Eine Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte beginnt nun auszusterben. 40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden.1
Legt man diese Aussage zugrunde, so ist es wohl kein Zufall, dass sich die Erinnerungslandschaft in Deutschland und insbesondere in Berlin seit den späten 1980er Jahren grundlegend gewandelt hat. Leidenschaftlich und kontrovers wurde diskutiert, an was und an wen wie erinnert werden sollte. Der Zeitpunkt dieser Debatten hängt sicherlich auch mit dem Erlebnis der deutschen Wiedervereinigung zusammen, denn „Vergangenheits- oder Geschichtspolitik läuft […] stets auf die Stabilisierung von Gesellschaften in krisenhaften Übergängen hinaus.“2 Mittlerweile ist die Erinnerungskultur in Deutschland geprägt von „Pluralismus und Differenziertheit“ und ein „breites Spektrum von Denkmalsetzern und Widmungsgruppen erinnert an zentralen und dezentralen bzw. lokalen Orten an den Nationalsozialismus“.3 Darüber hinaus werden Denkmäler zunehmend auch über ihre „kommunikativen Funktionen für die Gesellschaft“ definiert, denn diese Diskurse sind auch „Strategien gegen das Vergessen“.4
Die vorliegende Arbeit nimmt eine bestimmte Gruppe von Akteuren in diesen erinnerungskulturellen Debatten in den Blick: die Zivilgesellschaft. Welche zivilgesellschaftlichen Organisationen werden in der Erinnerungskultur aktiv und wie? Welche Rolle spielen sie bei der Initiierung, Gestaltung und Verstetigung erinnerungskultureller Vorhaben? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden drei Erinnerungsprojekte untersucht: das Jüdische Museum Berlin, das Kunstprojekt Stolpersteine und die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Zunächst werden die Begriffe Zivilgesellschaft sowie kommunikatives und kulturelles Gedächtnis betrachtet. Was verbirgt sich hinter diesen Konzepten und inwiefern sind sie für diese Arbeit relevant? Schließlich wird noch ein Blick auf die Geschichte der Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geworfen, um die ausgewählten Projekte zu kontextualisieren. Danach werden die ausgewählten Beispiele im Hinblick auf ihre zivilgesellschaftlichen Akteure analysiert. Im Anschluss werden im Rahmen eines Vergleichs zehn Thesen formuliert, die Grundlage für weitere Forschung sein können. Auf diese Weise soll die Arbeit die erinnerungskulturelle Forschung um den Partizipant Zivilgesellschaft erweitern. Dabei soll überprüft werden,
(1) ob es sich bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren größtenteils um Vereine und lose Zusammenschlüsse wie Bürgerinitiativen, also um Organisationsformen mit partizipatorischen Charakter, handelt,
(2) in welchen Projektphasen diese Akteure besonders aktiv waren,
(3) wie sie sich in die Projekte eingebracht haben und schließlich
(4) ob es Hinweise darauf gibt, dass der zivilgesellschaftliche Rückhalt für das Gelingen zentraler erinnerungskultureller Projekte notwendig ist.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine literaturbasierte Theoriearbeit. Der Forschungsstand ist dabei je nach Gedenkdebatte sehr unterschiedlich. Insofern stützt sich diese Arbeit methodisch auf Literaturanalyse sowie die Auswertung von Primärquellen, wie zum Beispiel Internetauftritte und Publikationen der zu untersuchenden Organisationen.
1 Assmann, Jan (1997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2. Aufl. München: Beck, S. 11.
2 Leggewie, Claus und Meyer, Erik (2005): „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989. München: Hanser, S. 17.
3 Sommer, Brinda (2007): Gesellschaftliches Erinnern an den Nationalsozialismus: Stolpersteine wider das Vergessen. Berlin: Institut für Museumsforschung, S. 46.
4 Ebd., S. 63.