Die aktivierte Bürgerin: Eine qualitative Analyse der Motivation von Frauen zu freiwilliger Arbeit mit Geflüchteten

Opusculum 167 | 29.07.2022 | Malica Christ | Eine qualitative Erforschung der Motive von Frauen zu freiwilliger Geflüchtetenarbeit

Zusammenfassung

Die Geflüchtetenschutzkrise 2015 fortfolgend hat Menschen aus verschiedensten Gründen motiviert, sich spontan und auch langfristig in der freiwilligen Arbeit mit Geflüchteten zu engagieren. Quantitative Studien belegen einen Aktivierungsschub der Zivilgesellschaft in Deutschland. Die Befunde zeigen, dass Frauen – im Vergleich zum gesamten Bereich des bürgerschaftlichen Engagements – in der freiwilligen Geflüchtetenarbeit zu einem höheren Anteil aktiv sind.

Es fehlt an qualitativen Studien zur Motivation der Engagierten und an einer Genderdifferenzierung, um Teilhabepotenziale zu erkennen. Ziel der Arbeit ist es, anhand problemzentrierter Interviews einen Einblick in die Motive von den befragten Frauen* für ein Engagement in der Geflüchtetenarbeit zu erhalten, um so zu untersuchen, inwiefern die Geflüchtetenschutzkrise auf die Aktivierung von Frauen* gewirkt hat.

Aus der Zusammenschau von quantitativen Studien, die die Motivation von Engagierten ab dem Jahr 2015 untersuchen, ergeben sich Besonderheiten des Engagementfeldes der freiwilligen Ge-flüchtetenarbeit. War es vor 2015 noch eine exklusive Gruppe, die sich unabhängig von etablierten Organisationen insbesondere für die Rechte von Geflüchteten einsetzte, unterstützen ab 2015 große Teile der Bevölkerung die ankommenden Menschen in unterschiedlicher Form. Die akut wahrge-nommene Krisensituation hat als Auslöser für das Engagement gewirkt und die Motive verändert. Als weitere Besonderheit des Engagementfeldes ist der Kontext der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung des Engagements in der Geflüchtetenarbeit hervorzuheben. Dieser Kontext legt nahe, dass die Motive der Engagierten möglicherweise über individuelles Engagement hinausgehen und – ähnlich wie in sozialen Bewegungen – im Kollektiv gesellschaftliche und politische Ziele und Wirkungen durch das Engagement verfolgt werden. Der qualitative Ansatz dieser Forschungsarbeit bietet die Möglichkeit, die Motive der engagierten Frauen* auch anhand von Theorien aus der Bewe-gungsforschung zu untersuchen.

Die qualitativen Forschungsergebnisse zeigen die Komplexität der Motive von engagierten Frauen* in der Geflüchtetenarbeit auf:
In der qualitativen Analyse der Interviews wurde festgestellt, dass konkrete Auslöser und Schlüssel-momente im Zusammenhang mit der Geflüchtetenschutzkrise eine relevante Rolle für die Aktivierung aller Befragten gespielt haben. Die mediale und lokale Präsenz der akuten Notsituation war Auslöser für organisiertes Engagement, einhergehend mit der Möglichkeit direkt und lokal tätig zu werden. Auch die mediale Wahrnehmung von einer Vielzahl von Freiwilligen hat den Eindruck vermittelt, dass durch die Zivilgesellschaft der „Krise“ begegnet werden kann und so das Motiv verstärkt, sich als Teil dieser Bewegung in Helfergruppen und Nachbarschaftsinitiativen zu organisieren. Dabei stand bei der Auswahl für die Unterstützungsform von Geflüchteten für die Befragten im Vordergrund, schnell und nach identifizierten Bedarfen zu unterstützen. Mit der Veränderung des Engagementfeldes von der akuten Nothilfe hinzu einem etabliertem Engagementfeld können die Befragten ihre persönlichen, wie auch beruflichen Fähigkeiten, auf vielfältige Weise einbringen. Zudem zeigt sich, dass sich auch NGOs und soziale Bewegungen in dem Feld verstärkt vernetzt haben und hier niedrigschwelliger Zugang für die Befragten möglich war.

Als dominantes Motiv für die Auswahl der Zielgruppe der Geflüchteten konnte das Bewusstsein einer Verantwortung gegenüber Menschen in Not ausgemacht werden, sowie eine hohe Identifikation mit den Adressat*innen, teilweise aufgrund eigener Diskriminierungserfahrungen. Dabei waren das Staatsversagen und der daraus hergeleitete zivilgesellschaftliche Handlungsbedarf ein deutliches Motiv. Die Reflexion der eigenen Privilegien wird erst durch die mediale Präsenz der Notsituation und dem direkten Kontakt mit Geflüchteten angestoßen. Unabhängig von der Zielgruppe ist für die Befragten freiwilliges Engagement aber auch ein Wert an sich, welcher in der freiwilligen Geflüchtetenarbeit Ausdruck findet.

Es zeigt sich, dass die Befragten insbesondere im direkten Kontakt mit Geflüchteten Wirksamkeit erfahren, was stark zum Weitermachen motiviert. Dabei begreifen die Befragten ihr Engagement im direkten Kontakt mit Geflüchteten in der Nachbarschaft als gelebte Willkommenskultur, wobei sie gesellschaftliche Integration – in Differenz zum verbreitetem Integrationsverständnis – nicht einseitig, sondern als gesamtgesellschaftlichen Prozess verstehen. Ein weiteres deutliches Motiv ist eine Stigmatisierung von Geflüchteten durch Gesellschaft und Politik, der das Engagement als Zeichen entgegengesetzt werden soll und zu kollektivem Handeln in der Geflüchtetenarbeit motiviert.

In der Forschungsarbeit werden Spezifika des Engagementfeldes der freiwilligen Geflüchtetenarbeit herausgestellt – der direkte Kontakt zu den Adressat*innen, die lokalen Zugangsmöglichkeiten und auch die Polarisierung des Engagementfeldes – die katalysierend auf die Beteiligung von Frauen* wirken. Hier wird ein Potenzial der Aktivierung von Bürger*innen erkannt, dass zur Bereicherung im Leben, zur gesellschaftlichen Mitgestaltung führt und als politisches Statement verstanden wird.