Observatorium 77 – Civil Society FIRST – ein Plädoyer für den Homo civicus

Observatorium 77 I Oktober 2024 I Wolfgang Chr. Goede

Wolfgang Chr. Goede plädiert in seinem Text dafür, dass die Zivilgesellschaft, verkörpert durch den „Homo civicus“, eine zentralere Rolle im politischen Geschehen einnimmt, um Demokratie zu revitalisieren und bürokratischen Stillstand zu überwinden. Durch ein Modell, das Bürger stärker in Entscheidungsprozesse integriert und die Zivilgesellschaft als verbindendes Element zwischen den politischen Polen sieht, sollen transformative Ansätze entstehen, die Partizipation und Demokratie fördern.

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Civil Society FIRST –
ein Plädoyer für den Homo civicus

Die Zivilgesellschaft wird international unterschiedlich wahrgenommen. Ein homogeneres und verständliches Hands-on-Design war Thema der Universität Heidelberg / DAAD Talks Online HTO mit Alumni aus aller Welt.[1] Das nachfolgende Resümee möchte universale Anstöße geben und bildlich neue Wege zwischen den politischen Polen sichtbar machen. Wie lässt sich der Akteur der Zivilgesellschaft, der Homo civicus, im von Parteien dominierten politischen System griffiger verankern? Wie kann er sein Sozialkapital, zivilgesellschaftlich-agilen Quantismus gegen staatlich-bürokratischen Etatismus, effektiver ausspielen? Wie eine reaktiv-flexible, aktionsfähige, transformierende Quanten-Demokratie mitbegründen helfen?

I. Das Doppel-Vektor Prinzip

Den Rahmen dieses Entwurfs bilden zwei führungstechnisch grundsätzlich gegenläufige Vektoren, der von oben nach unten gerichtete Top-down Impuls und der umgekehrte, von unten nach oben zielende Bottom-up Impuls. Die zuerst genannte Struktur manifestiert sich in patriarchalischen, autoritären, autokratischen Herrschaftsformen. Historischer Inbegriff davon war Ludwig XIV von Frankreich („l’état c’est moi“). Missfallen und Leiden seiner Untertanen entluden sich in der Französischen Revolution, dem anti-autoritären Unten-Oben-Vektor. Diese löste in ganz Europa eine Welle des Aufbegehrens gegen feudalistische Top-down-Staatsformen aus. Dies war auch gespeist vom Befreiungsdenken der Aufklärung. Ihr republikanischer Geist war die Wiege der modernen Demokratie, die beide Vektoren auspendelt.

Nur: Auch der demokratische Parteienstaat erfährt zunehmend weniger Akzeptanz. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind die Abläufe zu intransparent und bürokratisch, zu langsam und wenig effektiv, um die großen Herausforderungen und nötigen Wenden des 21. Jahrhunderts zu meistern. Unbeweglichkeit, Passivität, Lethargie sind Gründe, warum Parteien und Wortführer aus dem rechten Polit-Spektrum zunehmend Zulauf erhalten. In dieser demokratischen Entfremdung, gepaart mit aggressiver Eskalation, sollte die Zivilgesellschaft als Aggregator, Generator und Transformator, von unten nach oben als verbindendes kommunikatives und formatives Brückenglied wirken. Dazu freilich müsste sie aus ihrer Nischenrolle als „Dritter Sektor“ heraustreten und zu einer zentralen Rolle im Mainstream des gesellschaftlichen Geschehens aufschließen.

