Observatorium 74 – Menschenrechte aus westlicher Perspektive

Observatorium 74 I 24.01.2024 I Philipp Sarasin

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Der Beitrag wurde am 27. November 2023 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der Katholischen Akademie Berlin, des Freundeskreises des Zentrums Moderner Orient, des Orientinstituts Beirut und des MENA Study Centre der Maecenata Stiftung in Berlin vorgetragen.

Meine Aufgabe hier ist, über die Menschenrechte aus westlicher Perspektive zu sprechen. Gestatten Sie mir, dass ich dazu als Historiker mit der Geschichtsschreibung beginne. Denn die Menschenrechte waren für die Geschichtswissenschaft lange Zeit kaum ein Thema; weit über die routinierte Feststellung hinaus, dass im Jahr 1789 in Paris die droits de l’homme et du citoyen erklärt wurden, ging das kaum. Diese Nicht- oder Kaumbeachtung hat nun erst vor etwa 15 Jahren einer neuen und bis heute anhaltenden Aufmerksamkeit Platz gemacht, genauer gesagt, seit die amerikanische Historikerin Lynn Hunt im Jahr 2007 ihr Buch Inventing Human Rights veröffentlicht hatte[1]. Der Titel allein sagt schon einiges: Obwohl die Déclaration von 1789 mit den Worten beginnt, es gehe darum, die „natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen zu schützen“, sind Menschenrechte selbstverständlich weder etwas „Natürliches“ noch gar ein der Geschichte enthobenes „Heiliges“, sondern wurden „erfunden“, invented. Die Geschichte dieser Erfindung geht laut Lynn Hunt zurück auf eine sich seit der Renaissance, vor allem aber im 18. Jahrhundert in Europa entwickelnde Wertschätzung der psychologischen und intellektuellen Einzigartigkeit des Individuums, ja, wie man im 18. Jahrhundert sagte, seiner „Sensibilität“. In Verbindung mit dem bürgerlichen Besitzindividualismus erklärt dieser geistesgeschichtliche Hintergrund den bekannten Fokus der Déclaration vom 26. August 1789 auf das Individuum. Dies wird in mehreren Formulierungen deutlich, etwa in Artikel 1: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten“ und in Artikel 2: „Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“; in Artikel 17 heißt es dazu ergänzend, das „Eigentum“ sei „ein unverletzliches und heiliges Recht“; dazu kommt die Betonung der Meinungsfreiheit als ebenfalls elementares Recht.

Es ist nun aber wichtig, dass mehrere Artikel der Déclaration betonen, alle diese Rechte könnten nur von einem Staat garantiert werden, der selbst unter der Herrschaft allgemeiner Gesetze steht, und dessen Organe von den freien und gleichen – und natürlich männlichen – Staatsbürgern gewählt sein müssen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehörten also von Anfang an zu diesem Konzept; sie sollen dazu dienen, die Freiheit, das Eigentum und die Sicherheit der Individuen zu sichern.

Dieser erste Teil des Buches von Lynn Hunt, das heißt ihre geistes- und kulturgeschichtliche Genealogie der Menschenrechte, wurde von der Kritik sehr gelobt. Zweifel hingegen gab es an ihrer weiteren These, dass sich die Idee von unveräußerlichen Rechten „des“ Menschen seit der Französischen Revolution nur immer weiter verbreitet habe, und vor allem: dass die UNO-Deklaration der Menschenrechte von 1948, die Universal declaration of human rights, in einer direkten Verbindung mit der französischen Erklärung von 1789 stünde.

Vor allem der amerikanische Rechtshistoriker Samuel Moyn hat diese These entschieden zurückgewiesen[2]. So wandte er gegen Hunt erstens ein, dass die droits de l‘homme von 1789 strikt auf den Rahmen der Nation bezogen blieben, das heißt eine Schutzverpflichtung des Staates seinen männlichen Bürgern gegenüber darstellten – und sie insofern eben nicht „universell“ waren –, während die UNO-Deklaration von 1948 über diesen Rahmen hinausging, dabei aber die Frage unbeantwortet ließ, wer denn nun, jenseits eines Nationalstaates, diese Rechte verleihen und garantieren könne.

