Stellungnahme Koalitionsverhandlungen

Berlin | 21.10.2021 | Persönlicher Aufruf von Prof. Dr. R. Roth und Dr. R. G. Strachwitz zu den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen

Für eine zukunftsfähige, vielfältige Demokratie durch Bürgerbeteiligung und eine starke Zivilgesellschaft

Was der Wahlkampf bereits ahnen ließ, wird durch das vorgelegte Ergebnis der Sondierungsgespräche zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bestätigt. Dort wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Versprochen wird »eine umfassende Erneuerung unseres Landes«, »neue politische Kreativität«, »Aufbruch« und ein »Neubeginn«. Die »Fortschrittskoalition« will die Weichen für ein Jahrzehnt umfassender Erneuerung in allen Lebensbereichen stellen.

Viele der genannten ökologischen und sozialen Reformziele sind überfällig und konsensfähig. Ob sie jedoch ausgerechnet von jenen Parteien umgesetzt werden können, die seit Jahren in unterschiedlichen Konstellationen in Bund und Land mitregieren, darf bezweifelt werden. Noch skeptischer stimmen die bevorzugten Mittel und Wege. Da ist – wie schon so oft – viel von einem modernen Staat, neuen Technologien, einer Digitalisierungsoffensive, von Marktkräften und neuer Wettbewerbsfähigkeit die Rede. Wer fehlt, sind die Bürgerinnen und Bürger, ihre Initiativen und Zusammenschlüsse, sprich die Zivilgesellschaft. Mit der Abgabe ihrer Stimme sind die Wählerinnen und Wähler als politische Akteure aus dem Blickfeld der Koalitionäre verschwunden. Als Beitrag zu einer »modernen Demokratie« werden – neben der überfälligen Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre – lediglich Bürgerdialoge und Bürgerräte genannt. Es darf bezweifelt werden, ob die gelegentliche Politikberatung durch Zufallsbürgerinnen ausreicht, um den gewachsenen Beteiligungsansprüchen in der Bevölkerung gerecht zu werden.

Stattdessen ist mit neuerlichen Beschleunigungsgesetzen zu rechnen, wenn »schnelle Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungserfahrungen« versprochen werden. Von Beteiligung und Mitsprache der Bürgerschaft ist keine Rede, obwohl die Erfahrungen in Baden-Württemberg zeigen, dass die dort obligatorische Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben des Landes meist keine zeitlichen Verzögerungen gebracht, aber bessere, breiter akzeptierte Lösungen ermöglicht haben. Nach allen Erfahrungen werden es weder »befreite« Märkte noch eine technokratische »Erneuerung von oben« bringen. Ohne eine proaktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger werden weder die ökologischen noch die digitalen Ziele zu erreichen sein.

Einmal mehr geht es aktuell darum, mehr Demokratie zu wagen. Keine der großen Herausforderungen unserer Zeit wird ohne die Phantasie und Mitarbeit der Vielen angepackt werden können. Die Bereitschaft sich zu engagieren und politisch über das Wählen hinaus zu beteiligen, ist groß. Dieser für demokratische Problemlösungen unabdingbare Schatz wird in den Sondierungen völlig vernachlässigt. Dies ist verwunderlich, wird doch die Forderung nach mehr Beteiligung an politischen Entscheidungen bereits seit Jahren von Mehrheiten in unserer Gesellschaft erhoben und kommt nicht selten in Initiativen und Protesten zum Ausdruck. Gleichzeitig sinkt das Vertrauen in Parteien und Parlamente. Ihre Verankerung in der Gesellschaft ist brüchig geworden. Dies gilt auch für die Akzeptanz und das Vertrauen in die dort getroffenen Entscheidungen.

Es ist müßig, die zahlreichen Krisenerscheinungen der repräsentativen Demokratie aufzulisten. Die Gegenmittel für eine Revitalisierung der Demokratie sind bekannt.

In den letzten Jahrzehnten wurde weltweit eine Fülle von Beteiligungsformaten erfunden oder wiederentdeckt, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitsprache an der Gestaltung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten einräumen. Hier eine Auswahl:

(a) Formen direkter Demokratie haben nach der Vereinigung in den Bundesländern und auf kommunaler Ebene an Boden gewinnen können. Und ihre Leistungsbilanz ist positiv, auch wenn ihre Häufigkeit und Reichweite notwendig begrenzt bleibt. Noch stärker haben sich Fonds und Budgets in verschiedenen Politikfeldern und auf allen politischen Ebenen ausgebreitet, wo Bürgerinnen und Bürgern Mittel für Vorschläge und Projekte zur Verfügung stehen, über die sie gemeinsam demokratisch entscheiden. Verfügungsfonds in Gebieten der Sozialen Stadt, Schülerhaushalte, die zur schülergerechten Gestaltung der eigenen Schule einladen, Budgets für kommunale Kinder- und Jugendvertretungen, die einen Beitrag zu kinder- und jugendfreundlichen Kommunen leisten, oder kommunale Bürgerfonds, die in Dörfern oder Städten Initiativen der Einwohnerschaft unterstützen – die Liste solcher direkt-demokratischen Formen ließe sich fortsetzen. Sie haben den Vorzug, dass sich Engagierte als wirksam erleben können.

(b) Einen wahren Boom haben in den letzten Jahren beratende und dialogische Formen der Bürgerbeteiligung erlebt. Die Zahl der unterschiedlichen Formate und Handelsmarken geht in die Hunderte. Bürgerinnen und Bürger beraten Politik oder bringen ihre Interessen und Sichtweisen ein, ohne in Frage zu stellen, dass letztlich die Parlamente entscheiden. Gleichzeitig füllen die beratenden Bürgerinnen und Bürger so Lücken, die durch die nachlassende Repräsentationskraft von Parteien und Verbänden entstanden sind.

