Bürgerstiftungsschelte. Anspruch und Wirklichkeit von Bürgerstiftungen.

Opusculum 53 | 01.01.2012 | Eine Fallstudie am Beispiel der Region Vorderes Fließtal / Baden-Württemberg

1 Einleitung

Stiftungen haben in Deutschland in den letzten Jahren eine steile Karriere durchlaufen, sowohl, was die Menge ihrer Neugründungen anbelangt, als auch hinsichtlich ihres Rufs. Ihr Image war bis vor kurzem schlecht; sie galten als elitäre, intransparente Gegenöffentlichkeit, die die Bedürfnisse einer verschwindenden Minderheit bedienten.1 In jüngster Zeit häufen sich hingegen Einschätzungen, die vom Gegenteil ausgehen. Insbesondere Bürgerstiftungen gelten nun als tragende Säulen einer aktiven Bürgergesellschaft. Sie werden im Kontext der Zivilgesellschafts-Debatte als Teil einer gesellschaftspolitischen Reformbewegung behandelt.2 Privatpersonen, Politiker und Unternehmer feiern sie als „unternehmerischgemeinnützige und zivilgesellschaftliche Elemente einer flexibel gestalteten, modernisierten Gesellschaft, in der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zum Teil neu verteilt werden und die generell eine Reduktion staatlichen Wirkens bei gleichzeitiger Ausweitung individuellen Engagements befürworten.“3

Gemeinsam mit der Zahl der Stiftungsgründungen wächst auch die Menge wissenschaftlicher Literatur vor allem über das nicht mehr ganz junge Phänomen der Bürgerstiftungen. Vor allem Zimmer4 und Strachwitz5 haben sich um die allgemeine DritteSektor-Forschung verdient gemacht. Vogt6 setzt mit ihrer umfassenden empirischen Arbeit Maßstäbe, wie das Wesen von Bürgerstiftungen aus der Praxis heraus zu erfassen sein kann.

Neben solchen Arbeiten, die den Anschluss an universitäre Disziplinen und Diskurse finden, ist in den letzten Jahren aber auch eine Fülle grauer Literatur zum Thema Bürgerstiftungen veröffentlicht worden, die dem großen öffentlichen Interesse an dem Thema geschuldet ist. Zahlreiche Support-Organisationen wie der Bundesverband deutscher Stifter7 , die Bertelsmann-Stiftung8 oder die Aktive Bürgerschaft e.V.9 nehmen sich des Themas ebenso an wie management-orientierte Fachblätter aus dem Nonprofit-Bereich10, namhafte Finanzund Kreditinstitute11, Vertreter der Städte und Gemeinden12 u.v.m. Viele dieser Publikationen verfolgen einen praxeologischen oder zumindest stark praxisorientierten Ansatz. So liefern etwa die Autoren aus dem Band von Nährlich13 wertvolle Anhaltspunkte für die Einordnung des Phänomens Bürgerstiftungen in Deutschland auf der Basis empirischer Erkenntnisse.

Für die Beförderung des Bürgerstiftungsgedankens in Deutschland äußerst förderlich, aus wissenschaftlicher Sicht aber zumindest fragwürdig, ist die starke normative Komponente, die in zahlreichen Publikationen mitschwingt. Vor allem (Kommunal-) Politiker scheinen in dem Konzept Bürgerstiftung ein neues Wundermittel der Kommunalpolitik zu sehen. Für die Unterstützung von Bürgerstiftungen werden regelmäßig große Worte verwendet, die von Demokratie, Werten und Bürgersinn handeln. Exemplarisch und aufgrund seiner räumlichen Nähe zum Untersuchungsraum der Fallstudie sei hier der Oberbürgermeister von Stuttgart, Dr. Wolfgang Schuster, aus seinem Vorwort in einer Publikation des Initiativkreises Stuttgarter Stiftungen (ISS) zitiert. Dem ISS gehören auch einige der in der Fallstudie untersuchten Fließtäler Bürgerstiftungen an.

