Die Kirche auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Opusculum 131 und 132 | 01.12.2019 | Henning von Vieregge über die Kommunikation der Kirche und den potenziellen Chancen auf eine stärkere Einbindung in aktuelle Diskussionen und gesellschaftliche Themen.

1.    Einstiegsbemerkungen

1.1. Thesen zu Kirche, Zivilgesellschaft, Vertrauen und Heimatverständnis

Dies ist meine zentrale These:

Kirche beheimatet. Sie kann dies umso mehr tun, wenn sie sich im Verbund mit ihren Schwester- und Tochterorganisationen stärker als Akteur der lokalen Zivilgesellschaft mit und für andere versteht. Dies nutzt ihr und allen.

Der Leipziger Kirchensoziologe Gert Pickel hat eine vergleichbare Leitthese:

Religiöses Sozialkapital ist sowohl eine Ressource der Integration für die Gesellschaft als auch eine Ressource für die Zukunft der Kirchen, erfordert dabei aber einen Strukturwandel der Kirchen und besitzt zu bearbeitende Konfliktpotenziale.[1]

Wo ich von ‚Beheimaten‘ spreche, spricht er von Integration. Sozialkapital, als ‚religiöses Sozialkapital‘ zugespitzt, bildet sich als Ergebnis von Vertrauensbeziehungen. Mehr Sozialkapital bedeutet ein engeres Vertrauensnetz der Menschen in ihrem Umfeld. Religiöse Menschen haben mehr Vertrauen in andere Menschen und arbeiten stärker am Ausbau von Vertrauensbeziehungen, auch weil sie bessere Gelegenheitsstrukturen haben. Diese besondere Ressource der Kirchen sollte stärker genutzt werden, auch wenn der Umbau konfliktbeladen ist.

Wenn im Folgenden von „der Kirche“ oder „den Kirchen“ die Rede ist, so geht es zuvörderst um die evangelische verfasste Kirche vor Ort, also vor allem um die Kirchengemeinde. Gegenwart und Zukunft dieser Einrichtung werden hier besonders in den Blick genommen. Schon dabei ist Unschärfe unvermeidlich, denn diese Kirchen haben einen breiten, unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen Zuschnitt, zumeist dem Profil der Pfarrpersonen geschuldet.

Ich beziehe mich im Text insbesondere auf Erfahrungen in einer Kirchengemeinde im Frankfurter Raum, in der ich 13,5 Jahre im Kirchenvorstand war, zeitweise auch als Vorsitzender, und auf die zugehörige Landeskirche, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).[2] Außerdem habe ich mit zwei Theologiestudenten[3] eine Reihe strukturierter Interviews mit Kirchenvorständen und Pfarrern innerhalb der EKHN geführt, zudem habe ich mit Zivilgesellschafts- und Kommunikationsexperten gesprochen, weil in der gängigen Literatur die Sicht auf die Kirche von außen selten eine Rolle spielt. Auf diese Weise kann ich auch als Nichttheologe und ‚nur‘ ehrenamtlich Engagierter, letzteres auch in der Zivilgesellschaft in einer Außenseiterrolle[4], einen eigenständigen Part spielen. Exzerpte der Interviews habe ich im zweiten Teil dieses Textes gesammelt, auf Aussagen daraus beziehe ich mich auch im ersten Teil des Textes immer wieder.

Meine Gesprächspartner[5] haben sich zum Zusammenhang von ‚Heimat‘ als sozialem Gefüge und der Rolle der Kirche geäußert. Ich zitiere eingangs zwei markante Äußerungen.

Holger Backhaus-Maul, Soziologe und Verwaltungswissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, geht auf die Vielfältigkeit innerhalb der Kirche anhand eigener Erlebnisse ein:

Es gibt nicht das eine Bild von Kirche. Wenn ich ganz lange zurückdenke an meinen Konfirmandenunterricht, dann habe ich noch ein preußisch-autoritäres, militärisch geprägtes Gegenüber als Pastor, das mir den Zugang zur evangelischen Kirche verwehrt hat. Wenige Jahre später gab es in der gleichen Kirchengemeinde mit dem nachfolgenden Pastor einen, der in Brokdorf im Talar am Zaun demonstriert hatte. Das war genau die andere Seite der evangelischen Kirche. Das machte für mich die evangelische Kirche aus, zwischen autoritär-militärisch, mit einer durchaus nicht geklärten Vergangenheit im deutschen Faschismus auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine sehr kritische, sehr offene, diskursorientierte, auch sich gesellschaftspolitisch verstehende Kirche.[6]

Ansgar Klein, Geschäftsführer des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, der wichtigsten Vertretung der Zivilgesellschaft gegenüber staatlichen Stellen, kommt auf anderem Argumentationsweg auch zum Ergebnis, dass die Kirchen vielfältige und komplexe Organisationen sind:

Die Kirchen sind für mich keine monolithischen, sondern hochkomplexe Gebilde. Zur tragfähigen Einschätzung muss man Wissen über alle Schattierungen und Aufstellungen haben. In diesen großen Organisationsgefügen wird oft in einer hochdifferenzierten Weise miteinander umgegangen. Aber bei fundamentalistischen Bewegungen müssen wir sehr aufpassen. In den letzten Jahrzehnten hat sich vieles getan, und einiges ist da auch problematisch.[7]