II. Das Galileo-Modell

Für diesen emanzipierenden Rollenwechsel steht das Galileo Modell.[2] Im Zentrum wirkt die Sonne, so wie in unserem Sonnensystem, aber nicht “Sonnenkönige” und ihre modernen Nachfolger aller Couleur, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Rund um diesen solaren Mittelpunkt rotieren die Planeten und die Erde, im übertragenden Sinne die Parteien und Institutionen. Der Galileo-Bezug unterstreicht die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger, eingebettet in die Zivilgesellschaft. Diese ist kein Anhängsel, keine Staffage und Statistin, sondern tragende Protagonistin und mitsteuerndes Organ. Das unterlegen die nachfolgenden Praxisbeispiele.[3]

  1. Allein in Deutschland sind rd. 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger bürgerschaftlich engagiert. Das umfasst ein weites Spektrum sozialer Arbeit, die von der offiziellen Sozialarbeit und deren Einrichtungen weder erfasst noch finanziert wird. Das reicht vom Versorgen Bedürftiger mit Essen und Mahlzeiten, zusammengefasst unter “Tafel”, über die Hilfe bei der Integration von Geflüchteten und deren Unterrichtung, bis zum Betreuen von Behinderten und Pflegebedürftigen, zunehmend Senioren. Hierzu gehört auch neudeutsch Care Arbeit, umfängliche und unbezahlte Sorge-und-Kümmer-Arbeit im Haushalt, bisher gesellschaftlich unter dem Radar angesiedelt. In Ergänzung hierzu agiert der umfangreiche Selbsthilfesektor, der praktisch alles rund um die Gesundheit bedient. Im Fokus hiervon steht u.a. die fragile Mentalgesundheit um Ängste und Depression, die besonders mit und nach der Pandemie verstärkt aufgetreten ist.[4] Allein in der bayerischen Landeshauptstadt München versammeln sich unterm Dach des weitbekannten Selbsthilfezentrums SHZ fast 1300 verschiedene Initiativen zu über 700 Themen.[5]
  2. Weiteres Standbein der Zivilgesellschaft ist der Sport. Er wird in unzähligen Vereinen und Clubs ausgeübt. Deutschland zählt ca. 90.000 Sportvereine mit 27 Millionen Mitgliedern und Sportaktiven; weltweit wird die Zahl der Sport treibenden Menschen auf weit über eine Milliarde geschätzt. Warum ist Sport zivilgesellschaftlich so relevant? Nicht nur wegen des Team- und Wettbewerbsgeistes, den die Sport-Praxis verlangt und der für Alltag, Ausbildung, Beruf schult. Sondern hauptsächlich wegen der Mit- und Ausgestaltung der vereinsinternen Beteiligungsabläufe, was mit “Trainingsplatz der Demokratie” umschrieben wird. Nur in manchen Sportarten und Vereinen sind Beteiligung und Demokratie keine auf Agenden drängende Themen. Aber wenn Ältere, meist Männer, an ihren Vorstandsposten kleben und dazu neigen, traditionell top-down “durchzuregieren”, bremst das die Vereinsdynamik und lässt sie auf Dauer veröden. In vielen Vereinen ist der Zugang von Frauen zu Leitungspositionen erschwert, sogar blockiert, Inklusion bleibt ein Desiderat. Aber: Im Geiste einer zivilgesellschaftlichen Selbstermächtigung erfolgen in Sportvereinen von der Basis her zunehmend strukturelle Umbrüche, die den Spielregeln der Demokratie zum Durchbruch und Vorständen zu größerer Diversität und Elastizität verhelfen.[6][7]
  3. Ein wenig wahrgenommener Pfeiler der Zivilgesellschaft findet sich in der Wissenschaft: der Citizen Science. Dazu gehören alle Nicht-Berufswissenschaftler, die zum Gedeihen der Wissenschaft beitragen, traditionell die Hobby-Archäologen und Vogelkundler. Nicht examinierte Historiker leisten einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des NS-Geschichte.[8]