„Diese bürgerschaftliche Bewegung ist Ausdruck eines gelebten Wertesystems, in dem gegenseitige Verantwortung selbstverständlich ist und Rechte wie Pflichten als die beiden Seiten derselben Medaille empfunden werden. Wir erleben eine Renaissance bürgerschaftlichen Bewusstseins, welches Theodor Heuss, erster Bundespräsident und Stuttgarter Ehrenbürger, mit dem Anspruch auf andauernde Gültigkeit formulierte: `Die Demokratie als Gesinnungskraft und Lebensform lebt von den vielen Freiwilligkeiten der Bürger.´“14

Schuster zieht keinen geringeren als den aus der Region stammenden Altbundespräsidenten Heuss als Vorbild heran. Er besitzt einen hohen Bekanntheitsgrad in Stuttgart und Umgebung und stellt daher eine wirkmächtige Identifikationsfigur dar. Auf Bundesebene setzte sich insbesondere Ursula von der Leyen in ihrer Ägide als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stark für die Bewegung ein. Sie formulierte wörtlich: „Die Bundesregierung fördert deshalb die Initiative Bürgerstiftungen und stärkt damit die Zivilgesellschaft in Deutschland.“15 Es ist überdeutlich: (Bürger-) Stiftungen sind politisch gewollt.16 Sie gelten in einem governance-zentrierten Regierungsstil als geeignete Akteure der Politik- und Gesellschaftsgestaltung.17

Die Frage, die sich aus den zitierten Hoffnungen und Imperativen ergibt, lautet simpel formuliert: Was ist dran? Werden Bürgerstiftungen den Anforderungen, die an sie gestellt werden, gerecht? Welche Anforderungen sind das genau? Die Bürgerstiftungen der Städte Hannover und Gütersloh feierten unlängst ihr 15jähriges Bestehen und viele weitere Bürgerstiftungen können ebenfalls bereits auf eine ganze Dekade gemeinnützigen Schaffens zurückblicken. Die Arbeit unternimmt also eine längst fällige Bestandsaufnahme, die im Tonfall bewusst provokant daherkommt. Sie stellt in Frage, was in den oben zitierten Sonntagsreden als Selbstverständlichkeit behauptet wird und legt bewusst ihr Augenmerk auf die Schwächen, die das Konzept in der Praxis offenbart.18 Es geht bei der vorliegenden Bürgerstiftungsschelte also nicht in erster Linie darum, das Konzept an sich oder gar seine Unterstützer anzuschwärzen. Allerdings soll der bisweilen recht unkritische, unreflektierte Umgang damit herausgearbeitet werden. Derzeit genießen Bürgerstiftungen noch einen hohen Vertrauensvorschuss, der in erheblichem Maße zum Gelingen und Funktionieren von Nonprofit-Organisationen beiträgt.19 Verspielen sie diesen Bonus, droht nach dem Boom die große Ernüchterung und nichts wäre gewonnen. Trotz der Negativschlagseite der Arbeit versteht sich dieselbe also durchaus auch als konstruktiver Beitrag zur Förderung eines Dritten Sektors, der sich seiner Stärken und Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist und sich dem entsprechend verhält.

Die Arbeit beschreibt die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Bürgerstiftungen hauptsächlich anhand einer Fallstudie, die im Zeitraum von etwa einem Jahr in der Region Vorderes Fließtal/ Baden-Württemberg durchgeführt wurde.20 Die Region eignet sich wegen ihrer klar definierbaren geografischen Lage und einem deutlichen kulturellen Regionalbewusstsein als Untersuchungsobjekt. Überdies hat die Autorin in der Region ihren Arbeitsplatz in einer Nonprofit-Organisation. Sie beobachtet den Dritten Sektor der Region seit über fünf Jahren und hat das Entstehen und Wachsen der Bürgerstiftungen im Feld begleitet. 21 Sie hat an Veranstaltungen teilgenommen, lokale Medien ausgewertet und 13 Expertengespräche als teilstandardisierte Leitfadeninterviews geführt.22 Bei der Auswertung der Gespräche wird nach dem Typischen – nicht Gesetzmäßigen – gesucht, das in jedem Fall das Interessante und Auffällige ist und daher stets vor dem Hintergrund der Subjektivität des Forschers bewertet wird.23

