Observatorium 47 | 07.12.2020 | In der Zivilgesellschaft wird zur Zeit viel über das Jahressteuergesetz 2020 diskutiert, weil anstatt einer eigenen und grundlegenden Reform des Gemeinnützigkeitsrechts einige für die Vereine und Stiftungen wichtige Neuerungen dort zu finden sind. Die wichtigste, eine Klarstellung zur Mitwirkung an der deliberativen Demokratie, wurde aus dem Entwurf wieder gestrichen. Zwar interessieren sich Politik und Medien nach wie vor wenig für diese Themen; doch werden immerhin zunehmend Fragen gestellt. Nachfolgend wird versucht, einige häufiger gestellte Fragen zu beantworten.
1.
Die Zivilgesellschaft als solche ist viel zu heterogen, um einheitliche politische Forderungen erheben zu können oder zu wollen. Wir haben es hier im Kern mit einem analytischen Sammelbegriff zu tun, der es uns ermöglicht, Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten Bewegungen, Organisationen und Institutionen herauszuarbeiten und dadurch deutlich zu machen, daß es sich dabei um einen historisch, demokratietheoretisch, rechtlich und wirtschaftlich abgrenzbaren und insgesamt maßgeblichen Teilbereich des öffentlichen Raums handelt. Dies ist über die letzten 20-30 Jahre theoretisch, denke ich, gelungen. Bei Politik und Medien ist dies allerdings bis heute nicht angekommen.
2.
Zu den Kernaufgaben der Zivilgesellschaft gehört nach allgemeinem Verständnis die Mitgestaltung der res publica im Sinne der deliberativen Demokratie. Diese kann neben anderen Ausdrucksformen auch die Form des öffentlichen Protests annehmen. Für die Notwendigkeit und den letztlichen Erfolg dieser Form der Aufgabenwahrnehmung gibt es historische Beispiele zu Hauf. Es ist nicht zu leugnen, daß diese seit den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegungen in den Transformationsprozessen Mittel- und Osteuropas eine neue Qualität und Dimension angenommen haben und seit etwa einer Generation weltweit aus keinem größeren politischen oder gesellschaftlichen Prozeß mehr wegzudenken sind. Man denke aktuell nur an Belarus oder Hongkong. Zum Selbstverständnis der modernen, auf Menschen- und Bürgerrechte, Herrschaft des Rechts und Demokratie[1] gestützten offenen und kosmopolitischen Gesellschaft gehört die Duldung solchen Protests, ja der Respekt davor, unabhängig davon, ob die vorgetragenen Auffassungen im Einzelfall mit unseren übereinstimmen. Dies ist mit dem Auftrag der politischen Parteien so lange vereinbar, wie auch diese sich als Teil der deliberativen Demokratie oder als (wohlgemerkt durchaus legitime) Organisationssysteme politischer Macht verstehen. Dem steht der ihnen vom Grundgesetz erteilte Auftrag, an der politischen Willensbildung „des Volkes“ nicht entgegen, solange ihn die Parteien nicht, wie in Deutschland in den letzten Jahren vielfach geschehen, fälschlicherweise als exklusives Recht der Verkörperung deliberativer Demokratie mißverstehen.[2]
3.
Wesentliche Teile der Zivilgesellschaft sind, da sie definierte Beiträge zum allgemeinen Wohl leisten, von der Verpflichtung, auf die Überschüsse aus ihrer Tätigkeit Ertrags- und Vermögensteuern zu entrichten, von Gesetz wegen ausgenommen. Es gibt aber zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen,[3] die aus unterschiedlichen Gründen diesen Ausnahmezustand weder erlangen können noch selbst anstreben. Immer mehr neue Organisationen verzichten trotz einiger damit verbundener Nachteile immer häufiger darauf, weil sie entweder den damit verbundenen Verwaltungsaufwand scheuen oder weil sie sich ausrechnen können, daß sie mangels steuerbarer Überschüsse oder wegen deren Geringfügigkeit ohnehin nicht steuerpflichtig wären. Dazu zählen auch zahlreiche Protestbewegungen, die häufig weder eine formale Struktur aufweisen noch überhaupt über eine Kasse verfügen. Dies gilt bspw. sogar für Fridays for Future. Zivilgesellschaft und steuerliche „Gemeinnützigkeit“ sind daher keinesfalls gleichzusetzen.