Der Bielefelder Wissenschaftstheoretiker Peter Finke, Nestor und Wegbereiter der Deutschen Citizen Science, hat es für die Zivilgesellschaft erschlossen.[9] Diese rüttelt an den Elfenbeintürmen der Wissenschaft, dem Sich-Abschotten der Akademiker Community von der Gesellschaft in einem typischen Einbahn-Vektor. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die IT. Der Personal Computer PC kam in kalifornischen Garagenwerkstätten zur Welt. Seine Geburtshelfer waren Elektronik-Nerds, motiviert vom Ziel, das Top-down Rechen- und Rechner-Monopol von IBM zu erschüttern und an den Versprechungen der Computertechnik sämtliche Menschen teilhaben zu lassen. Das hat ein neues zivilisatorisches Zeitalter hervorgebracht, das heute mit der KI zu noch tiefgreifenderen Veränderungen anläuft. Was alles auch daran erinnert, dass viele der großen Impulse in Forschung, Technik, Philosophie historisch von Menschen am Rande des großen Wissensbetriebes hervorgegangen sind und vom jeweiligen Wissensestablishment erst mal als unliebsame Außenseiter galten, geschmäht, von den Autoritäten ihrer Zeit verfolgt wurden, weil neue Erkenntnisse gegen die herrschenden Dogmen in Gesellschaft und Religion, Politik und Kunst verstießen.

Das freiwillige soziale Engagement in der Gesundheitsfürsorge, im Vereinsleben, in der Forschung – diese Trias ist ein zivilgesellschaftlicher Gigant quer durch unsere Gesellschaften, leicht noch erweiterbar bspw. in der Kulturarbeit. Die Rahmung erfolgt grundsätzlich und durchgehend von einer Dichotomie, dem Oben-Unten sowie Unten-Oben-Vektor. Es darf daran erinnert werden, dass auch die Organisationen der Zivilgesellschaft, CSO (Civil Society Organizations), dem Hang zur Top-down Hierarchisierung erliegen und sich von unten laufend erneuern müssen, wenn Zivilgesellschaft funktionieren soll.

III. Ein elektromagnetischer Zugang

Grundsätzlich ist die gesamte Schöpfung und Natur, sind alle Lebewesen und Menschen polar. Entgegengesetzte Pole wie Tag-Nacht, Heiß-Kalt, Leben-Tod, Reich-Arm, Mann-Frau lassen Spannungen entstehen, die nach Ausgleich trachten. Diese allumfassende Anziehungskraft sorgt für Attraktivität und die wiederum für die Kreativität, die die gesamte Evolution treibt, wie der Wissenschaftsautor Tilmann Steiner darstellt.[10] Diese Pole finden sich auch in der Elektrizität und im Elektromagnetismus in „Plus“ und „Minus“. Sie konstituieren den hinlänglich bekannten Magneten, in dem elektromagnetische Wellen fließen. Die beiden Pole einschließlich ihrer Verbindung in der Form eines Hufeisens lassen sich als Parteienlandschaft abbilden. Die Pole sind „rechts“ und „links“, dazwischen erstreckt sich die breite Mitte mit allen ihren politisch-weltanschaulichen Schattierungen. Rechts und links sollen hier nicht gebrauchssprachlich als primär-politisch qualifiziert werden und sind auch nicht in die Hufeisen- und Extremismustheorie[11] eingebunden. Die Kategorien repräsentieren die eingangs herausgestellten Hauptvektoren, top-down von oben nach unten und anti-autoritäres Entgegenwirken von unten nach oben. Stellvertretend hierfür stehen im rechten Polit-Spektrum eher die Führer- und Führungskultur, im linken das solidarisch-gemeinsam Inkludierende.

Wenn man nun zwischen diese Pole eine Drahtschlaufe oder eine Spule platziert und dreht, entsteht ein elektrischer Strom und lässt eine Glühbirne aufleuchten – Dynamoprinzip! Die Zivilgesellschaft in ihrer Buntheit und diversesten Organisationen, die für das Gemeinwohl im weitesten Sinne wirken, ließe sich mit dieser Spule gleichsetzen. Sie sorgt in dieser elektromagnetischen Arbeitseinheit für Output und Leistung. Allein vermag sie das nicht, sondern nur in dieser Polarität aus Institutionen bestehender Gesamtheit einschließlich ihrer selbst. Sie wird zum Transformationsriemen zwischen den unterschiedlichen Interessen, ist Vermittler und vor allem Aktuator.