Der folgende Argumentationsgang ist ein Dreischritt: Erstens hat sich die subjektive Einschätzung breiter Bevölkerungsschichten fast unabhängig von der objektiven Lage in Staat und Wirtschaft bis zur Demokratiegefährdung entwickelt. Erklärbar ist, dass der Rechtspopulismus nicht bloße Reaktion auf Griechenlandkrise, Eurogefährdung und Flüchtlingswelle ist, sondern tiefer liegende Gründe hat. Die diversen Klüfte werden beschrieben und analysiert. Es stellt sich also zweitens die Frage, wie diese Entwicklung abgefangen und möglichst umgedreht werden kann in eine Positivspirale wachsenden Vertrauens. Ausdruck nachlassenden Vertrauens zueinander und in die politische Führung ist das subjektive Gefühl des Heimatverlustes. Ich spreche von Entheimatung und setze ihr Strategien der Beheimatung gegenüber. Dieser prozessuale Begriff von Heimat löst sich nicht völlig vom herkömmlichen Verständnis von Heimat, vor allem der Ortsbezogenheit, ergänzt aber dieses Verständnis um die Bedeutung sozialer Beziehungen, die den Grad der Beheimatung entscheidend bestimmen. Und hier kommt drittens die Kirche als ein spezieller Akteur der Zivilgesellschaft ins Spiel. Die Kirche beheimatet diejenigen, die sich zu ihr bekennen, aber wirkt auch durch sie weit in die Gesellschaft hinein. Die Empfehlung ist, dass man sich dies innerhalb der Kirche stärker als bislang verdeutlicht, um und dann diese Sicht systematisch und strategisch auszubauen. So kann die Kirche einen Beitrag zur Stabilisierung der Offenen Gesellschaft als zentralem Baustein unserer Demokratie leisten und gleichzeitig ihre Verankerung in der Gesellschaft vertiefen. Die Argumentation stellt die Tendenz infrage, aus Ressourcengründen die Präsenz vor Ort zurückzufahren, und stellt die Bedeutung kirchlichen Bürgerengagements heraus.

Ob religiös oder nicht, bürgerschaftliches Engagement ist für die Vertrauensbildung im Sozialraum von elementarer Bedeutung. Ist das bürgerschaftliche Engagement hoch, ist auch das Vertrauen zueinander hoch und umgekehrt. Diejenigen, die sich selbst als religiös und der Kirche verbunden bezeichnen, eine übrigens fast deckungsgleiche Gruppe, sind auch überwiegend diejenigen, die im Namen der Kirche Freiwilligenarbeit leisten. Sie arbeiten missionarisch durch ihr Tun. Leo Penta, amerikanischer Priester, Hochschullehrer in Berlin und wichtiger Treiber der Community Organizing-Bewegung in Deutschland, schreibt zur Mission:

Missionarisch kann heute nur noch heißen, dass man vorlebt. Man muss aber ein Publikum haben. Wenn man das vorlebt innerhalb einer frommen Gemeinde, wird das nicht gesehen. Wenn man das in einer Zivilgesellschaft vorlebt, ist das eine Form von missionarischem Tun.[8]

Wer sich vertraut, weiß: Vertrauen lohnt sich. Man bekommt zurück, was man investiert, direkt oder indirekt, sofort oder später. Da, wo Vertrauen regiert und nicht Misstrauen dominiert, sieht man leichter über Fehler und Schwächen anderer hinweg und kommt nach eigenen Rückschlägen und Lebenszäsuren besser wieder auf die Beine. Man fühlt sich gut ‚beheimatet‘ und das zahlt sich aus für den Einzelnen und die Gesellschaft.

[1] Religiöses Sozialkapital – Integrationsressource für die Gesellschaft und die Kirchen? in: Edmund Arens: Integration durch Religion? Baden-Baden und Zürich 2014, S.43.

[2] Es handelt sich um die Andreasgemeinde in Eschborn-Niederhöchstadt, die über viele Jahre durch Pfarrer Dr. Klaus Douglass aufgebaut und geprägt wurde, zusammen mit vielen wichtigen Mitstreitern, von denen ich Pfarrer Dr. Fabian Vogt, Pfarrerin Dr. Anke Wedekind und Pastor (finanziert auf Spendenbasis) Kai Scheunemann hervorheben möchte. Die Gemeinde hatte sich anfangs mit Willow-Creek-inspirierten Gottesdiensten („Go Special“) einen überregionalen Ruf erarbeitet. Nachfolger von Douglass wurde Pfarrer Karsten Böhm. Ein frühes Profil der Gemeinde findet sich bei Wilfried Härle u.a. Wachstum gegen den Trend. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006 und auf der Homepage von Klaus Douglass im Kapitel „Meine Andreasstory“. Zur Entwicklung seit 2006 ist auf die gut gemachte und aussagestarke Homepage der Gemeinde zu verweisen, www.andreasgemeinde.de.

[3] Mit den damaligen Theologiestudenten Juliane Rupp und Adrian Schleifenbaum. Vgl. die dreiteilige Serie „Kirchendämmerung oder Morgenröte?“ als Gastbeiträge auf der EKHN-Homepage von 2015: https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/serie-kirchendaemmerung-oder-morgenroete.html. Adrian Schleifenbaum hat zum Themenfeld 2019 in Heidelberg eine Dissertation mit dem Titel „Gute Nachbarschaft!“, Heidelberg 2019 vorgelegt, aus der ich zitieren durfte. Großer Dank gilt Prof. Dr. Gerhard Wegner, dem Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, für seine Bereitschaft, „sounding board“ zu sein und einige Projektmittel zu stellen.

[4] Den Diskurs bestimmen Funktionäre, Staatsbeamte und vereinzelt Politiker und Wissenschaftler.

[5] Die Interviews sind in Teil 2 ausführlich dargestellt.

[6] Interview des mit Holger Backhaus-Maul.

[7] Interview mit Ansgar Klein.

[8] Leo Penta im persönlichen Gespräch.