4.
Den rechtlichen Rahmen für die steuerliche Ausnahmestellung bietet das sog. Gemeinnützigkeitsrecht, niedergelegt vor allem, aber nicht ausschließlich in §§ 51 ff. AO. Das Grundkonzept dafür stammt aus dem späten 19. Jahrhundert, als erstmals die Steuerlast rapide anstieg und es wenig sinnvoll erschien, soziale Einrichtungen, die ohnehin finanziell von der öffentlichen Hand abhängig waren, hoch zu besteuern. Erstmals (und bis heute letztmals) systematisch gefaßt wurde das Gemeinnützigkeitsrecht reichseinheitlich 1921; die letzte grundlegende Revision erfolgte 1941 (!). Es ist gewiß unstrittig, daß sich die Gesellschaft seitdem grundlegend verändert hat. Selbst die Arbeitsebene des Bundesfinanzministeriums spricht ganz offen von der Notwendigkeit, das Gemeinnützigkeitsrecht aus dem 19. ins 21. Jahrhundert zu befördern. Unverändert geblieben ist es allerdings nicht. Zahlreiche kleine und kleinste Änderungen, die überwiegend einer Klientelpolitik geschuldet waren, haben es zu einem kaum noch überschaubaren Wust degenerieren lassen. Insbesondere können die überwiegend ehrenamtlich tätigen Rechtsanwender in den Vereinen und Stiftungen einerseits und die fachlich regelmäßig (und durchaus entschuldbar) überforderten Beamten in den Finanzämtern schon lange nicht mehr sinnvoll damit umgehen. Der dringende Reformbedarf ist von daher sowohl aus prinzipiellen als auch aus rechtspragmatischen Gründen gegeben.
5.
In den 1980er Jahren wurde infolge der Spendenskandale um die Unterstützungsvereine der politischen Parteien in den Anwendungserlaß zur Abgabenordnung (AEAO) eine inzwischen berüchtigt gewordene Ziff. 15 zu § 52 AO eingefügt, die es als gemeinnützig anerkannten Körperschaften nur noch nebenbei und im Rahmen ihrer sonstigen Tätigkeit gestattet, politisch tätig zu werden. Diese Bestimmung geriet in den folgenden Jahrzehnten wieder in Vergessenheit, bis 2014 das Finanzamt Frankfurt am Main auf dieser Grundlage ATTAC Deutschland die Gemeinnützigkeit entzog. Die Finanzverwaltung insgesamt war darüber zunächst nicht glücklich. Es war vielmehr die Politik, die erkannte, daß sie hier unverhofft eine Waffe in die Hand bekommen hatte, mit der unliebsame Organisationen in Schach gehalten werden konnten. Das weltweit zu beobachtende Phänomen des Shrinking oder Contested Space war damit in Deutschland angekommen.[4] Unabhängig von den großen demokratietheoretischen Fragestellungen mußte es daher im Rahmen der in der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung 2018[5] angekündigten Reform des Gemeinnützigkeitsrechts darum gehen, an diesem wichtigen Punkt Klarheit zu gewinnen. Insofern gingen die Bestrebungen zahlreicher Experten über frühere Vorschläge und Konzepte hinaus. Es schien sogar so, daß das Bundesministerium der Finanzen auf Arbeitsebene bereit war, eine grundlegende Revision des Gemeinnützigkeitsrechts in Angriff zu nehmen, wogegen sie sich bislang mit dem Argument, jede Reform würde zu mehr Steuerausfällen führen, stets erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte. In der Tat geht es auch gar nicht um mehr Steuervorteile für gemeinnützige Organisationen, sondern um die Rezeption eines gewandelten Verständnisses vom öffentlichen Raum und von der Rolle unterschiedlicher Akteure in diesem Raum sowie die Entwicklung eines steuerrechtlichen Rahmens, der der Zivilgesellschaft und ihren Akteuren in ihrer für das 21. Jahrhundert bestimmenden Aufgabenbeschreibung gerecht wird.
6.