IV. Im Quanten-Modus

Der elektromagnetische Zugang lässt sich in der Welt der Naturwissenschaften weiter veranschaulichen und vertiefen. 2025 begeht die Welt das Quanten-Jubiläum. Vor hundert Jahren erfanden Planck und Heisenberg die Quantenphysik. Es führt das elektromagnetische Modell noch einen Schritt weiter. Die Quantenwelt besteht aus Teilchen, Wellen, Energiepäckchen. Sie alle sind verbunden, kommunizieren miteinander, wirken aufeinander.

Zivilgesellschaftlich heruntertransformiert: Die Menschen sind eng miteinander verflochten und bilden eine Körperschaft. Der Homo civicus steht in der Mitte und ist Hauptakteur – er folgt dem verfassungskonformen Ruf der Demokratien: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“[12] Dieses Modell ließe sich in Anlehnung an das physikalische Grundprinzip im sozialen Kontext auch „Quantendemokratie“ nennen. Es bringt einen zivilgesellschaftlichen Quantensprung zum Ausdruck. Dieser unterstreicht die demokratischen Grundtugenden von Freiheit und Gleichheit, Partizipation und Inklusion und hebt sie auf eine höhere Ebene. Sie leben sich aus im ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Engagement in enger Verschränkung mit den gesellschaftlichen Institutionen. Dieses soziale Quantenverständnis reflektierte bereits Immanuel Kant. Für ihn repräsentierte jeder Mensch die gesamte Menschheit, woraus er eine gegenseitige moralische Verpflichtung ableitete. Menschen spiegeln einander ihre Menschlichkeit, was in eine kollektive Moralität mündet.[13]

In den aktuellen Jubiläen von Kant und Planck reicht sich die Forschung in ihren geistes- und naturwissenschaftlichen Zweigen die Hände und unternimmt in dieser Vereinigung selbst einen Quantensprung. Dieses Verständnis könnte der Zivilgesellschaft ein frisches Label aufsetzen, ihr zu neuer Popularität verhelfen und den seit Jahren beklagten Trend über ein schrumpfendes Aktionsfeld der Zivilgesellschaft stoppen respektive umkehren helfen.[14] In Summe: Agiler Quantismus, hohe Beweglichkeit der Bürgerschaft auf allen sozialen Spielfeldern von unten nach oben federt den oben herrschenden und von dort herab auf die Bürgerschaft wirkenden Etatismus, Dirigismus, Paternalismus des Staates ab. Im Bild: Wie alle physiologischen und sozialen Organismen suchen Erstarrungs- und Verkalkungsprozesse naturgemäß auch Demokratie, Parteien, Parlamentarismus heim. Die Zivilgesellschaft idealerweise ist Entkalker und Verflüssiger, Wandler und Dynamo, Turbine und Jet.

V. Yin und Yang Allegorie

Das bisher Erschlossene fließt zusammen in einem modernen Bild von der Zivilgesellschaft als kosmopolitischer Motor eines Weltgeistes, bei dem alles im Flow und miteinander verbunden ist, in dem auch die auseinanderstrebenden Wissenschaften in ihren Ausrichtungen auf Natur, Soziales, Geist erstmals einen gemeinsamen Fixpunkt finden. Hierin findet sich wieder auch die Vorstellung der antiken Griechen vom lebendigen Gaia-Universum, das bei den andinen Völkern bis heute als Pluriversum fortlebt. Dieser Energieverbund ist die Heimat couragierter und empowerter Bürger und Bürgerinnen, mehr zivil- oder civic-zentriert als ideologisch bewegt mit Verwurzelung im Parteienspektrum. Hieraus leitet sich der Homo civicus ab. Er delegiert nicht alle seine Probleme an Parteien und Staat, sondern setzt sich für die Lösung gemeinschaftlich in seiner Community ein und organisiert sie rund um die jeweils auftretenden Nöte. So entsteht eine aus der Bürgermitte wirkende wehrhafte, sich selbst reformierende, wirklich resiliente Demokratie, die den Namen verdient.

