Julian Nida-Rümelin / Klaus Zierer
Schon Friedrich Ebert, Deutschlands erster demokratisch gewählter Reichspräsident, soll vor 100 Jahren ausgerufen haben: „Demokratie braucht Demokraten!“ Denn sie setzt voraus, daß sich Menschen für Demokratie engagieren. Zwei Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen haben ein Buch zu diesem Thema von hoher Aktualität vorgelegt. Sich zu engagieren, ist, wie schon Adam Smith (!) feststellte, im Menschen angelegt. Dieses Engagement aber auf die Demokratie zu fokussieren, geschieht nicht von allein. Wie sagte es in einem Workshop am Rande der Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements ein Jugendlicher 2001 auf die Frage eines Abgeordneten, wo man denn Engagement lernen könne? „In der Schule, wo denn sonst!“ Also ist wohl die These, die Resilienz unserer Demokratie hänge in der Tat entscheidend davon ab, daß in den allgemeinbildenden Schulen Demokraten herangebildet werden, richtig. Die Autoren spitzen dies schon im Titel zu: ‚Demokratie in die Köpfe – Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet‘. Die Frage ist, was sie auf rd. 200 Seiten dazu zu sagen haben.
Vor einigen Jahren habe ich mich einmal an einer Debatte beteiligt, als es darum ging, daß in einer Abiturprüfung verlangt wurde, die Sicherheitsstrategie der NATO anhand eines Kategorienmodells zu erläutern. Daß das sozialwissenschaftliche Modell eines Kategorienmodells für Abiturienten wohl eine Überforderung darstelle, stand im Zentrum der öffentlichen Kritik. Ich habe dem seinerzeit hinzugefügt, statt der Sicherheitsstrategie der NATO, mit der sich riesige professionelle Stäbe mit wechselndem Erfolg herumschlagen, sei doch vielleicht eine Beschäftigung mit dem bürgerschaftlichen Engagement, dem Beitrag von Bürgerin und Bürger zur Gesellschaft und damit zur Demokratie ein lohnenderer Prüfungsinhalt. Dazu, wie derlei in den Schulen umgesetzt werden kann, hätte ich gern in dem Band mehr gefunden. Wie bringt man bürgerschaftliches Handeln, bürgerschaftliche Verantwortung und weitere demokratierelevante Ansätze in die Curricula, in die Schulen, an die Schülerinnen und Schüler? Wie übt man sie ein? Ist Service-Learning der richtige Ansatz? Gibt es Alternativen? Bessere Alternativen? Dazu hätte ich gern mehr erfahren, habe ich aber nicht.
Julian Nida-Rümelin, politischer Philosoph mit praktischer politischer Erfahrung, weiß genau, wovon ich da spreche. Daß davon in dem Band so wenig zu finden ist, liegt wohl daran, daß ihn im Grunde genommen der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer verfaßt und dafür so reichlich aus älteren Publikationen von Nida-Rümelin in der (leider inzwischen eingestellten) Edition Körber Stiftung geschöpft hat, daß Plagiatsvorwürfe am besten durch eine Mitautorenschaft zu vermeiden waren.
Als wissenschaftlicher Essay leistet das Buch durchaus einen interessanten Beitrag zu einer auch, aber keineswegs nur bildungspolitischen Debatte, zu der man sich noch sehr viel mehr Beiträge wünschen würde, damit das Thema ‚Demokratie und wie wir sie erhalten‘ endlich auch im politischen Raum aus dem engen Korsett von finanziellen Förderprogrammen pfadabhängiger Art à la Demokratiefördergesetz herausfindet und die Demokratinnen und Demokraten emotional und rational packt. Aber warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet, wird im Grunde nur am Rande und auf hohem Abstraktionsniveau behandelt und geht letztlich in dem Rundumschlag zu Krise, Demokratie und Bildung unter. Ein kleiner Spiegelstrich unter zehn anderen stellt in einer zitierten Empfehlung der Kultusministerkonferenz unter dem Titel Umsetzung von Maßnahmen durch die Länder lapidar fest: „Ermutigung und Unterstützung der Schulen bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer Formen der Partizipation und des bürgerschaftlichen Engagements (zum Beispiel Peer-to-Peer-Lernen, Service-Learning)“ (S. 129). Viel mehr erfährt man nicht darüber, wie die Schulen das nun anstellen sollen. Anders gesagt: Das Buch kommt als Praxis-Handbuch daher, ist aber keines. Ein solches wäre dringend erforderlich.
