gesellschaft (rd. 25 Prozent der Bevölkerung), auf der anderen Seite des Spektrums (letzten beiden Segmente) von einer ähnlich großen Gruppe mit Neigung zu einer geschlossenen Gesellschaft ausgegangen werden (rd. 20 Prozent), die kosmopolitisch-liberale Werte ablehnt und antipluralistisch eingestellt ist. Dazwischen verortet MacWilliams drei weitere Segmente – die mit einem leichten Überhang der „geschlossenen“ – die Mehrheit der Gesellschaft darstellen. Als klassische Unterstützerbasis von Stiftungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen (ZGO) können die ersten beiden Segmente gezählt werden. Während die letzten beiden Segmente auf der anderen Seite des Spektrums kaum zu erreichen sind, sieht MacWilliams in der Mitte eine große Gruppe, die es als potenzielle Unterstützerin und Unterstützer der Arbeit von ZGO zu adressieren gilt.[7]

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Studie von More in Common,[8] die im Jahr 2019 über 4.000 Menschen in Deutschland zu ihrer subjektiven Verortung in der Gesellschaft, ihrer Perspektive auf das Land und ihren Grundüberzeugungen befragt hat. Zu den Grundüberzeugungen zählen tiefliegende Moralvorstellungen, autoritäre Tendenzen, die Wahrnehmung von Bedrohungen, persönliche Handlungsmacht und Verantwortung sowie gruppenbezogene Identitätsmerkmale. Auf dieser Grundlage identifiziert More in Common sechs Typen in der deutschen Gesellschaft, die als die Offenen, die Involvierten, die Etablierten, die Pragmatischen, die Enttäuschten und die Wütenden bezeichnet werden und sich ähnlich wie bei MacWilliams durch charakteristische Sichtweisen auf die Gesellschaft voneinander unterscheiden. More in Common kommt zu dem Ergebnis, dass keine der gesellschaftlichen Typen auch nur annähernd eine Mehrheit bildet.[9] Es lassen sich jedoch drei funktionale Rollen identifizieren, die jeweils von zwei Typen gemeinsam eingenommen werden. Die Involvierten und die Etablierten nehmen mit insgesamt 34 Prozent die Rolle der gesellschaftlichen Stabilisatoren ein, die Offenen und die Wütenden mit insgesamt 35 Prozent die Rolle der gesellschaftlichen Pole, während die Enttäuschten und die Pragmatischen mit insgesamt 30 Prozent die Rolle des unsichtbaren Drittels einnehmen.[10]

Konsequenzen für die Gesellschaft

Der gesellschaftliche Zusammenhalt, so folgert die Studie, kann nur gelingen, wenn Menschen mit unterschiedlichen Wertfundamenten und Perspektiven miteinander auskommen und kommunizieren, dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede anerkennen und Raum für produktive Diskussionen finden.[11] Entsprechend sollte vor allem dem unsichtbaren Drittel mehr Gehör geschenkt werden, da sie es sind, die in der deutschen Gesellschaft am wenigsten Nachhall und Aufmerksamkeit erfahren. Sie sind weder sozial noch politisch eingebunden und fühlen sich fast doppelt so häufig wie der Rest der Bevölkerung auf sich selbst gestellt. Diesem Sozialtyp fällt es schwer, sich an Kategorien wie politisch “Links” und “Rechts” zu orientieren; er stellt die höchste Zahl an Nicht- und Wechselwählern dar. Zudem ist die Gruppe überwiegend jung  (45 Prozent der 18- bis 29- Jährigen), sodass eine stärkere Einbindung in Hinblick auf den mittleren und langfristigen Zusammenhalt der Gesellschaft notwendig ist, zumal die Gruppe der ‚gesellschaftlichen Stabilisatoren‘ überwiegend aus Älteren besteht.[12] “In der Einbindung des unsichtbaren Drittels liegt [daher] eine zentrale Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft. Ein Gemeinwesen kann nur dann wirklich funktionieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden.”[13]

Die Gruppe der gesellschaftlichen Pole, die als Treiber der derzeitigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung gesehen werden können, prägen durch ihre überdurchschnittliche Präsenz in den (sozialen) Medien die Debatten um den Zustand unserer Gesellschaft. Die Einstellungsdifferenzen der Gruppen werden, auch von diesen selbst, als gravierend und unüberbrückbar wahrgenommen. Dies hat zur Folge, dass es zunehmend schwieriger ist, über diese teilgesellschaftlichen Grenzen hinweg zu kommunizieren.