Diese Qualifizierung ist wichtig in einem Land wie Deutschland, einem historisch fast prototypischen Top-down-Staat mit dünner demokratischer Tradition, mit Extremwenden zwischen Nazi-Terror und Weltkrieg sowie stalinistischem DDR-Kommunismus. Zwischen diesen politisch-ideologischen Spitzkehren wäre eine sich weiter vernetzend konstituierende Zivilgesellschaft ein Puffer, ein cordon sanitaire zwischen den sich derzeit erneut ankündigenden Extremismen, national wie international. Damit käme der Zivilgesellschaft demokratiepolitisch eine zentral stabilisierende Funktion zu.

Rechts und Links erscheinen nicht kontrovers, dialektisch, als quasi religiöses Schisma, sondern als Teile einer Symmetrie, zwei Seiten ein und derselben Münze, komplementär. Dies wird im Blick auf die Kulturen deutlich. In Europa und im Christentum ist rechts eher mit rechtens verbunden, auf der richtigen Seite sein, was sich auch aus der Rechtshändigkeit ableitet, während links eher linkisch, unbeholfen, ja schlecht ist. Dieses Verständnis spiegelt sich in der Bibel und in den großen Kunstwerken, wo Jesus “zur Rechten des Vaters” sitzt, rechts mit Himmel, links mit Hölle assoziiert ist. Anders in Ostasien, zum Beispiel Korea. Dort gibt es eine Links-Dominanz, so saß der ranghöchste Minister zur Linken des Königs.[15] Im buddhistischen Yin und Yang dann durchdringen die Zuordnungen einander, verschmelzen und wirken gemeinsam. Der internationale Blick zeigt: Unser Ordnungssystem ist eher zufällig, willkürlich, relativ. Das hier vorgestellte zivilgesellschaftliche Modell enthebt Gemeinwohl-Arbeitenden der Rigidität politischer Systeme.

VI. Drei Empowerment-Impulse

  1. Wenn es bisher oft hieß, dass die Menschen zu sehr unter Berufsstress litten, als dass sie sich tatkräftig um ihre Civitas und Polis, Bürgergemeinschaft und Community kümmern könnten, so öffnet der breite Trend zur Viertagewoche und einer ausgewogeneren Work-Life-Balance neue Freiräume und Zeitbudgets. Pro-aktiv zu überlegen wäre, ob sich Engagement über das rein Ideelle und die bestehenden Ehrenamtspauschalen hinaus nicht auch materiell mehr lohnen müsste. Gemeint sind steuerliche Freibeträge und Anreize, Boni und Gratifikationen bei Renten und Versicherungen, Gratis-Fortbildungen, Vergünstigungen bei Wohnen, Mobilität, zentralen Lebensbezügen.[16] Genossenschaftliches Wohnen eröffnet ein innovatives Spielfeld für Community Spirit und Gemeinwohl mit tiefgreifend ökonomischer Verzahnung. Weniger komplex, dafür ein Signal: der Vorschlag einer Gratis-Fahrerlaubnis für jugendliche Ehrenamtliche, von Bayerns CSU.[17] Ergänzend und übergreifend ist ernsthaft darüber nachzudenken, die Förderung der Parteien aus Steuergeldern auch CSOs angedeihen zu lassen, etikettiert etwa durch einen Civic Cent, ein Prozent der den Parteien vergüteten Steuergelder an die CSOs weiterzureichen; oder eine solche Unterstützung nach einem sonstigen Schlüssel und Reglement zu organisieren.

