Stiftungen als Anwälte der Zivilgesellschaft – Ideal oder Wirklichkeit?

Opusculum 72 | 01.05.2014 |

1. Einleitung

1.1 Aktualität und Relevanz des Themas

Das deutsche Stiftungswesen hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem bedeutenden und dynamischen Sektor entwickelt. Deutsche Stiftungen bilden heute, nach den USA, den weltweit zweitgrößten Stiftungssektor mit einem aktuellen Bestand von 19.551 rechtsfähigen Stiftungen.1 Das Gesamtvermögen deutscher Stiftungen wird derzeit auf eine Höhe von über 70 Milliarden Euro geschätzt2 und verleiht dem Sektor wachsende Bedeutung als Versorgungs-, Dienstleistungs- und Beschäftigungsfeld. Die vielfältigen Stiftungszwecke erstrecken sich über soziale Bereiche, Wissenschaft und Forschung, Bildung und Erziehung, bis hin zu Kunst und Kultur oder Umweltschutz.3 Der Stiftungssektor wird überwiegend durch ehrenamtliche Mitarbeit getragen. Gleichwohl weisen Stiftungen in zunehmendem Maße professionelle Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen auf.4

Die Bezeichnung „Stiftung“ wird als Oberbegriff für einen speziellen und doch heterogenen Organisationstypus verwendet. In dieser Arbeit geht es ausschließlich um gemeinnützige Stiftungen, die sich im Einzelnen durch ihre Rechtsform oder ihren Stiftungszweck unterscheiden lassen. Eine allgemeine Definition für Stiftungen ermöglicht eine erste Annäherung an den Gegenstandsbereich:

„Eine Stiftung ist allgemein eine Einrichtung, die mit Hilfe eines Vermögens einen vom Stifter festgelegten Zweck verfolgt. Dabei wird in der Regel das Vermögen auf Dauer erhalten, und es werden nur die Erträge für den Zweck verwendet. Stiftungen können in verschiedenen rechtlichen Formen und zu jedem legalen Zweck errichtet werden.“5

Der Sinn und Zweck gemeinnütziger Stiftungen sollte auf die Verwirklichung übergeordneter gesellschaftlicher Ziele gerichtet sein und dem Gemeinwohl zugutekommen. Auf der Basis ihres Vermögens und freiwilligen Engagements können sie einen Mehrwert für die Gesellschaft erzeugen und dabei unterschiedliche Funktionen übernehmen:6 Durch das Erbringen sozialer Dienstleistungen und Angebote im Wohlfahrtsbereich können Stiftungen als Partner des Sozialstaats auftreten (Komplementärfunktion). Ebenso können sie jenseits von Markt und Staat alternative Lösungen für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen aufzeigen (Innovationsfunktion). Als intermediäre Organisationen können Stiftungen außerdem eine Vermittlungsfunktion zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und Akteuren wahrnehmen. Werden Stiftungen als gesellschaftspolitische Akteure betrachtet, rückt eine weitere Funktion in den Vordergrund: Als Themenanwälte können Stiftungen dazu beitragen, gesellschaftliche Problemlagen nicht nur öffentlich zu thematisieren, sondern auch gezielt auf politischer Ebene zu kommunizieren.

Die Präsenz von Stiftern in der Öffentlichkeit sowie die allgemeine Aufmerksamkeit für gemeinnützige Arbeit in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sind in den letzten Jahren stark gewachsen.7 Leitmedien wie der Spiegel oder die ZEIT berichten zunehmend über das Wirken von Stiftungen in der Gesellschaft und lassen dabei auch kritische Stimmen lauter werden.8 Exemplarisch lässt sich dies an der kontroversen Berichterstattung über die in den USA von Warren Buffett und Bill und Melinda Gates gegründete Spendeninitiative The Giving Pledge aufzeigen. Hier wird vor allem die Fähigkeit und Berechtigung privater Geldgeber in Frage gestellt, einen sozialen Ausgleich für ein mangelhaftes staatliches Sozialsystem erzeugen zu können.9

Die Verfügbarkeit statistischer Daten über den deutschen Stiftungssektor hat sich seit den 1990er Jahren positiv entwickelt. Das aktuelle Stiftungsverzeichnis des Bundesverbands Deutscher Stiftungen (BDS) enthält etwa 18.700 Stiftungsportraits.10 Auch das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft (MI) setzt einen Forschungsschwerpunkt auf das Stiftungswesen und verfügt über eine umfangreiche Stiftungsdatenbank.11

