MY COLLEAGUE FROM UKRAINE: “Einige der verabschiedeten Gesetze werden nach dem Ende des Krieges nicht außer Kraft treten” [Ausgabe 2]

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“Einige der verabschiedeten Gesetze werden nach dem Ende des Krieges nicht außer Kraft treten”: Wie zivilgesellschaftliche Organisationen in der Ukraine weiterhin Watchdogs sind

Ausgabe 2 | 03.06.2022

 

Eine Blog-Reihe unserer ukrainischen Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova

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In diesem Blog möchte ich über einige ukrainische NGOs berichten, welche die Watchdog-Rolle entweder als Haupt- oder aber als Nebenaufgabe ausführen, und aufzeigen, wie sie diese Rolle jetzt, in Zeiten des Krieges, wahrnehmen. Ich habe dafür auch VertreterInnen einiger Organisationen gefragt, ob und wie sich diese Watchdog-Rolle unter den aktuellen Umständen verändert hat und warum sie es für wichtig halten, die Entscheidungen und Initiativen der Behörden weiterhin zu überwachen.

Das Digital Security Lab (ukr. Лабораторія цифрової безпеки) ist eine NGO, die ein Team von SpezialistInnen auf dem Gebiet der digitalen Sicherheit und der Internetfreiheit vereint. Ihre Haupttätigkeit besteht darin, ukrainischen JournalistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und AktivistInnen der Zivilgesellschaft zu helfen, sich mit den Fragen der digitalen Sicherheit auseinanderzusetzen, indem sie Schulungen und Webinare sowie Beratungen und Audits zur digitalen Sicherheit durchführen. Daneben setzt sich die Organisation aber auch für die freie Meinungsäußerung und das Recht auf Privatsphäre im Internet ein. Ebenso gegen ungerechtfertigte Einschränkungen, Verbote und Blockaden durch die Regierung oder Unternehmen und bietet Lösungen zum Schutz der Menschenrechte an. Diesem Auftrag kommt sie auch in Kriegszeiten nach. So analysierte das Digital Security Lab, warum die Gesetzesänderungen zur Beschleunigung der Ermittlungen bei Straftaten im Rahmen des Kriegsrechts und insbesondere zur Vereinfachung des Zugangs zu “digitalen Beweisen”, wie Informationen von persönlichen Geräten oder öffentlichen Videokameras, eine Reihe von Risiken für den Schutz der Privatsphäre der NutzerInnen mit sich bringen.

Die Organisation reagierte auch auf das Verbot visueller Inhalte, die die Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine darstellen, in den populären sozialen Medien (Instagram, Facebook) zu veröffentlichen und initiierte eine öffentliche Erklärung, der sich andere zivilgesellschaftliche Organisationen angeschlossen haben. In dieser Erklärung wurde das Verbot als klarer Missbrauch der Meta-Community-Standards bezeichnet. Digitallab sprach sich gegen eine Moderation derartigen Inhalts aus, da diese Publikationen ein breiteres Publikum für die von den russischen Truppen begangenen internationalen Verbrechen sensibilisieren und auch als wertvolle Beweise für künftige Klagen vor internationalen Gerichten verwendet werden könnten.

Wie viele andere NGOs hat auch die NGO Labor Initiatives (ukr. Трудові ініціативи), die sich mit den Rechten der ArbeitnehmerInnen und der Freiheit der Arbeitnehmervereinigungen befasst, ihre Aktivitäten aufgrund des Krieges neu ausgerichtet und leistet gerade auch verschiedenartige humanitäre Hilfe. So hat die Organisation beispielsweise einen ehrenamtlichen Hub “Trade Union Lifeline” eingerichtet, an dem GewerkschaftsaktivistInnen aus dem ganzen Land beteiligt sind. Gleichzeitig führt die Labor Initiatives aber auch weiterhin ihre Hauptaktivitäten durch: an erster Stelle bietet sie kostenlose Rechtsberatung an. Inna Kudinska, Rechtsanwältin und Mitglied des Teams der Labor Initiatives, berichtet, dass von den ersten Tagen der russischen Invasion an hunderte von Menschen die Hotline der NGO kontaktierten, da auf dem Arbeitsmarkt während des Krieges erhebliche Verluste zu verzeichnen waren. Etwa wollten sich diejenigen, die wegen des Krieges geflohen waren, als Remote-MitarbeiterInnen registrieren lassen, wieder andere baten um Hilfe bei der Beendigung des Arbeitsvertrags mit dem Arbeitgeber, der im besetzten Gebiet geblieben war.

Die Labor Initiatives nimmt auch ihre zweite Hauptaufgabe wahr: sie überwachet die Gesetzesinitiativen in ihrem Arbeitsbereich und veröffentlichen regelmäßig öffentliche Stellungnahmen, in denen sie sowohl die Stärken der Gesetzesinitiativen als auch die potenziellen Gefahren für die Rechte der ArbeitnehmerInnen hervorhebt.