 

  1. Durch die aktuell diskutierte Einführung eines sozialen Pflichtjahres nach dem Schulabschluss ebenso wie mit Eintritt in die Rente dürfte sich dieses enorme Freiwilligen- und Hilfspotenzial im hier präsentierten Drei-Säulen-Modell noch einmal beträchtlich steigern lassen. Beide, jugendliche Agilität ebenso wie die Professionalität von Senioren ließe sich weit über die nationalen Grenzen hinweg einsetzen mit Entwicklungsimpulsen in sämtliche Richtungen, Global Nord und Global Süd, nach draußen wie zurück nach innen[18]. Steht doch fest, dass private Entwicklungsinitiativen durch Vereine[19] den bürokratisiert-staatlichen weit überlegen sind. Das alles firmiert unter dem Schlagwort, eher hip und trendig: Voluntarismus.[20]

 

  1. Nicht nur rationalisieren, kritisieren, debattieren, sondern fordern, umsetzen, unorthodoxe Anläufe wagen! Solche Reformvorschläge wurden vom Bündnis zur Erneuerung der Demokratie BED bereits um die Jahrhundertwende entwickelt und ins öffentliche Gespräch getragen.[21] Sie fanden energische Unterstützung von Hildegard Hamm-Brücher. Sie war eine der ersten Frauen in höheren Parteipositionen, aber kehrte ihrer Partei den Rücken, weil sie in Widerstreit mit der FDP-Parteidisziplin geriet.[22] Ihr Ruf war der einer „streitbaren Demokratin“, ikonisch, auch weil sie dem NS-Widerstandskreis “Weiße Rose” nahegestanden hatte. Nach Erkennen der parteipolitischen Limitierungen im Demokratieprozess wandte sie sich verstärkt den Belangen der Bürgergesellschaft zu und begleitete zivilgesellschaftliche Projekte als renommierte Schirmfrau.

Eine Frischzellenkur für die erstarrende Demokratie, das war auch Thema bei einem vom BED einberufenen Rechenschaftsbericht der Münchner Bundestagsabgeordneten. Ein wenig pikiert hatten die Amtsträger der Einladung Folge geleistet, denn öffentlich Rechenschaft über ihr Wirken abzulegen, das war ein Novum und in ihrer Jobbeschreibung so nicht vorgesehen. Die Forderung nach einem Civic Cent wurde von den anwesenden Volksvertretern verworfen, ebenso eine institutionelle Verankerung der Zivilgesellschaft als in die politischen Prozesse einzubeziehendes Organ der Klärung und Mitgestaltung. Das wäre in der herrschenden Parteiendemokratie für den Geschmack vieler Politiker eine allzu mächtige Konkurrenz in der Parteienlandschaft gewesen, sogar das Grundgesetz verletzend, argumentierten einige – womit erkennbar wird, dass das Repräsentativitätsprinzip durch die Parteien einem Staat im Staate ähnelt, im saloppen Klartext: So flach ist die Herrschaftspyramide durch die Demokratie nun auch nicht geworden. Der Führungsstil bleibt primär top-down.

Deutschland steckt fest in der Führung und den Zügeln durch Parteien. Parteiunabhängige Initiativen haben es schwer. Die starke Gravitationskraft der Parteien könnte auch eine sich weiter formierende und differenzierende Zivilgesellschaft in ihren Sog ziehen, vielleicht CSO in den Parteienstatus treten lassen. Das wäre ein großer Verlust an Civic Spirit, was auch als kritischer Einwand zu diesem Entwurf zu verstehen ist. Mit der Durchformalisierung und mehr Struktur könnte sich die Zivilgesellschaft selbst kannibalisieren.