Zur Beantwortung der Fragestellung stellt die Autorin der vorliegenden Arbeit zunächst die Region Fließtal und die dortige Bürgerstiftungslandschaft vor. Sie untersucht danach kritisch die Anforderungen, die Bürgerstiftungen selbst sowie namhafte Support-Organisationen an die örtlichen Bürgerstiftungen stellen. Anhand der Fallstudie kann exemplarisch für das Vordere Fließtal gezeigt werden, dass Anspruch und Wirklichkeit mitunter gravierend auseinanderfallen. Im Schlussteil werden die Ergebnisse zusammengefasst und Hinweise abgeleitet, wie die Diskrepanz möglicherweise überwunden werden kann.

1 Vgl. zu dieser Einschätzung v.a. Strachwitz, Rupert Graf (Hrsg.): Stiftungen. Nutzen, fördern und einrichten. Ein Handbuch. Frankfurt/ Main 1994. S. 14.
2 Vgl. Deutscher Bundestag. Enquete-Kommission “Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements” (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Opladen 2002.
3 Anheier, Helmut K.: Stiftungen. Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft. Gütersloh 2000. S. 10.
4 Überblicksartig etwa Zimmer, Annette/ Priller, Eckhard: Der Dritte Sektor in Deutschland. Wachstum und Wandel, in: Gegenwartskunde, Jg. 50/ Heft 1. S. 121 – 147.
5 Strachwitz, Rupert Graf/ Mercker, Florian (Hrsg.): Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis. Handbuch für ein modernes Stiftungswesen. Berlin 2005.
6 Vogt, Ludgera: Das Kapital der Bürger. Theorie und Praxis zivilgesellschaftlichen Engagements. Frankfurt/ New York 2005.
7 Vgl. v.a. die online-Publikationen der Initiative Bürgerstiftungen des Bundesverbandes deutscher Stiftungen auf [http://www.die-deutschen-buergerstiftungen.de/] vom 31.1.2011.
8 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Handbuch Bürgerstiftungen. Ziele, Gründe, Aufbau, Projekte. Gütersloh 1998.
9 Vgl. deren reiches online-Angebot von Materialien auf [http://www.aktive-buergerschaft.de/] vom 31.1.2011.
10 Walkenhorst, Peter: Erfolge und Herausforderungen. Zehn Jahre Bürgerstiftungen in Deutschland. Zwischenbilanz und Perspektiven, in: Stiftung und Sponsoring Heft 1/ 2007. S. 22 – 23.
11 Bundesverband deutscher Volksbanken und Raiffeisenbanken e.V. (Hrsg.): BankInformation. MitStiften! Mit Geld, Zeit, Ideen. Heft 4/ 2011. Berlin 2011, vgl. auch auf [http://issuu.com/aktivebuergerschaft/docs/bvr_bi_sonderausgabe_buergerstiftungen_2011_gross/2? mode=a_p] vom 29.4.2011.
12 Bock, Irmtraud u.a. (Hrsg.): Gemeinden und Stiftungen. Studie zur Gründung von Stiftungen auf kommunaler Ebene zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und öffentlicher Zwecke (Schriftenreihe des Gemeindetags Baden-Württemberg, Bd. 8). Stuttgart 2006.
13 Nährlich, Stefan u.a. (Hrsg.): Bürgerstiftungen in Deutschland. Bilanz und Perspektiven (Bürgergesellschaft und Demokratie, Bd. 23). Wiesbaden 2005.
14 Schuster, Wolfgang: Grußwort zur Neuauflage, in: ISS (Hrsg.): Den Stein ins Rollen bringen. Stiften und Stiftungen rund um Stuttgart. Stuttgart 2005. S. 10 – 11. S 10.
15 Ursula von der Leyen, ehem. Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf [http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Presse/pressemitteilungen,did=120092.html] vom 29.4.2011.
16 Vgl. Deutscher Bundestag. Enquete-Kommission “Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements” (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Opladen 2002.