Doch noch gewichtiger ist etwas anderes, nämlich das, was zwischen 1789 und 1948 geschah, beziehungsweise schon lange davor und noch eine ganze Weile lang danach. Das ist Moyns zweiter Einwand gegen die Kontinuitätsthese von Lynn Hunt: Völkerrechtlich und politisch nämlich spielten die droits de l’homme in den langen anderthalb Jahrhunderten zwischen der Französischen Revolution und dem Zweiten Weltkrieg keine Rolle. Warum? Nun, die Antwort ist einigermaßen simpel, wenn auch zentral, ja sie ist der eigentliche Elefant im Raum: Schon die französische Erklärung der Menschenrechte erfolgte auf dem Hintergrund eines aufklärerischen philosophischen Denkens, das zwar in abstrakten Worten die esclavage „des“ Menschen denunzierte, zur massiven Ausbeutung afrikanischer Sklaven auf den hochprofitablen französischen Zuckerrohrplantagen in der Karibik aber kaum ein Wort der Kritik fand. Dieses Muster hielt sich: Eine explizite Betonung und Ingeltungsetzung der Menschenrechte hätte sich mit dem europäischen Kolonialismus und dem sich entwickelnden wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts offenkundig nur schlecht vertragen. Im Zeitalter der verweigerten Gleichheit und Freiheit in den europäischen Kolonialgebieten, wie auch, nicht zu vergessen, in den segregierten Staaten der USA noch lange nach Abschaffung der Sklaverei, mussten die Menschenrechte von 1789 als normative Referenz schlicht obsolet erscheinen. Selbst in Frankreich verschwanden die droits de l’homme schon 1799 aus der Verfassung – und tauchten dort erst 1948 wieder auf, also im Jahr der UNO-Declaration.

Diese nach langen, zähen Verhandlungen und auf dem Hintergrund der Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts am 10. Dezember 1948 wiederum in Paris erklärte Universal Declaration of Human Rights war umfassender als die déclaration von 1789. Dies vor allem, weil sie auf Druck der Sowjetunion und gegen den anfänglichen Widerstand westlicher Staaten von economic, social and cultural rights spricht oder vom Recht auf social security oder auf education. Die UNO-Deklaration war mithin nicht allein das Produkt westlicher Staaten, auch wenn sich dann in der Schlussabstimmung die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten, aber auch Saudi Arabien und Südafrika der Stimme enthalten hatten.

Fakt ist aber auch, dass in den zwei Jahrzehnten unmittelbar nach ihrer Erklärung die Menschenrechte als Rechtsgrundsätze international nur wenig Beachtung fanden. Denn ohne bindenden Charakter und ohne Mechanismen zu ihrer Durchsetzung konnten diese, so der Historiker Jan Eckel, „rein deklaratorischen“ Rechte gegen die politische Konfliktlogik des Kalten Krieges und gegen die Interessen der europäischen Kolonialmächte keine normative Kraft entfalten[3]. Eine gewisse Ausnahme bildete die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, die nicht zuletzt als ideelle Selbstverständigungsbasis der west-europäischen Staaten gegenüber dem „Ostblock“ dienten.

Doch warum waren nun, wie ich eingangs sagte, die 1970er Jahre eine entscheidende Etappe hin zum heutigen Menschenrechtsregime? Ich möchte zur Erklärung zwei Daten nennen: Am 20. Januar 1977 erklärte der neu vereidigte Präsident Jimmy Carter in seiner mit viel national-religiöser Metaphorik untermalten Inaugurationsrede, dass die Verpflichtung der USA auf eine Politik der Menschenrechte künftig „absolut“ sein werde. Nach dem moralischen Debakel des Vietnam-Krieges klang diese Ankündigung erst einmal gut. Doch der Präsident betonte dann in weiteren Reden, dass die Souveränität von Staaten dort eine Grenze finden müsse, wo diese Menschenrechtsverletzungen begehen würden. Da fragten sich manche, wie die USA gedachten, diesen „absoluten“ Anspruch ihrer Außenpolitik auch tatsächlich durchzusetzen – und die Sowjetunion nannte Carters Ankündigung mit deutlicher Verärgerung schlicht eine gefährliche Wiederbelebung des Kalten Krieges. Der Spiegel schrieb im April 77 gar, Carter habe „eine Waffe aus dem geistigen Arsenal des späten 18. Jahrhunderts scharf gemacht, von der kaum jemand glaubte, dass sie im Zeitalter technisch-wirtschaftlicher Prioritäten noch ernst zu nehmen sei“.

