Häusliche Gewalt und Corona-Krise | Zur Corona Krise: Eine Stimme aus der Zivilgesellschaft 13 | 19.06.2020

Eine Kolumne von Chris Lange

In allen Ländern der Welt hat aufgrund der COVID-19-Pandemie häusliche Gewalt zugenommen. Welche Folgen dies haben wird, wird erst im Nachhinein deutlich. Diese Auswirkungen sollten untersucht und konkrete Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt werden. Dafür ist das Wissen und die Expertise von Ehrenamtlichen ausschlaggebend.

Am 27.03.2020 schrieb Rupert Graf Strachwitz an dieser Stelle: “An der Auseinandersetzung mit den Folgen der gegenwärtigen Krise und den Lehren, die daraus gezogen werden müssen, sind zwingend Akteure der Zivilgesellschaft und Experten für den bürgerschaftlichen Handlungsraum zu beteiligen.“

Zu diesen Folgen gehören zahlreiche soziale und gesellschaftliche Probleme, die aufgrund der Corona-Krise zunehmen und/oder stärker ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses rücken. Eines davon ist häusliche Gewalt. So haben Presseanfragen zu diesem Thema bei den entsprechenden zivilgesellschaftlichen Organisationen deutlich zugenommen. Und wie brisant das Thema ist, lässt sich auch an einer ungewöhnlichen Aktion des Familienministeriums ablesen: Bei der Aktion „Zuhause nicht sicher?” wurden in 26.000 Supermärkten auf Plakaten im Kassen-bereich, an Ein- und Ausgängen sowie teilweise auf der Rückseite der Kassenbons Informationen über Hilfsangebote bei häuslicher Gewalt geboten. Die am Ende aufgeführten Partnerorganisationen waren ausnahmslos zivilgesellschaftliche Organisationen.

In allen Ländern der Welt hat aufgrund der COVID-19-Pandemie häusliche Gewalt zugenommen, zum Teil massiv. In der Provinz Wuhan ist es nach Medienangaben zur Verdreifachung von Anrufen dazu bei der Polizei gekommen. Konkrete Zahlen gibt es noch nicht, aber die Befürchtungen sind groß, auch der Europarat schlägt Alarm.[1] Die Organisation ‚UN Women’ nennt es gar eine Schattenpandemie.[2] Zunächst hatten Hilfetelefone einen deutlichen Rückgang der Anrufe verzeichnet. Aber das ist darauf zurückzuführen, dass sich die Betroffenen gar nicht melden konnten – aus denselben Gründen, die Gewalt in den eigenen vier Wänden oft mitbedingt: beengte Wohnverhältnisse, die keine Möglichkeit zum unbemerkten Telefonieren zulassen. Zunehmende Geldprobleme verschärfen, bereits vorhandenen Konflikte, die nun unter Druck aufbrechen. Einen sicheren Ort, wie ein Frauenhaus aufzusuchen, oder sich anderweitig Hilfe zu holen ist dann wesentlich erschwert.

Auch die Anzahl der Anrufe bei der Hotline von BIG e.V. (Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen e.V.) ging zu Beginn der Corona-Maßnahmen deutlich zurück, stieg dann jedoch in den 14 Tagen nach den ersten Lockerungen im April im Vergleich zum selben Zeitraum des letzten Jahres um 30% an. Für Berlin ist zudem festzustellen, dass viele der Fälle, die nun bekannt werden, auffallend schwer sind. In Brandenburg geschahen während des Lockdowns drei Beziehungsmorde an Frauen innerhalb einer Woche; das Sozialministerium vermeldet eine Zunahme von Anzeigen wegen häuslicher Gewalt bei der Polizei um 22,5 %[3].

Wie bei den meisten sozialen Problemen nahmen zivilgesellschaftliche Organisationen auch im Bereich ‚Gewalt gegen Frauen und Kinder’ und ‚häusliche Gewalt’ eine Pionierrolle ein. In Deutschland entstanden die ersten Schutzhäuser für miss-handelte Frauen und ihre Kinder aus der ