Observatorium 78 – Was erwartet die Zivilgesellschaft nach der Bundestagswahl?

Observatorium 78 I Januar 2025 I Dr. Rupert Graf Strachwitz

Rupert Graf Strachwitz skizziert ein 12-Punkte-Programm für die Zivilgesellschaft nach der Bundestagswahl 2025. Dabei kritisiert er die bisherigen Versäumnisse der Politik, wie das Scheitern des Demokratiefördergesetzes und die unzureichende Engagementstrategie. Strachwitz fordert eine umfassende Anerkennung der Zivilgesellschaft als eigenständigen Akteur, eine Reform des Gemeinnützigkeits- und Zuwendungsrechts, Bürokratieabbau und eine stärkere Einbindung zivilgesellschaftlicher Expertise.

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Was erwartet die Zivilgesellschaft nach der Bundestagswahl?
Ein 12-Punkte-Programm
von Rupert Graf Strachwitz

Am 23. Februar wird der Bundestag neu gewählt; im Frühjahr 2025 wird wohl eine neue Bundesregierung antreten. Wie seit 1998 wird auch in dem Vertrag, den die Parteien der neuen Koalition schließen werden, stehen, das Gemeinnützigkeitsrecht solle reformiert werden. Das betrifft große Teile der Zivilgesellschaft. Nach den Erfahrungen seit 1998 steht zu befürchten, daß wieder nicht viel daraus werden wird. Die letzte Bundesregierung hat 2021 große Ankündigungen gemacht. Sie wollte ein Demokratiefördergesetz vom Parlament verabschieden und vom Bundeskabinett eine neue Engagementstrategie beschließen lassen; das Gemeinnützigkeitsrecht sollte reformiert werden – alles „mit der Zivilgesellschaft“. Dieser Begriff tauchte im Koalitionsvertrag rund 20-mal auf. Die Hoffnungen waren groß!

Was ist daraus geworden? Fast nichts! Große politische Krisen haben mehr Aufmerksamkeit und Energie beansprucht, als bei Abschluß des Vertrags zu erwarten war. Trotzdem: Die Zivilgesellschaft rutschte im Streit der Koalitionspartner auf der Prioritätenliste der politischen Agenda ganz nach unten. Die Engagementstrategie wurde im Dezember 2024 auf den letzten Drücker verabschiedet. Sie ist wenig inhaltsreich und läßt kaum erkennen, wie eine Umsetzung aussehen könnte. Besondere politische Kraft war dahinter nicht auszumachen. Das Demokratiefördergesetz ist im Bundestag steckengeblieben; allerdings gab es gegen den Entwurf berechtigte Einwände, weil sie keine Demokratieentwicklungskomponente enthielt, sondern nur mehr Finanzierungsoptionen für den Bund eröffnet, zugleich aber den parteipolitischen Einfluß auf die Förderung möglicherweise stark ausgeweitet hätte. Von der überfälligen Neufassung des Gemeinnützigkeitsrechts sind wir ebenso weit entfernt wie 2021 und 1998. Nur ein paar kleine Zusätze zur überlangen Liste gemeinnütziger Zwecke sind im Jahressteuergesetz I/2024 umgesetzt worden. Ein richtiger Schock für die Zivilgesellschaft war im Juli 2024 der Entwurf des Steuerfortentwicklungsgesetzes, der völlig überraschend das Gebot der zeitnahen Mittelverwendung aus der Abgabenordnung streichen, die dringend notwendige ‚Legalisierung‘ des politischen Mandats der Zivilgesellschaft aber nur sehr bedingt umsetzen wollte.

Die Zivilgesellschaft ist enttäuscht, weil sie bei Politik und Staatsverwaltung – und zum Teil auch der Wirtschaft – nach wie vor mehrheitlich irgendwo zwischen einer quantité négligeable, einem aufsässigen Störenfried und einer unwillkommenen Konkurrenz für die Parteien angesiedelt wird. Allenfalls als billiger Dienstleister im Sozialbereich ist sie gelitten. Nur wenige große Akteure finden öffentlich Gehör. Daß dieser Zustand überwunden und die Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit endlich als das anerkannt wird, was sie ist, ist die Erwartung an die neue Bundesregierung. Ob sie sich erfüllt, muß sich zeigen.

Wir wissen, daß die liberale, freiheitliche, auf der Herrschaft des Rechts aufbauende Demokratie die Gesellschaftsordnung ist, die wir uns wünschen, die wir aber gegen autoritäre, populistische und libertäre Feinde verteidigen müssen – mit der Zivilgesellschaft. Anders als in Rußland oder China, aber doch auch bei uns gilt jedoch das Wort vom contested oder gar shrinking civic space, vom beschränkten und bedrängten bürgerschaftlichen Raum. Anderswo in Europa weiß das jedes Kind. In Deutschland wird das mit verniedlichenden Vokabeln wie ‚Ehrenamt vor Ort‘, Diffamierungen wie „ein grünes Projekt“, „NGOisierung“ oder „Empörungsindustrie“ und einer immer einschneidenderen Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik bestritten. Daß zwischen Regierung und Zivilgesellschaft nicht immer Harmonie herrschen kann, ist normal. Aber was in den letzten Jahren augenfällig war, war die Mißachtung der Zivilgesellschaft aus Angst vor Machtverlust und in einer geradezu ideologischen Verblendung über ihre Rolle in der Entwicklung der Demokratie. Die Folgen wird uns die Wahl am 23. Februar bescheren.

Es erstaunt nicht, daß die Europäische Kommission die Bundesregierung gerügt hat, weil sie nichts dagegen unternimmt. CIVICUS hat den bürgerschaftlichen Raum in Deutschland 2023 und 2024 als beeinträchtigt eingestuft. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat neue Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft angemahnt. Dies alles ist also nicht das Geschrei einer kleinen bubble, nicht der verklausulierte Ruf nach mehr „Staatsknete“, nicht die Anspruchshaltung derer, die nur nach eigener Einschätzung dem Gemeinwohl dienen oder gar der von wem auch immer gesteuerte Versuch, das wohlgeordnete Gemeinwesen zu stören oder zu destabilisieren oder die Wirtschaft in ihrer Handlungslogik zu behindern. Es sollen auch keine „Schleusen geöffnet“ werden. Tatsache ist, unser Gemeinwesen ist immer weniger wohlgeordnet; der Staat, Bund, Länder und Gemeinden, dazu die staatsnahen Betriebe und Einrichtungen wie Post, Bahn, Telekom, Sozialversicherungsträger, öffentlich-rechtliche Medienanstalten usw. vermehren zwar in atemberaubendem Tempo die Zahl seiner Mitarbeitenden, vermögen aber immer weniger, die Ziele anzusteuern, die Bürger und Bürgerin für ihr Geld verlangen können.

Was noch gravierender ist: Der Staat kann auch mit noch so viel Geld immer weniger auf die großen Herausforderungen pro-aktiv reagieren, die sich uns allen stellen. Hinzu kommt: Die Ausgleichs-, Dialog- und Kontrollmechanismen, die checks and balances, funktionieren nicht mehr. Die Persönlichkeiten, denen wir demokratisch die Führung anvertrauen, arbeiten sich im Empörungsmodus aneinander ab, aber können miteinander keinen lösungsorientierten Dialog mehr führen. Statt Bürokratieabbau erleben wir Demokratieabbau. Die Parteien verteidigen ihre Machtpositionen mit Zähnen und Klauen. Immer wieder behaupten sie, allein die Parteien seien für die politische Willensbildung des Volkes zuständig. Im Grundgesetz (Art. 21 Abs. 1) heißt es aber: „Die Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit“. Sie sollen diese also gerade nicht bestimmen, wie das in autokratischen Regimen üblich ist.

Niemand wird behaupten, die Zivilgesellschaft könne alles besser, schon gar nicht, sie könne das allein oder gar, sie habe einen Anspruch darauf, das zu tun. Sie bildet eine soft power und kann die hard power der hoheitlichen Gewalt nicht ersetzen. Aber beitragen kann sie sehr wohl! Dazu müssen ihre Akteure lernen, die res publica insgesamt besser in den Blick zu nehmen und nicht nur als Lobbyisten für ihre Agenda aufzutreten. Aber: In einer Zeit, in der sich Loyalitäten und Identifizierungen, sei es freiwillig, sei es erzwungenermaßen, häufiger ändern als je zuvor, werden freiwillige Gemeinschaften und freiwillig entstandene Institutionen (communities of choice) immer mehr zu Keimzellen von Gesellschaft, vermitteln immer mehr sie (und nicht etwa die Nation, der „Bund“) den sozialen Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Daraus folgt, Zivilgesellschaft kann und sollte aktiv die res publica mitgestalten.

Die nächste Bundesregierung muß endlich etwas unternehmen. Über 700.000 kollektive Akteure der organisierten und nicht organisierten Zivilgesellschaft – Vereine, Stiftungen, Initiativen, Bewegungen, Organisationen und Institutionen, in denen rd. 25 Millionen Bürgerinnen und Bürger bürgerschaftlich engagiert sind und über 3 Millionen Mitarbeitende ihren Lebensunterhalt verdienen – und die ganze Gesellschaft haben darauf einen Anspruch. Wenige, aber doch vorhandene Beispiele (etwa bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, im Normenkontrollrat oder bei der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe) beweisen, daß konsens- und kooperationsorientierte Modelle möglich und tragfähig sind.