“Die Verabschiedung der neuen Gesetze sollte vor allem darauf abzielen, die Verteidigungsfähigkeit des Staates zu erhöhen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht”, sagt Kudinska. “Es gibt jedoch viele neue Arbeitsgesetze, die heute verabschiedet werden, die sich manchmal sogar widersprechen und bei deren Umsetzung in der Praxis Probleme entstehen können. Außerdem besteht die Gefahr, dass einige der verabschiedeten Gesetze nach Kriegsende nicht außer Kraft treten, sondern in Friedenszeiten weiter gelten”.

Die Organisation möchte darauf aufmerksam machen, dass die ArbeitgeberInnen nun mehr Rechte für einseitige Entscheidungen haben, was häufig zu Rechtsverletzungen auf Seite der ArbeitnehmerInnen führt, deren Gefährdung sich unter dem Kriegsrecht noch vergrößert.

Eine der ältesten ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich mit dem Thema Menschenrechten befasst, die Ukrainian Helsinki Human Rights Union (ukr. Українська Гельсінська спілка з прав людини, UHHRU), erfüllt ihre Mission auch während des Krieges. Die Organisation, die über ein fundiertes Fachwissen bei der Überwachung von Verletzungen von Rechten und Freiheiten verfügt, beschränkt sich nicht nur auf die Meldung solcher Fälle, die von der russischen Armee begangen werden. Sie überwacht auch die neu verabschiedeten Gesetze, Gesetzesentwürfe und andere Rechtsakte. So schloss sich die Organisation beispielsweise der kritischen Stellungnahme der ukrainischen СSOs gegen die Änderungen des ukrainischen Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten zum “Schutz der Ehre und Würde der Bürger und der Ordnungshüter” (gemeint sind: PolizistInnen) an. Ein Gesetzentwurf, der dem ukrainischen Parlament am ersten Tag des Krieges vorgelegt wurde, führte eine Strafe für die “Beleidigung eines Polizeibeamten” ein, die es in der ukrainischen Gesetzgebung zuvor nicht gegeben hatte. In der Stellungnahme wird erläutert, dass die Möglichkeit einer subjektiven und willkürlichen Auslegung des Begriffs “Beleidigung” in der Praxis zu einer ungerechtfertigten Verfolgung von JournalistInnen und AktivistInnen der Zivilgesellschaft sowie zu deren Selbstzensur führen könnte. Neben anderen Organisationen weist die UHHRU darauf hin, dass es sich hierbei um einen Missbrauch des Kriegsrechts handelt, der das Umfeld für unabhängigen Journalismus, friedliche Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung – also der gemeinsamen demokratischen Werte in der Ukraine – verschlechtern könnte.

Seit vielen Jahren führt eine andere NGO — Laboratory of Legislative Initiatives (ukr. Лабораторія законодавчих ініціатив) — verschiedene Projekte durch, die darauf abzielen, die Beteiligung des zivilen Sektors am Gesetzgebungsprozess sicherzustellen. Die Organisation, die versucht die Interaktion zwischen Regierung und Zivilgesellschaft zu stärken und effektiver zu gestalten, beobachtet auch die Arbeit des Parlaments und erarbeitet bzw. vertritt ihre Vorschläge für die Gesetzesentwürfe. Momentan beobachtet und analysiert diese Organisation nicht nur die gesetzgebende Tätigkeit des ukrainischen Parlaments, sondern überwacht auch, wie die Parlamentsarbeit unter Kriegsbedingungen organisiert wird, wenn etablierte Arbeitsprozesse nicht immer umsetzbar sind.

In diesem Zusammenhang weist das Laboratory of Legislative Initiatives darauf hin, dass die organisatorischen Abläufe der Parlamentsarbeit unter dem Kriegsrecht noch nicht vollständig geregelt sind. Daher plädiert es für die Notwendigkeit, besondere Verfahren (z.B. für die Vorbereitung von Gesetzesentwürfen oder die Abhaltung von Sitzungen) der parlamentarischen Arbeit unter solchen Umständen einzuführen und festzulegen, damit die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen in Kriegszeiten weder jetzt noch in Zukunft untergraben wird.

Das Institute of Legislative Ideas ist ein unabhängiger Think Tank, dessen Motto lautet: “Wir finden Gesetze, die nicht für die Gesellschaft funktionieren”. Seit mehr als fünf Jahren führt diese NGO Anti-Korruptionsgutachten zu Gesetzesentwürfen durch, um zu verhindern, dass die Struktur der Gesetze anfällig für Korruption ist. Durch die Analyse sowie durch die Ausarbeitung und Empfehlung von Gesetzesinitiativen zielt diese NGO darauf ab, “die Gesetzgebung zu verbessern, damit es der Gesellschaft als Ganzes zugutekommt”.

Tetiana Khutor, Vorsitzende der Organisation, sagt, dass die meisten ursprünglichen Aktivitäten der NGO in den ersten Kriegswochen nicht relevant waren.