Aber: Ein gelingendes Beispiel einer traditionell weitgehend ideologiefreien Zivilgesellschaft ist das Community Organizing CO. Vor fast 100 Jahren in Chicago erfunden und mittlerweile international präsent ist es auch in Deutschland etabliert. CO ist imstande, über die Parteien hinweg eine Vielzahl unterschiedlicher Stakeholder zu einer öffentlichen Kontroverse zu versammeln und die bestmöglichen Lösungen meist gegen etablierte Interessensgemeinschaften, Seilschaften und Lobbies, Verwaltungs- und Herrschaftssysteme durchzusetzen.[23] Wichtig: Im Community Organizing finden auch Glaubensgemeinschaften einen zivilgesellschaftlichen Schirm und Verzahnung mit anderen Aktionsgruppen. Mehr: Organizer, Initiatoren, Trägerorganisationen entstammen oft den großen Religionsgemeinschaften, christlichen, muslimischen, jüdischen. Durch Community Organisationen nähern sich auch verfeindete Religionen an. In der Nachbarschaftsarbeit erfahren sie einen inter-religiösen Austausch – ein die politischen und religiösen Grenzen sprengender Win-Win.

Mit Blick auf die alarmierend wachsende Demokratiemüdigkeit wird erkennbar, warum die Zivilgesellschaft eine massive demokratische Ergänzung darstellt. Sie ist imstande, in der wachsenden Polarisation überparteilich und meta-ideologisch für frische Kooperationsanstöße zu sorgen. Im Mittelpunkt steht der Homo civicus. Anders als der Homo politicus steht er über den Parteien, ist primär gemeinschafts- und gemeinsinn-affin, gleichwohl als wahlberechtigter Bürger / wahlberechtigte Bürgerin in die Arena der Politik engst eingebunden. In seinem überparteilichen Engagement verleiht er / sie unserem Gemeinwesen bislang ideell, materiell, institutionell nicht ausreichend honorierte additive Energie, Impulse, Reformkraft.

Mögen die hier vorgelegten Thesen den Diskurs darüber beflügeln!

Dieser Aufsatz wird unterstützt durch eine Abfolge von fünf Grafiken [24] angelehnt an eine Graphic Novel auf Englisch und ist Teil eines Tandems. Ein zweiter ergänzender Maecenata Observatorium Beitrag befasst sich mit dem Potenzial der Zivilgesellschaft als Motor internationalen Kulturtransfers.

[1] https://www.facebook.com/HeidelbergAlumniInternational/photos/we-are-pleased-to-announce-another-interesting-event-as-part-of-the-heidelberg-t/1007700954693170/ (11.08.2024)

[2] Siehe hierzu auch https://www.fachjournalist.de/PDF-Dateien/2012/05/FJ_7_2003-Fachjournalismus-von-den-Menschen.pdf (11.08.2024)

[3] Weiter ausformuliert in Wolfgang Chr. Goede: Im Civic Spirit: Divers. Vital. Pluriversal – Warum Jede und Jeder zählt! Berlin: Maecenata (Opusculum Nr. 179) 2023 https://www.maecenata.eu/2023/09/20/im-civic-spirit-divers-vital-pluriversal-warum-jede-und-jeder-zaehlt/ (11.08.2024)

[4] Ausführliche Recherche in Wolfgang Chr. Goede: Mentale Gesundheit: Kein Tabu, sondern selbstverständlich! Berlin: Maecenata (Observatorium Nr. 55) 2021 https://www.maecenata.eu/2021/09/16/mentale-gesundheit-kein-tabu-sondern-selbstverstaendlich/ (11.08.2024)

[5] Siehe auch https://www.shz-muenchen.de/data/pdf/a-shz-jahresbericht-30-04-2024-final-0516-1527-12.pdf (11.08.2024)

[6] Siehe “Vorstandsdämmerung am Starnberger See” https://www.rudersport-magazin.de/magazin/heft-archiv/291-in-ausgabe-06-2023-lesen-sie (11.08.2024)

[7] Martin Krauß: Dabei sein wäre alles. Wie Athletinnen und Athleten bis heute gegen Ausgrenzung kämpfen. Eine neue Geschichte des Sports. Gütersloh: Bertelsmann 2024