Besondere Aufmerksamkeit erfahren in jüngster Zeit geloste Bürgerräte, die im Prinzip auf allen föderalen Ebenen und Themen einsetzbar sind. Losverfahren ermöglichen im Prinzip eine breitere Beteiligung und können mit ihren Vorschlägen näher an das Ideal heranführen, das Gemeinwohl zu repräsentieren. Offen ist bislang jedoch, ob und in welchem Umfang die Vorschläge in Entscheidungsprozesse Eingang finden.

(c) Die demokratischen Potentiale von Bürgerinitiativen, Protesten und sozialen Bewegungen, in denen seit mehreren Jahrzehnten deutlich mehr Menschen aktiv werden als in politischen Parteien, werden noch immer unterschätzt. Die vorbildliche Engagement- und Beteiligungspolitik des Landes Baden-Württemberg hätte ohne die massiven Proteste gegen das Bahnprojekt »Stuttgart 21« und den damit verbundenen Regierungswechsel keine Chance bekommen. Es hat ein Verfassungsgerichtsurteil gebraucht, um die Legitimität und Dringlichkeit der Forderungen von »Fridays for Future« auch dem Bundestag zu verdeutlichen. Umso mehr kommt es darauf an, institutionelle Verknüpfungen zwischen den unverfassten Formen politischer Partizipation und parlamentarischen Prozessen zu erfinden, wie dies z.B. in lokalen Klimaschutzplänen geschieht.

(d) Besonders eindrucksvoll war in den letzten Jahren das bürgerschaftliche Engagement, wenn es um Krisenlagen und unerwartete gesellschaftliche Herausforderungen ging. Beispiele sind die verstärkte Fluchtzuwanderung Mitte des letzten Jahrzehnts, die zahlreichen Hilfsaktionen in Corona-Zeiten, aber auch die Hilfen für die Flutopfer im Ahrtal. Auch im Normalbetrieb leisten viele Initiativen, Vereine und Stiftungen wichtige Beiträge zur politischen Kultur, indem sie im Kleinen etwas gestalten. Ohne dieses Engagement wird es keine Klimawende geben. Ihr Einsatz für Vielfalt und eine demokratische Korrektur von »dunklen« Entwicklungen – von rassistischen und antisemitischen Übergriffen bis zur Auseinandersetzung mit der Misstrauenskultur der »Querdenken«-Mobilisierungen – ist unverzichtbar. Gerade mit und nach Corona ist ihre engagementpolitische Unterstützung notwendig. Die spürbare Tendenz zur Vernachlässigung der Zivilgesellschaft darf sich nicht fortsetzen.

Repräsentative Formen sind unabdingbar und prägend, aber auch sie können verbessert werden, wie die anhaltenden Debatten um das Wahlrecht für Menschen ohne deutschen oder EU-Pass oder die faire Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen in Parteien und Parlamenten zeigen. Immerhin signalisiert das Sondierungspapier sich in Sachen Wahlalter und Bürgerschaftsrecht Reformbereitschaft.

Keine der beschriebenen Formen ist demokratisch »stubenrein«, wie z.B. »Pegida« auf der Straße oder die Etablierung der AfD in zahlreichen Parlamenten zeigen. Keine dieser Formen wird es alleine bringen, vielmehr sind sie auf wechselseitige Unterstützung und Korrektur angewiesen.

Engagement und Beteiligung haben einen deutlichen Schwerpunkt auf kommunaler Ebene. Mehr als einhundert Kommunen haben Leitlinien zur Bürgerbeteiligung entwickelt und sich damit dem Leitbild Bürgerkommune verpflichtet. Eine wachsende Zahl von Partizipationsbeauftragten verknüpfen Impulse aus der Bürgerschaft mit Kommunalverwaltung und –politik. Diese lokalen Ansätze zu einer vertieften und vielfältigen Demokratie haben auf Dauer wirksame Gestaltungsmöglichkeiten, wenn sie durch die Landes- und Bundespolitik anerkannt, gewürdigt und gefördert werden. Dass und wie dies gelingen kann, ist in einigen Bundesprogrammen und Landesministerien zu besichtigen. Sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn es um Zukunftsaufgaben geht, ist unverzeihlich.

Bislang hat sich der Bundestag, zumindest die Mehrheit seiner Abgeordneten geweigert, solche demokratischen Impulse und die damit verbundenen Reformchancen überhaupt ernsthaft zu diskutieren. Die im letzten Koalitionsvertrag angekündigte Kommission zum Thema ist nie eingesetzt worden. Ein Blick auf die Wahlprogramme und die laufenden Sondierungen lässt vorerst kein Umdenken erkennen. Umso wichtiger ist es, dass die demokratische Zivilgesellschaft ihre Stimme erhebt, um Schaden von unserem Gemeinwesen abzuwenden. Auch in Sachen Demokratie darf es kein Weiterso geben!

Autoren

Prof. Dr. Roland Roth ist Politikwissenschaftler – zuletzt am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal und war Mitglied der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« des XIV. Deutschen Bundestags.

Kontakt: roland.roth1@gmx.de

Dr. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung München und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin. Er war Mitglied der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« des XIV. Deutschen Bundestags.

Kontakt: rs@maecenata.eu

Die Stellungnahme ist Teil des BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland Nr. 21. vom 21.10.2021.

Kontakt: newsletter@b-b-e.de