In der erwähnten Enquete-Kommission gab es eine Podiumsdiskussion mit Robert Putnam, Claus Offe und Julian Nida-Rümelin, damals Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien. An diese Diskussion, in der dieser dafür plädierte, „ein demokratisch verfaßter Staat sollte seine Institutionen als Kooperationsangebot und als stabilisierenden Faktor von Kooperation interpretieren und entsprechend anlegen“[1], könnte man wieder anknüpfen. Die staatliche Schule, in der über 90% aller Schülerinnen und Schüler ihre Schulzeit absolvieren, als Kooperationsangebot wäre doch ein interessanter Ausgangspunkt.
Überraschenderweise hat Julian Nida-Rümelin an sein Plädoyer von 2001 angeknüpft und insoweit den Wunsch des Rezensenten bereits erfüllt! Ebenfalls neu erschienen ist nämlich bei der Körber Stiftung eine Veröffentlichung unter dem Titel ‚Die Rolle der Zivilkultur in der Demokratie‘. Sie greift genau dieses Thema auf und bietet einen Ansatz für eine Debatte, bei der vielleicht Zivilgesellschaftsforscher andere Akzente setzen würden, die aber auf jeden Fall einen Beitrag zu der Diskussion um den Stellenwert des bürgerschaftlichen im politischen Raum leistet. Warum der Autor wieder einen neuen Begriff – Zivilkultur – einführt, ist zunächst nicht ohne weiteres einsehbar, aber auch darüber kann man sich unterhalten. Die Studie richtet sich unter anderem an die Zivilgesellschaft. Ob sie tatsächlich in der Lage ist, „das Spannungsverhältnis zwischen normativer Demokratietheorie und den praktischen Folgen für die […] Politik auf- [zu] -lösen“, mag dahinstehen; dieses zu beschreiben, ist schon in sich ein wertvoller Beitrag.
Im Mittelpunkt steht die politische Praxis auf kommunaler Ebene (Kap. 4 & 5). Davor aber werden einige wesentliche Traditionslinien, vor allem aber auch Voraussetzungen diskutiert, die es ernst zu nehmen gilt, wenn eine resiliente Zivilkultur (wieder-) entstehen soll. Dem Verfasser „geht es um den öffentlichen Diskurs in der Zivilkultur, um öffentliche Räume in der Zivilkultur und um kulturelle Transzendenz, also die Fähigkeit der einzelnen Person, ihre kulturelle Prägung so weit zu relativieren und Distanz zu ihr zu gewinnen, dass sie in der Lage ist, mit Personen anderer kultureller Identitäten erfolgreich zu kommunizieren und zu interagieren.“
Daß auch Nida-Rümelin vom Rechtsstaat anstatt von der Herrschaft des Rechts spricht, ist zu bedauern. Um so mehr ist seiner griffigen Definition von Demokratie als „kollektive Selbstbestimmung der Gleichen und Freien“ zuzustimmen, schon gar der Ergänzung: „Die kollektive Selbstbestimmung der Freien und Gleichen manifestiert sich in einer inklusiven kooperativen Praxis, die sich nicht auf die politische Sphäre beschränkt.“ Die Zivilkultur einer Demokratie – insofern ist der neue Ausdruck richtig – verlangt, so stellt der Verfasser fest, mehr als die Bereitschaft, sich an die Normen der Verfassung und des Rechts zu halten.
Es lohnt sich, den Text aufmerksam zu lesen, denn unvermutet tauchen in ihm wichtige Vokabeln auf: Respekt beispielsweise, auch Toleranz, Partizipation, kulturelle Transzendenz und vor allem Kooperationsbereitschaft. Ein eigener Abschnitt ist der zivilgesellschaftlichen Beteiligung gewidmet. Er hebt wesentlich auf die Ergebnisse der genannten Enquete-Kommission ab. Alles in allem wäre es gut, wenn die Aussagen nicht nur in der Kommunalpolitik, sondern auch in den Ländern, im Bund und in der Europäischen Union zur Kenntnis genommen würden. Für letzteres würde man sich eine englische Übersetzung wünschen.
von Rupert Graf Strachwitz
[1] Julian Nida-Rümelin: Bürgergesellschaft als ethisches Projekt. In: Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Opladen: Leske & Budrich 2002 (Schriftenreihe der Enquete-Kommission Bd. 1), S. 255