1. Vorbemerkung
Unsere Gesellschaften sind zunehmend multireligiös und multikulturell verfaßt. Samuel Huntington hat mit seinem Buch “The Clash of Civilizations“ der Befürchtung Vorschub geleistet, daß ein globaler “Kampf der Kulturen“ auf uns alle zukommt. Die Fakten scheinen ihm auf den ersten Blick recht zu geben: die Weltgeschichte ist zu einem erheblichen Teil eine Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen. Sehr viele dieser Konflikte haben eine religiöse Dimension. Religionen, die den Anspruch erheben, im alleinigen Besitz der Wahrheit und der einzige Weg zum Heil zu sein, bergen ein aggressives Potential. Huntington zufolge hat sich nach dem Fall des “Eisernen Vorhangs“ und dem Untergang des realen Sozialismus die Weltlage grundlegend gewandelt. Das bisherige bipolare Modell des Kalten Krieges hat ausgedient. An die Stelle der Rivalität der beiden Supermächte treten nunmehr die vielen Kulturen. Diese stehen laut Huntington jedoch – gleichsam von Natur aus – im Konflikt miteinander. So scheut Huntington sich nicht zu behaupten, daß der nächste Weltkrieg, wenn es denn einen geben sollte, ein Krieg zwischen rivalisierenden Kulturen sein werde. Huntington fördert das alte Denken in zwei Blöcken, in zwei Lagern. Kulturen sind nicht etwa auf Koexistenz und Freundschaft ausgerichtet, sondern angeblich immer schon auf Konflikt, auf Kampf und Rivalität. Immer wieder liest man bei Huntington Sätze wie diese (1997: 21 und 202): “Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind. (…) Hassen ist menschlich. Die Menschen brauchen Feinde zu ihrer Selbstdefinition und Motivation (…). Von Natur aus mißtrauen sie und fühlen sich bedroht von jenen, die anders sind und die Fähigkeit haben, ihnen zu schaden.“
Huntington vernachlässigt die Gemeinsamkeiten und geschichtlichen Wechselbeziehungen, die es schon immer und vielfältig zwischen den einzelnen Kulturen und Religionen gegeben hat und gibt. Huntington unterschätzt u.E. vorhandene Ähnlichkeiten und Verwandtschaften, um die Unterschiede umso kräftiger und als Gegensätze, die einander ausschließen, hochzustilisieren.
Ein prominenter Kritiker dieser Kulturkampf-Theorie ist der iranische Staatspräsident Khatami. Er hat im September 1998 in einer Rede vor den Vereinten Nationen in New York vorgeschlagen, ein Jahr des “Dialogs der Kulturen“ auszurufen. Diesen Vorschlag nahmen die Vereinten Nationen auf: sie haben das Jahr 2001 zum Jahr des “Internationalen Jahr des Dialogs der Kulturen“ ausgerufen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt eines Dialogs der Religionen und Kulturen ist die Frage nach möglichen gemeinsamen Werten und Normen, die angesichts der Globalisierung aller Lebensbereiche die werdende globale Gesellschaft über alle anerkennens- und schützenswerte Unterschiede hinweg “im Innersten zusammenhalten“. Diese Frage läßt sich unserer Auffassung nach nur in Gestalt weltweit geführter moralischer Dialoge angehen. Doch: Was sind moralische Dialoge überhaupt und wie können sie von welchen Akteuren geführt werden? Was überführt moralische Konflikte in moralische Dialoge?
Die folgenden Überlegungen sind das Ergebnis eines interdisziplinären Gesprächs zwischen dem Theologen und Religionswissenschaftler Martin Bauschke (MB) und dem Soziologen Frank Adloff (FA). Durch die Zusammenführung zweier Diskurse erhoffen wir uns einen wechselseitigen Erkenntnisgewinn mit Blick auf die gemeinsame Fragestellung, wie moralische Dialoge geführt werden können.
Im ersten Kapitel diskutiert FA das Problem der moralischen Dialoge aus einer moral- und sozialphilosophischen Perspektive. Denn: Denkt man über die Begriffe Werte, Normen und moralische Dialoge nach, verweist diese Thematik auf Grundfragen der praktischen Philosophie. Eine Wiederbelebung dieser Diskussionen ist seit einigen Jahrzehnten festzustellen. Als Meilenstein der neueren praktischen Philosophie gilt John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit. An diesem Buch entzündete sich auch die sog. Kommunitarismusdebatte, die seit den 1980er Jahren in den USA geführt wird und seit den 90ern auch in Deutschland einflußreich geworden ist. Die Debatte zwischen Kommunitaristen und Liberalen soll hier nicht rekonstruiert werden, doch erscheinen einige Diskussionspunkte instruktiv für die hier verhandelte Fragestellung. Auch die Diskurstheorie Jürgen Habermas‘ ist ein weiterer wichtiger Referenzpunkt, will man sich dem Charakter moralischer Dialoge nähern. Eine Rekonstruktion verschiedener moralphilosophischer Ansätze soll dazu beitragen, die Frage zu klären, was genau in moralischen Konflikten konfligiert und was moralische Diskurse ausmacht.
Im zweiten Kapitel beschreibt und vergleicht MB mögliche Spielregeln bzw. Verfahrensweisen für moralische Dialoge anhand des „Dialog Dekalogs“ von Leonard Swidler und der „Regeln für Wertediskussionen“ von Amitai Etzioni. Das dritte Kapitel (MB) fragt nach dem Zusammenhang zwischen moralischer Dialogfähigkeit und der religionsgeschichtlichen Entwicklung auf der einen Seite und der individualgeschichtlichen auf der anderen Seite. Im gemeinsamen vierten Kapitel versuchen die Autoren, beide Perspektiven direkt zusammenzuführen und erörtern die Frage nach dem Unterschied zwischen religiösen und nichtreligiösen moralischen Dialogen. Abschließend skizzieren wir aus unserer gemeinsamen Sicht in zehn Thesen den Charakter moralischer Dialoge.