17 „Der Begriff Governance reflektiert den Umstand, dass Regelung, Koordination und Produktion öffentlicher Leistungen in einer komplexen, dynamischen und ausdifferenzierten Gesellschaft nicht (mehr) allein innerhalb staatlicher Instanzen zu verorten sind. Stattdessen münden wechselseitige Abhängigkeiten darin, dass Government im Sinne einer hierarchischen staatlichen Regulierung durch interaktive Aufgabenformulierung und ~umsetzung abgelöst wird. Diese überschreiten die bisherigen Grenzen von Markt, Gesellschaft und Staat.“ Sack, Detelf: Governance und Politics. Die Institutionalisierung öffentlich-privater Partnerschaften in Deutschland (Schriften zur GovernanceForschung, Bd. 15) Baden-Baden 2009. S. 14.
18 Damit unterscheidet sie sich von der in der Regel mehr als wohlwollend ausgerichteten Gattung der „Bestandsaufnahme-Literatur“, wie etwa Walkenhorst, Peter: Erfolge und Herausforderungen. Zehn Jahre Bürgerstiftungen in Deutschland. Zwischenbilanz und Perspektiven, in: Stiftung und Sponsoring Heft 1/ 2007. S. 22 – 23.
19 Vgl. insbesondere die sog. trust-related theories von Hansmann; vgl. dazu Salamon, Lester M./ Anheier, Helmut K.: Der Nonprofit-Sektor: Ein theoretischer Versuch, in: Dieselben u.a. (Hrsg.): Der Dritte Sektor in Deutschland. Berlin 1998. S. 211 – 247. S. 221ff.
20 Maßgeblicher Zeitraum: Januar bis November 2010. Im Stil einer teilnehmenden Beobachtung führte die Verfasserin aufgrund ihres Berufes ihre Beobachtungen im Feld aber bis heute weiter. Sie unternimmt weiterhin stichprobenhafte, nicht-repräsentative Gespräche im Vorderen Fließtal, Großraum Stuttgart und andernorts. Die mittlerweile schon etwas zurück liegende Fallstudie wurde in der Zwischenzeit in ihren Annahmen nur bestätigt.
21 Vgl. zur Methode der teilnehmenden Beobachtung va. Hirschauer, Stefan/ Ammann, Klaus (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt/ Main 1997.
22 Aus jeder Bürgerstiftung mindestens ein Gremienmitglied, darüber hinaus fanden Gespräche statt mit einem Bürgermeister ohne Bürgerstiftung, Mitgliedern von lokalen Vereinen und Organisationen, die nichts mit der jeweiligen Bürgerstiftung zu tun haben, mit Zustiftern, Mittelempfängern und dem Vorstand der Volksbank Fließ, bzw. Stuttgart eG. Bei der Wiedergabe von Zitaten wurde der besseren Lesbarkeit stets ein geglätteter Ausdruck verwendet. Alle Orte und auch die Namen der Gesprächspartner wurden für die Arbeit mit Pseudonymen verschlüsselt. Alle Interviewpartner stimmten der Bitte der Autorin zu, ihre Aussagen für die vorliegende Arbeit verwenden zu dürfen. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, dass die Weiterverwendung ihrer Aussagen nicht erlaubt ist. Der Anhang der Arbeit enthält den Gesprächsleitfaden und eine kurze Charakterisierung der Interviewpartner. Überdies wurde der besseren Lesbarkeit halber weitgehend auf gendering verzichtet. Soweit es für das Textverständnis nicht unerlässlich ist, wurde die männliche Form von Substantiven verwendet.
23 Vgl. zur Erkenntnisoffenheit des Feldforschers va. Thimm, Elisabeth: Eine missachtete Bedeutung oder Das Skript im Kopf der Forscherin, in: Eisch, Katharina – Hamm, Marion (Hrsg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnografischen Kulturanalyse (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 62). Tübingen 1984. S. 81 – 92.

Annette Barth

hat bis 2005 an den Universitäten Freiburg und Wien Volkskunde/Europäische Ethnologie, Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Im Jahr 2011 hat sie das berufsbegleitende Aufbaustudium „Nonprofit-Management and Governance“ an der Universität Münster mit dem Master of Nonprofit-Administration (MNA) abgeschlossen.
kommunikation@maecenata.eu

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