Zivilgesellschaft und Integration

Opusculum 54 | 15.01.2012 | Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Integrationsbegriff und der Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements – drei Fallbeispiele

Vorwort Am 31. Oktober 2011 jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei zum fünfzigsten Mal. Inzwischen hat jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund, in Ballungsräumen gilt dies für über sechzig Prozent der 2010 eingeschulten Kinder (Foroutan 2010: 9). In Berlin leben derzeit 406.259 deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund und 453.529 Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit – das ergibt zusammen einen Anteil von knapp einem Viertel an der Gesamteinwohnerzahl (Migrationsbeauftragter Berlin 2010).

Ein halbes Jahrhundert türkisch-deutscher Migrationsgeschichte bedeutet, dass in dieser Zeit unzählige Debatten um Zugehörigkeit und die Gestaltung des gemeinsamen Miteinanders ausgetragen wurden. Unter der Annahme, dass für die Integration von Migranten in die Gesellschaft mehr nötig ist als die Bereitstellung materieller Ressourcen, nämlich das Einbringen von Fähigkeiten wie Empathie und/ oder Kommunikation, rückt das Agieren der gesellschaftlichen Kräfte in den Mittelpunkt der Integrationsleistungen.

Anhand der Untersuchung verschiedener Fallbeispiele wird in der vorliegenden Arbeit beleuchtet, wie zivilgesellschaftliche Projekte initiiert werden und der gesellschaftlichen Integration dienen. Im Fokus stehen dabei die Arbeitsweise der untersuchten Vereine und der von ihnen erbrachte zivilgesellschaftliche Mehrwert. Dieser entsteht aus Leistungen, „zu deren Erbringung Organisationen des Staates und Unternehmungen des Marktes nicht oder nur peripher in der Lage erscheinen“ (Strachwitz, 2009: 17).

Mit dem integrationspolitischen Diskurswechsel in den 1990er Jahren1 wuchs auch das Interesse von Staat und Markt an diesen Leistungen, da sie diese selbst nicht oder nur unzureichend erfüllen können.

Zivilgesellschaftliche Akteure nehmen vier verschiedene Funktionen ein. So sind sie Dienstleister, die in ihrer Funktion öffentliche Güter herstellen und auch teilweise vom Staat delegierte Aufgaben übernehmen. Eine Themenanwaltsfunktion wird von Organisationen eingenommen, die ein Bewusstsein für Themen schaffen oder allgemein Interessen von Minderheiten oder Werte öffentlich vertreten. Die Selbsthilfefunktion im Weiteren umfasst die Bereitstellung der Möglichkeit bürgerschaftlichen Engagements, indem Mitwirkungs- und Vertretungsräume geschaffen werden, um Hilfe aus der eigenen Betroffenheit zu leisten. Als vierte Funktion sei schließlich die Mittlerfunktion erwähnt, die von Stiftungen oder Dachverbänden geleistet wird (vgl. ders.: 15f).

Die vorliegende Arbeit erörtert an konkreten Beispielen, welche zivilgesellschaftlichen Akteure sich in Deutschland der Thematik Integration annehmen und welche praktischen Umsetzungen dies zur Folge hat. Die exemplarischen Fallstudien bilden jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus den vielfältigen Angeboten der gelebten Interkultur. Die erste Studie untersucht die Arbeit des „Integrationszentrum Harmonie e.V.“. Ein Integrationszentrum, das sich explizit Migranten mit osteuropäischem Hintergrund und deren Probleme annimmt und Migration im hiesigen Fall selbsterlebte Praxis ist. Die zweite Fallstudie behandelt den in Berlin-Kreuzberg ansässigen Fußballverein „Türkiyemspor e.v. 1978“. Überwiegend von türkischen Migranten der ersten Generation gegründet, gilt er nicht nur als sportlich erfolgreichster “Migrantenverein” im Fußball, sondern erfährt bis heute durch sein umfangreiches zivilgesellschaftliches Engagement hohe lokale und z.T. überregionale Aufmerksamkeit. Die dritte und letzte Fallstudie nimmt sich des „Theaters mit Migrationshintergrund“ an. In einer vergleichenden Untersuchung werden zwei Theaterprojekte in ihrer Geschichte, Organisations- und Finanzierungsstruktur betrachtet. Darüber hinaus wird beleuchtet, welches Selbstverständnis die beiden Theater haben und wie sie sich in der Integrationsdebatte positionieren.

1 Dieser Diskurswechsel war geprägt durch die Abkehr von der konzeptlosen deutschen Einwanderungspolitik (vgl. Herbert 2003: 244f.) hin zu einer Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft und der damit einhergehenden Änderung des Staatsbürgerrechts zu Beginn des neuen Jahrtausends. Dadurch veränderte sich auch die Bedeutung der Integrationsarbeit.

Thomas Pribbenow

erlangte 2009 seinen Bachelor of Arts in Sozialökonomie an der Universität Hamburg und studiert gegenwärtig an der Humboldt Universität zu Berlin im Masterstudiengang Sozialwissenschaften.
kommunikation@maecenata.eu

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Karsten Holler

erlangte 2008 seinen Abschluss Bachelor of Arts in Sozialökonomie an der Universität Hamburg und studiert gegenwärtig an der Humboldt-Universität zu Berlin im Masterstudiengang Sozialwissenschaften.
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Stefan Wessel

studiert im Magisterstudiengang Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaften und Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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