„Zu dieser Zeit wäre es seltsam gewesen, von der Regierung und der Gesellschaft zu verlangen, Aufmerksamkeit und Ressourcen auf andere Bereiche als das Überleben und die Sicherheit zu konzentrieren. Daher hatte sich das Institut, wie die meisten anderen CSOs, in den ersten drei Kriegswochen fast ausschließlich auf humanitäre Hilfe konzentriert. Damals wussten wir nicht, wie das Parlament arbeiten würde, wie aktiv und in welchen Bereichen die Gesetzgebungsarbeit überhaupt stattfinden würde. Außerdem war es nicht klar, wie offen die parlamentarische Arbeit sein würde. Wir haben die Texte der ersten Gesetzesentwürfe erst nach deren Verabschiedung gesehen“, sagt Khutor.

Doch schon bald nahm das Institut seine reguläre Tätigkeit wieder auf. Der NGO beobachtet und analysiert neue Gesetze, die verschiedene Lebensbereiche während des Krieges regeln, und veröffentlicht kurze Texte und Infografiken, um die Öffentlichkeit auf die Änderungen aufmerksam zu machen.

„Wir haben verstanden, dass es falsch wäre, unser Fachwissen nicht zu nutzen”, sagt Khutor. „Wir begannen damit, der Gesellschaft die verabschiedeten Gesetze zu erklären. Das hat sich als nützlich erwiesen, denn es wurde von den Medien gut aufgenommen, sodass es viel Nachfrage seitens der Öffentlichkeit gab. Seit das Parlament die Gesetzentwürfe zugänglich gemacht hat, haben wir sie vor der Verabschiedung analysiert, um die Öffentlichkeit über deren Risiken und Vorteile zu informieren. Das Ergebnis war, dass einige Gesetzesentwürfe erhebliche Diskussionen auslösten und nicht verabschiedet wurden. Und das ist gelungen, obwohl das Parlament jetzt in einem sehr schnellen Modus mit minimalen Diskussionen arbeitet. Wir haben also gesehen, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, die Aufmerksamkeit auf mit dem Gesetz einhergehende Risiken zu lenken, manchmal die Verabschiedung von nicht sehr positiven Gesetzesvorlagen verhindert und die Öffentlichkeit auf die gute Gesetzesentwürfe aufmerksam macht”.

So hat das Institut eine Analyse des Gesetzes über die Konfiszierung des Eigentums russischer und weißrussischer BürgerInnen in der Ukraine, das Anfang Mai im ukrainischen Parlament verabschiedet wurde, durchgeführt und veröffentlicht. Die ExpertInnen der NGO wiesen sowohl auf die Vor- als auch auf die Nachteile und Risiken dieses Gesetzes hin und erklärten, dass die Konfiszierung russischen und weißrussischen Privatvermögens ein rechtliches Problem darstellen könnte. Die NGO führte auch eine umfassende Analyse anderer möglicher Modelle für die Konfiszierung durch und zeigte deren Vor- und Nachteile auf. Obwohl sie die Idee der Regierung zur Konfiszierung unterstützt, weist sie gleichzeitig öffentlich darauf hin, wie wichtig es ist, die richtigen Rechtsgrundlagen und Mechanismen zu wählen, um dieses Rechtsinstrument möglichst effektiv einzusetzen.

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Inna Kudinska von den Labour Initiatives ist der Ansicht, dass auch während des Krieges eine vernünftige kritische Bewertung der Aktivitäten des Parlaments und anderer staatlicher Institutionen durch die Öffentlichkeit sowie eine objektive Berichterstattung in den Medien notwendig ist.

„Nur durch gemeinsame Anstrengungen und eine ausgewogene Herangehensweise an Veränderungen in der Arbeitswelt können wir menschenwürdige Arbeitsbedingungen während des Krieges und die Grundlage für die wirtschaftliche Erholung des Staates nach dessen Ende sicherstellen”, fügt Kudinska hinzu.

Eine ähnliche Meinung vertritt auch die Vorsitzende des Institute of Legislative Ideas:

„Jetzt haben sich die Tätigkeiten der Behörden in größerem Umfang stabilisiert und sind weniger unsicher als zuvor, viele ihrer Funktionen werden erneuert. Gleichzeitig können wir beobachten, dass die übergeordnete Gesetzgebung den untergeordneten Stellen bzw. Gremien mehr Ermessensspielraum einräumt. Leider nutzen einige BeamtInnen diesen Ermessensspielraum nicht nur für gute, sondern auch für schlechte Zwecke”, sagt Tetiana Khutor. „Daher ist es besonders in einer Zeit, in der das Land keine Zeit für eine breite öffentliche Diskussion bestimmter gesetzgeberischer Entscheidungen hat, wichtig, die Transparenz deren Umsetzung zu überwachen”.

Es ist schwer vorherzusagen, welche weiteren Schwierigkeiten und Herausforderungen die ukrainische Gesellschaft in den kommenden Monaten und nach dem Ende des Krieges zu bewältigen haben wird. Es sollte jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Zivilgesellschaft weiterhin darin besteht, die Maßnahmen der Behörden zu überwachen. Schließlich hängt das Wohlergehen der ukrainischen Bevölkerung stark davon ab, wie die Gesetzgebung und deren Implementierung auf diese Herausforderungen reagiert.

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