Was ist zu tun?

  1. Wir brauchen die Anerkennung der Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Dimension. Dazu gehören etablierte Wohlfahrtsverbände und Protestgruppen, Fördervereine und Think Tanks, Laienchöre und Aktivisten, Sportvereine und Stiftungen, global agierende NGO und spontane Helfergruppen nach Katastrophen.
  2. Wir brauchen die Akzeptanz des weltweit eingeführten Begriffs Zivilgesellschaft (civil society) und die Anerkennung ihrer Handlungslogik, die sich von der von Wirtschaft und Staat unterscheidet, in Politik und Verwaltung, aber auch in Wirtschaft, Medien und Öffentlichkeit.
  3. Wir brauchen die Anerkennung des politischen Mandats der Zivilgesellschaft und ihrer Akteure im Sinne einer deliberativen Demokratie.
  4. Wir brauchen einen kontinuierlichen, vertrauensvollen, von Sachkenntnis getragenen, expertise-gestützten Dialog zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und ihre angemessene Beteiligung an Gremien, Anhörungen, Fachgesprächen und dergl.
  5. Wir brauchen eine Wertschätzung des zivilgesellschaftlichen (bürgerschaftlichen) Engagements nicht nur in Sonntagsreden, sondern im täglichen Umgang mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern und Akteuren der Zivilgesellschaft.
  6. Wir brauchen einen ernsthaften Bürokratieabbau, die Befreiung von unnötigen Registrierungs- und Meldeauflagen und sinnlosen Kontrollen für die Wirtschaft und für die Zivilgesellschaft.
  7. Wir brauchen eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, die den Namen Reform verdient. Gemeinnützigkeitsrecht ist Gesellschaftsrecht! Es muß endlich vom Obrigkeitsstaat des 19. in den freiheitlichen ermöglichenden Staat des 21. Jhdts. überführt werden.
  8. Wir brauchen eine saubere Trennung zwischen angemessener Vergütung von Dienstleistungen, die zivilgesellschaftliche Akteure für den Staat erbringen und parlamentarisch getragener Förderung der Entwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaft im Sinne einer Kultur des Schenkens, des Engagements, der Gemeinschaftsbildung und der Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens.
  9. Wir brauchen eine Reform des Zuwendungsrechts, damit Empfänger öffentlicher Mittel in ihrer Mission gestärkt und nicht bevormundet, gegängelt und unterdrückt werden.
  10. Wir brauchen vernünftige, sachgerechte, einheitliche und überprüfbare Handlungsanleitungen für die mit der Zivilgesellschaft befaßten staatlichen Einrichtungen (Finanzämter, Verwaltungsbehörden, Vereinsregister, Stiftungsbehörden usw.) statt einem Wildwuchs von Einzelentscheidungen.
  11. Wir brauchen die kontinuierliche, kritische, sachkundige, aber auch konstruktive Begleitung durch regelmäßige Berichterstattung und Kommentierung in öffentlich-rechtlichen Medien und angemessene Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Expertise in Medienereignisse und medienwirksame Spitzengespräche.
  12. Wir brauchen Engagement und Zivilgesellschaft als Bildungsinhalte in allgemeinbildenden Schulen und als Forschungs- und Lehrinhalte der Geistes- und Sozialwissenschaften an Hochschulen, auch im Sinne einer Theorieentwicklung.

Es versteht sich von selbst, daß dies alles nicht nur eine Erwartungshaltung sein kann. Die Akteure der Zivilgesellschaft, ihre Führungskräfte und alle, die mit ihnen in Forschung, Förderung, Unterstützung und Begleitung verbunden sind, müssen aktiv an der Umsetzung mitarbeiten. Alle müssen sich bewußt sein, daß ohne unabhängige, kritische, selbstbewußte Zivilgesellschaft unsere Demokratie nicht resilient ist.

Zivilgesellschaft als Kraft und dritte Arena im öffentlichen Raum ist für die Demokratie unabdingbar. Dies gilt für den Wiederaufbau in Syrien und bei uns! Ohne Demokratie ist ein einiges Europa nicht denkbar. Und was uns ohne einiges Europa droht, wird zunehmend klar.

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Rupert Strachwitz

Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz

Vorstandsmitglied der Maecenata Stiftung
rs@maecenata.eu

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