[8] https://www.fnp.de/frankfurt/der-geschichte-juedischer-ruderer-auf-der-spur-92870390.html (18.09.2024)

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Finke_(Wissenschaftstheoretiker) (11.08.2024)

[10] https://www.teli.de/der-steiner-code/ (11.08.2024)

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_Spektrum (18.09.2024), https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/hufeisentheorie-marcel-solar-erklaert-die-extremismustheorie (18.09.2024)

[12] Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz

[13] Nach Lyndsey Stonebridge: Wir sind frei, die Welt zu verändern. Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam, München C.H. Beck 2024, S. 71

[14] https://civic-forum.eu/wp-content/uploads/2024/05/Civic-Space-Report-2024_ECF.pdf (11.08.2024)

[15] Vgl. https://www.nzz.ch/meinung/rechts-und-links-weit-mehr-als-nur-eine-raumunterscheidung-ld.1841277 (11.08.2024)

[16] Mit Vorschlägen hierzu https://www.aktive-buergerschaft.de/mehr-anreize-fuer-das-ehrenamt-bieten/ (11.08.2024), sowie Rupert Graf Strachwitz in “Stiftung Aktive Bürgerschaft” https://www.aktive-buergerschaft.de/neue-rahmenbedingungen-fuer-die-zivilgesellschaft-wo-stehen-wir/ (11.08.2024)

[17] https://www.pnp.de/nachrichten/bayern/holetschek-csu-schlaegt-gratis-fuehrerscheine-fuer-ehrenamtliche-vor-16797533 (18.09.2024)

[18] S. Selbsthilfe im internationalen Rahmen und Indien in Brand Eins https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2024/geld/indien-fuenf-millionen-frauen-eine-selbsthilfegruppe (11.08.2024)

[19] Wie Projekte des Deutsch-Kolumbianischen Freundeskreises DKF für indigene Populationen: https://www.dkfev.de/projekte/wayuu-projekt/ (18.09.2024)

[20] Spezialzeitschrift hierzu https://www.nomos.de/zeitschriften/voluntaris/ (11.08.2024)

[21] Im Newsletter des Forums Community Organizing https://www.fo-co.info/wp-content/uploads/2020/11/22_FOCO-Rundbrief_Archiv.pdf (11.08.2024)

[22] S. Nachruf in https://www.deutschlandfunkkultur.de/nachruf-auf-hildegard-hamm-bruecher-die-freischaffende-100.html (11.08.2024)

[23] S. Wolfgang Chr. Goede: Community Organizing – Methodenkoffer für Bürgermacht: Auch transformatorisch? Berlin: Maecenata (Opusculum Nr. 171) 2022. https://www.maecenata.eu/2022/12/14/community-organizing-methodenkoffer-fuer-buergermacht-auch-transformatorisch/ (11.08.2024); s. Berichte George Goehl https://www.georgegoehl.org/ (11.08.2024), und ergänzend “Letter from an American” https://heathercoxrichardson.substack.com/p/july-28-2024?utm_source=post-email-title&publication_id=20533&post_id=147115092&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=hc9n2&triedRedirect=true&utm_medium=email (11.08.2024) wie auch das 50-jährige Jubiläum der Greater Southwest Development Corporation https://greatersouthwest.org/ (18.09.2024)

[24] https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=7383

Wolfgang Chr. Goede, München-Medellín, ist Wissenschaftsjournalist, Facilitator und Fellow der Maecenata Stiftung.

Mit Dank für freundschaftlich-kritische Begleitung an Henning Belle, Nicolás Jaramillo, Franz Kohout, Gunda Krauss, Tilmann Steiner, Bernd Tödte sowie an die gesamte Goede Obeso Familie für großzügige zeitliche Freistellung über die Jahre.

Der Text reflektiert persönliche Erfahrungen und Studien des Autors aus einem halben Jahrhundert zivilgesellschaftlichem Engagement im transatlantischen Raum.

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