Die Arbeit von Stiftungen in der öffentlichen Meinung

Für gemeinnützige Stiftungen gebietet diese Entwicklung sowohl ihre Kommunikationsstrategien als auch ihr Ansehen und ihren Rückhalt in diesen entstehenden (Teil)öffentlichkeiten zu prüfen.

Eine Studie des Maecenata Instituts, die das Image von Stiftungen in diesen verschiedenen Gesellschaftsgruppen untersucht hat, zeigt, dass das Meinungsbild zu Stiftungen in Deutschland segmentübergreifend eher diffus bleibt.[14] Es gibt zwar zum einen eine breite Zustimmung dafür, dass sich Stiftungen für soziale und gemeinnützige Zwecke einsetzen und für schwache Sozialgruppen wie Kranke, Bedürftige oder Kinder- und Jugendliche eintreten.[15] Gleichzeitig ist jedoch auch eine Skepsis gegenüber Stiftungen bemerkbar, die von Verdachtsmomenten des Steuerbetruges und der elitären Interessenvertretung geprägt ist. Insgesamt herrscht große Unsicherheit über die praktische Arbeit von Stiftungen. Beispielsweise gaben knapp 41 Prozent der Befragten an, dass Stiftungen ihr Geld für die richtigen Zwecke ausgeben, zugleich waren sich aber auch über 42 Prozent in dieser Frage unsicher. Bei allen, insgesamt dreizehn, abgefragten Eigenschaften von Stiftungen war diese Unsicherheit zu beobachten, woraus sich auf viel Unkenntnis über Stiftungen schließen lässt.[16] Als weiteres Ergebnis, das sich segmentübergreifend beobachten ließ, war die Forderung nach mehr Transparenz, die die Befragten sich von den Stiftungen wünschten. Für die einzelnen Gesellschaftssegmente wurden zielgruppenspezifische Ansprachevarianten und ‚Frames‘[17] von Stiftungskommunikation getestet und in der Tat zeigte sich in den jeweiligen Gruppen eine unterschiedliche Akzeptanz der vermittelten Inhalte, je nach Sprachgebrauch, Textkomplexität und verwendeter Begriffe.

Konsequenzen für die Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen deshalb der gesellschaftlichen Fragmentierung stärker gewahr werden und eine Antwort auf die Frage finden, wie sie auch jenseits der vertrauten, zustimmenden Community Gehör finden, Milieus überwinden und sich dabei gegen autoritäre Narrative zur Wehr setzen können. Nachdem die meisten Akteure der Zivilgesellschaft zu der Gruppe der kosmopolitisch-liberalen Basis (MacWilliams) bzw. zu den Offenen oder Involvierten (More in Common) gehören, stellt sich die spannende Frage nach einem brauchbaren Zugang zur Mitte bzw. dem unsichtbaren Drittel. Da die eigene Ansprache meist nicht über die eigene Wertegemeinschaft (15-20 Prozent der Bevölkerung) hinauskommt, gilt es vor allem, Methoden und Fertigkeiten zu entwickeln, um die Seite der Mitte, die sich der geschlossenen Gesellschaft zuneigt bzw. das unsichtbare Drittel anzusprechen. Hier anzutreffende Zielgruppen vertreten zwar nicht unbedingt ein geschlossenes, autoritäres Weltbild, können aber mit einer liberal-kosmopolitisch orientierten Ansprache durch ZGO häufig nicht viel anfangen und lehnen diese möglicherweise intuitiv ab.

