MY COLLEAGUE FROM UKRAINE: Ein „Watchdog“ während des Krieges: Notizen zum öffentlichen Raum [Ausgabe 1]

                                   MY COLLEAGUE FROM UKRAINE

                                        Ein „Watchdog“ während des Krieges: Notizen zum öffentlichen Raum

Ausgabe 1 | 20.05.2022

 

 

Eine Blog-Reihe unserer ukrainischen Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova

Blogbeitrag als PDF herunterladen in: Deutsch und Englisch

Wie andere Menschen, die sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine aktiv engagieren, stelle ich mir immer wieder die Frage: „Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche Organisationen während eines massiven Krieges im Land?“ In den ersten Wochen des Krieges hat sich diese Frage immer wieder zur Frage “Was soll gerade getan werden?” verwandelt. Oft hat die Antwort auf diese Frage möglicherweise nichts damit zu tun, was die Organisation oder der*die einzelne Aktivist*in vor dem 24. Februar getan hat. Stattdessen könnte sich die Antwort auf diese Frage eher auf die praktische Unterstützung beziehen, die von der Gemeinschaft oder bestimmten sozialen Gruppen, denen Organisation oder Aktivist*in angehören, benötigt wird. Dementsprechend waren viele zivilgesellschaftliche Organisationen, Freiwilligenbewegungen und Graswurzelinitiativen an der Evakuierung oder der Aufnahme von Geflüchteten, der Lieferung von Lebensmitteln oder Medikamenten, dem Kauf und / oder Transport humanitärer Güter beteiligt.

Einige Monate nach Kriegsbeginn könnte es nun allerdings der richtige Zeitpunkt sein, um die Frage nach der Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen während des Krieges zu formulieren – mit Blick auf ihre klassischen Funktionen. Bislang haben nicht alle CSOs ihre Aktivitäten während des Krieges grundlegend verändert und diese vollständig an die Erfordernisse der Kriegszeit angepasst. Einige CSOs sind zumindest teilweise wieder in ihren ursprünglichen Bereichen tätig. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine der Schlüsselrollen zivilgesellschaftlicher Organisationen eingehen, nämlich die Watchdog-Rolle. Diese Rolle besteht darin, die Entscheidungen, Politiken und Gesetzesinitiativen der Behörden zu überwachen und konstruktive Kritik und Vorschläge anzubieten, die im Falle vieler Organisationen die Stimmen von Menschen darstellen, die keinen direkten Zugang zu Entscheidungsprozessen haben. Tatsächlich ist es diese Aktivität und diese Rolle des Zivilsektors, die ihn zu einer der unabdingbaren Säulen einer demokratischen Gesellschaft macht.

Diese Rolle der Zivilgesellschaft kann ohne öffentliche Sphäre, die Diskussionen über sämtliche gemeinsame Anliegen einen offenen Raum bietet, nicht bestehen. Eben jener diskursive Raum, in dem sich Privatpersonen über gemeinsame Angelegenheiten austauschen können (wenn wir uns der Definition der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas zuwenden), erfährt während des Krieges jedoch einige Veränderungen. Nach dem Kriegsrecht und unter den Luftangriffen haben die zivilgesellschaftlichen Akteure ein begrenztes Instrumentarium, um direkte Kritik an bestimmten Regierungsentscheidungen zu äußern. Es ist zum Beispiel schwer vorstellbar, dass große öffentliche Versammlungen (z. B. Proteste, Märsche usw.) jetzt stattfinden können. Auch werden viele Entscheidungen schneller getroffen und öffentliche Diskussionen sind emotionaler geworden — auch im Hinblick auf die Diskussion, welche Fragen überhaupt jetzt auf dem Tisch liegen dürfen.

Anfang der Woche habe ich wie immer einen Newsletter von einem der wichtigsten ukrainischen Informationsportale für zivilgesellschaftliche Organisationen bekommen. Er begann mit einem kurzen Appell an seine Leser*innen über das Thema, welches vorerst das Hauptkriterium für die Zweckmäßigkeit der Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Ukraine ist – ihr Beitrag zur Verstärkung der Verteidigungsfähigkeiten der ukrainischen Armee. Es ist schwer, nicht zuzustimmen, dass das erste und höchste Ziel aller Ukrainer*innen darin besteht, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen. Aber auch im Bereich der inneren Angelegenheiten setzen die staatlichen und kommunalen Behörden ihre Arbeit fort, sie verabschieden neue Gesetze, erarbeiten und implementieren Strategien zur Bekämpfung der verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Probleme, die durch den Krieg entstanden sind. Einige dieser Aktionen und Strategien mögen gut geplant sein, einige verdienen vielleicht jedoch tatsächlich einige kritische Anmerkungen. Es besteht immer die Gefahr, dass einige benachteiligte oder gefährdete Gruppen durch Entscheidungen zurückgelassen werden und dass die schwierigen Zeiten missbraucht werden, um einige Richtlinien durchzusetzen, die ansonst nicht durchgesetzt würden. Daher ist es wichtig, die Bedeutung der Watchdog-Rolle zivilgesellschaftlicher Organisation gerade auch in Kriegszeiten zu verstärken. In den nächsten Blogbeiträgen werde ich die Stimmen einiger CSOs aus der Ukraine vorstellen, die diese Rolle in einer Reihe von Bereichen innehaben, und mit Ihnen teilen, wie sie diese Rolle jetzt ausüben.

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