Mit der Berliner Stiftungswoche ist seit dem Jahr 2010 ein Veranstaltungsformat ins Leben gerufen worden, das ein jährliches Zusammentreffen zentraler Akteure des Stiftungssektors ermöglicht sowie den Austausch mit Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vorantreibt.12 Während der Berliner Stiftungswoche 2012 wurde u.a. die Rolle von Stiftungen als Akteure im politischen Raum diskutiert. Unter dem Titel „Kollaborative Demokratie“ debattierten Stiftungsexperten die Frage, „was Stiftungen in politischen Angelegenheiten tun und lassen sollten?“.13 Hierbei zeigte sich, dass das Eintreten von Stiftungen in den politischen Raum ein kontroverses, doch bislang wenig diskutiertes Thema darstellt. Bei näherer Betrachtung der Schnittstellen von Zivilgesellschaft und Politik wird jedoch deutlich, dass Stiftungen durchaus in der Lage sind, direkten oder indirekten Einfluss auf politischer Entscheidungsebene auszuüben. Sie tragen zum öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess bei, sind in politisch bedeutsamen Handlungsfeldern aktiv und können gesellschaftspolitische Reformen vorantreiben. Hierzu schreibt Anheier:

„Die Stiftung bietet sich hierbei als intermediäre Institution an: Ihre Unabhängigkeit von den Vorgaben staatlicher Haushaltspolitik einerseits und von Markterwartungen andererseits erlaubt es Stiftungen, Interessen, die zwischen privaten und öffentlichen Belangen angesiedelt sind, aufzugreifen und zu fördern. Sie tragen somit zur Pluralität und institutionellen Vielfalt moderner Gesellschaften bei.“14

In der einschlägigen Literatur werden Stiftungen oftmals als Wohltäter in der Gesellschaft und Förderer zivilgesellschaftlichen Engagements hervorgehoben.15 So entsteht der Eindruck, dass Stiftungen generell einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten würden. Als Mediatoren zwischen Zivilgesellschaft und Politik fungieren sie als Vertreter zivilgesellschaftlicher Anliegen und handeln dabei stets im Sinne des Gemeinwohls – so könnte zumindest der ideelle Anspruch an gemeinnützige Stiftungen lauten.

Ob sich die positive Rolle von Stiftungen tatsächlich begründen lässt, erfordert eine fundierte Analyse ihrer spezifischen Funktionsweise unter Berücksichtigung möglicher negativer Effekte. Hierzu bedarf es der Entwicklung theoretischer Standards, die eine wissenschaftlich fundierte Bewertung von Stiftungen hinsichtlich ihrer Funktionserfüllung ermöglichen.

1 Statistik des BDS (2012), Stiftungen in Zahlen 2012 und Stiftungserrichtungen 1990 – 2012
2 Vgl. BDS (2011), S. 31
3 Vgl. Statistik des BDS (2012), Gewichtete Verteilung der Stiftungszweckhauptgruppen
4 Vgl. BDS (2011), S. 37
5 Die Definition entstammt der Homepage des Forschungsinstituts für Stiftungsgründung und Stiftungsrecht: http://www.stiftungswissenschaften.de/100-fragen-und-antworten-zum-thema-stiftung/fragen-und-antwortenzum-thema-stiftung.html
6 Vgl. Anheier (2003), S. 46 f.
7 Vgl. Anheier und Leat (2006), S. 6: „We suggest that the early 21st century, with foundations enjoying unprecedented global growth and increasing policy importance amid heightened expectations, could become a new golden age.”
8 Vgl. Endres (2010), ZEIT-Online: „Gefährliche Großzügigkeit“
9 Vgl. Fischer (2013), Spiegel-Online: „The Giving Pledge: Der Club der Super-Spender”
10 Vgl. BDS (2011), S. 14
11 Vgl. Homepage des Maecenata Instituts: https://www.maecenata.eu/ueber-uns/das-institut/
12 Vgl. Berliner Stiftungswoche, Homepage: http://www.berlinerstiftungswoche.eu/
13 Berliner Stiftungswoche (2012), Programm, S.15
14 Anheier (2003), S. 82
15 Vgl. Bertelsmann Stiftung (2003), S. 1 ff., BDS und Körber-Stiftung (2010), S. 6 f., Schwertmann (2005), S. 1 ff.