All diesen Bemühungen, die mindestens auf die 1999 eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestags ‚Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements‘ zurückgehen, die 2002 ihren ausführlichen Bericht vorlegte,[6] haben nun die Regierungsparteien zum wiederholten Mal und dieses Mal an besonders empfindlicher Stelle einen Riegel vorgeschoben. Die Gründe lassen sich wohl primär im Bereich der Angst vor dem vermuteten Machtverlust (der freilich längst eingetreten ist) verorten. Stattdessen geschieht genau das, was die Finanzverwaltung immer befürchtet hat: Auch im neuen Steuergesetz werden an „brave Ehrenamtliche“ Steuerbonbons verteilt, bspw. die Erhöhung der sog. Übungsleiterpauschale, die von niemandem ernsthaft eingefordert wurden. Hier offenbart sich zugleich die erstaunlich mangelhafte Sachkenntnis in Parteien und Medien.
7.
Naturgemäß herrscht in der Zivilgesellschaft und bei Experten große Enttäuschung, daß auch in dieser Legislaturperiode wieder keine grundlegende Reform erreicht wird und sich Parteien und Medien jeder offenen und sachkundigen Debatte darüber verschließen. Recht genau zurückverfolgen zu können, warum einzelne Parteien dies so sehen und dies recht gut an deren Unmut über die ihnen nicht gefallende Aktivität einzelner Organisationen festzumachen, macht die Sache nicht besser, zumal daraus ein sehr eingeschränktes Demokratieverständnis erkennbar wird.
8.
Nicht ohne Grund ist die Mitgliedschaft in den politischen Parteien in den letzten Jahren dramatisch gesunken. Immer weniger Bürger sehen dort eine Möglichkeit der konstruktiven Mitgestaltung. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben in den Parteien nichts zu suchen. Diesen geht definitionsgemäß eine entscheidende Komponente der Parteitätigkeit ab: die Organisation von Macht. Vielmehr bildet sie ein legitimes und notwendiges Gegengewicht zum Einfluß der Parteien in der repräsentativen Demokratie. Schon längst wird allerdings in der Wissenschaft auch darüber debattiert, daß angesichts des desolaten Zustands der Parteipolitik einschließlich der Parlamente die Zivilgesellschaft als Ideenentwicklerin und Wächterin neue Aufgaben übernehmen muß.
9.
Die gegenwärtige Krise geht bekanntlich über „Corona“ weit hinaus und beinhaltet eine tiefe Krise des Nationalstaates, der Demokratie und unseres Wirtschaftssystems, ganz zu schweigen von noch weitergehenden, etwa der Klimakrise, und brand-aktuellen, etwa dem Vertrauensverlust bei zahlreichen Bürgern und dem Frust, der Radikalen und populistischen Kräften neue Anhänger zuzutreiben droht. In der Summe bildet dies eine Herausforderung, zu deren Überwindung jede Idee, jeder Beitrag, jede helfende Hand, aber auch jeder mahnende Zwischenruf dringend gebraucht wird. Die Vorstellung, 800.000 zivilgesellschaftliche Organisationen und über 20 Millionen darin Engagierte vor den Kopf stoßen und aus der Befassung mit den öffentlichen Angelegenheiten einfach hinausdrängen zu können, ist abenteuerlich. Im Mittelpunkt der Debatte steht gewiß nicht die Steuer; aber die Steuerpolitik ist hier wie anderswo nicht der schlechteste Indikator für den Umgang mit gesellschaftlichen Entwicklungen. So kann eben nicht mehr Staatsnützigkeit im Sinne von billigen Dienstleistungen Ziel der Steuerung über die Steuerpolitik sein, sondern die Anregung zu Partizipation und Teilhabe, auch wenn diese noch so unbequem und lästig erscheint.
[1] so die einschlägigen Grundsätze der UNO, des Europarates und der EU.
[2] Art. 21 GG weist ihnen ausdrücklich nur eine Mitwirkung im Sinne einer Verpflichtung zu.
[3] bspw. ADAC e.V.
[4] Das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin, führt zur Zeit ein mehrjähriges Projekt durch, das zur Einrichtung eines European Civic Space Observatory führen soll.
[5] seit 1998 zum 6. Mal, von jeder Koalition, unabhängig von deren Zusammensetzung.
[6] Der Verfasser war Mitglied dieser Enquete-Kommission.