Das zweite, vielleicht nicht ganz so spektakuläre Datum ist der 10. Dezember 1977, als die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Oslo den Friedensnobelpreis erhielt. Amnesty war bekanntlich eine Basisbewegung, in der kleine Gruppen von Aktivist:innen jeweils einen politischen Gefangenen aus der Ersten, der Zweiten und der Dritten Welt betreuten und sich persönlich für seine oder ihre Freilassung einsetzten. Der Vorsitzende des Nobelkomitees hob in seiner Rede daher besonders hervor, dass Amnesty zeigen würde, „dass gewöhnliche Männer und Frauen einen sinnvollen Beitrag zum Frieden leisten können“ – und zwar zu einem Frieden, der nicht einfach in der Abwesenheit von Krieg bestehe, sondern „in der Freiheit der Meinung, des Gewissens und der religiösen Überzeugung des Einzelnen“.

An diesen beiden Daten des Jahres 1977 also zeigte sich ein Doppeltes: Menschenrechte wurden in der Interpretation von Carter und des Nobelpreis-Komitees als westliches, wenn nicht gar, so im Falle der USA, möglicherweise unter der Hand sogar neo-imperialistisches Konzept präsentiert – und gemeint waren damit auch klar individuelle Werte, hier sogar eingeschränkt auf Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Denn die Sprache der Menschenrechte war seit Anfang der 1970er Jahre an verschiedenen Orten der Welt in ganz neuartiger Weise zu einem gängigen Idiom politischer Resistenz geworden. Vor allem in Brasilien, Chile und Argentinien konnte sich der Protest gegen die Gewalt der Militärregierungen nicht mehr als kollektiver, von einem politischen Programm getragener Widerstand formulieren – die entsprechenden Gruppierungen der Linken waren weitgehend zerschlagen –, sondern allein noch als Forderung nach Achtung der Menschenrechte. In nicht unähnlicher Weise bildeten sich in den 1970er Jahren auch in der sogenannten Zweiten Welt kleine Gruppen wie zum Beispiel in der Tschechoslowakei die „Charta 77“, die sich darauf beschränken mussten, von ihrer Regierungen die Einhaltung der eigentlich verfassungsmäßig garantierten Menschenrechte einzufordern. Dazu kamen die unzähligen Solidaritätsgruppen im Westen, die die Verletzung der Menschenrechte namentlich in Chile skandalisierten, oder, nach der blutigen Niederschlagung des Schüleraufstandes in Soweto 1976, die Anti-Apartheid-Gruppen, die von Südafrika die Respektierung der Menschenrechte und das Ende der Apartheid forderten. Jan Eckel hat daher davon gesprochen, dass die breite neue Bewegung für die Human Rights in den 1970er Jahren kein bloß westliches Phänomen darstellten, sondern eine polyzentrische Bewegung „von unten“– und Samuel Moyn sprach mit Blick auf die Linke, der die revolutionären Hoffnungen der 1960er Jahre abhandengekommen waren, von den human rights als dem „last Utopia“, der letzten Utopie und politischen Zielvorstellung der globalen Linken.

Dass damit hinsichtlich der globalen Linken das letzte Wort gesprochen wurde, würde Moyn heute wohl nicht mehr behaupten. Doch das nur nebenbei. Sie sehen jedenfalls, dass in den 1970er Jahren viele jener Stränge und Elemente der Geschichte der Menschenrechte ausgelegt wurden, die zur heutigen, insgesamt sehr widersprüchlichen Situation geführt haben. Zwar wurde damals noch kaum wirklich diskutiert, ob die Menschenrechte „universell“ gelten würden oder nicht doch ein bloß westliches Konzept seien; aber es wurde schon sichtbar, dass die Human Rights in vielen Teilen der Welt für die politische Kritik an willkürlicher Macht und Gewalt des Staates eine wichtige Referenz darstellten. Andrerseits aber wurde mit Carters unrettbar doppelbödigen Ankündigung von der „absoluten“ Geltung der Menschenrechte das vorbereitet, was dann in den 1990er Jahren als humanitarian intervention und ab 2005 als Responsibility to Protect (R2P) die Konsequenz haben konnte, dass im Namen der Menschenrechte Krieg geführt wurde. Seit dem Debakel des Irakkrieges ist die westliche Begeisterung für solche Missionen zwar merklich geschwunden. Aber die Frage, welche Rechte welcher Menschen durch die Human Rights geschützt werden, ist nach wie vor ebenso offen wie die Frage, wer solche Rechte garantieren und gegebenenfalls durchsetzen könnte.

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Prof. Dr. Philipp Sarasin ist emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Zürich. Er ist u.a. Mitherausgeber des Magazins ‚Geschichte der Gegenwart‘ und publizierte unter anderem 2021 das Buch „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ im Suhrkamp Verlag.

[1] Lynn Hunt: Inventing Human Rights, New York: W. W. Norton 2007
[2] Samuel Moyn: The Last Utopia: Human Rights in History. Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2010
[3] Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2014