Auch wenn die meisten Menschen in der Gesellschaft sich von ähnlichen Themen und Sorgen angesprochen fühlen, werden diese jedoch häufig in unterschiedlichen begrifflichen Kategorien verarbeitet. Die Entscheidung über die eigenen Begrifflichkeiten, die Gestaltung der Information, aber auch Rahmenbedingungen wie die Wahl der Veranstaltungsorte und -zeiten, sind dafür verantwortlich, wer sich durch die zivilgesellschaftliche Organisation angesprochen fühlt und wer nicht.

Für die ZGO bedeutet dies,

  • unorthodoxe Bündnisse mit eher ungewöhnlichen Kooperationspartnern einzugehen, um neue Zielgruppen abzuholen,
  • die eigenen kommunikativen Reflexe zu verlassen und ihre Kommunikations-strategie zu reflektieren,
  • neben der Kommunikation mit der eigenen Community eine neue zielgruppengerechte Kommunikation zu entwickeln,
  • diesen Personen zuzuhören und so ihre Gedanken, Ängste und Einstellungen besser kennen zu lernen.

Hierfür muss jedoch bei den ZGO zunächst ein Bewusstsein dafür gebildet werden, mehr Energie und Ressourcen in die eigene Kommunikation zu investieren. Dabei gilt es vor allem, dass eigene Profil zu schärfen, eine transparentere Arbeitsweise zu schaffen, die Niedrigschwelligkeit der Informationen sicherzustellen und die Themen zu emotionalisieren. Hierzu gehört auch ein ehrlicher Umgang mit der Beschränktheit der eigenen Kommunikation und ein Wissen um die eigene Gruppenzugehörigkeit.

Wenn die Zivilgesellschaft, die ihr so oft attestierte Herstellung von sozialem Zusammenhalt erfüllen möchte, sollten ihre Akteure den Vermittlungsauftrag zwischen den gesellschaftlichen Gruppen stärker annehmen. Die sich oftmals zeigende Widersprüchlichkeit der stillen Mitte aufzugreifen und zu reflektieren, ihre Wünsche nach Zusammenhalt, Grenzen, Stolz, aber eben auch Gleichheit und Gleichberechtigung ernst zu nehmen und zu thematisieren, kann dabei als zentrale Kategorie dieses Vermittlungsauftrages für zivilgesellschaftliche Akteure gesehen werden.

[1] vgl. Krause & Gagné, (2019): 2.
[2] vgl. MacWilliams (2019).
[3] vgl. MacWilliams (2016): 2.
[4] vgl. ebd.: 7ff.
[5] vgl. ebd.: 7ff.
[6] Die Sinus-Milieus sind eine Gesellschafts- und Zielgruppentypologie, die Menschen nach Lebensauffassungen, Wertehaltungen und sozialer Lage in „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammenfasst.
[7] vgl. MacWilliams (2019)
[8] More in Common ist ein gemeinnütziger Verein, der in verschiedenen europäischen Ländern zum Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt forscht.
[9] vgl. Krause & Gagné (2019): 3.
[10] vgl. ebd.: 7.
[11] vgl. ebd.: 3ff.
[12] vgl. Krause & Gagné (2019):11 ff.
[13] ebd.: 8.
[14] vgl. Hummel (im Erscheinen),
[15] vgl. ebd.
[16] vgl. ebd.
[17] Gemeint sind damit gezielte Interpretations- und Deutungsmuster zur Informationsverarbeitung, bzw. Europa als Friedenserzählung.

Literatur

Krause, Laura-Kristine, Jérémie Gagné (2019): “Die Andere Deutsche Teilung : Zustand und Zukunftsfähigkeit Unserer Gesellschaft.” Berlin.

MacWilliams, Matthew C. (2016): “Authoritarianism and the Rise of Populist National Parties in Europe: Preliminary Findings from Surveys of Four European Nations.” Amherst, https://static1.squarespace.com/static/50bf87bfe4b090fdb6237204/t/58136bd71b631bf20f10daa4/1477667800156/EuropeanReleaseD2.pdf.

MacWilliams, Matthew C.  (2019): Results from Survey in Germany. Präsentation beim Democracy Table, Berlin – Listen to Europe. European Movement International. Berlin, 8.Mai.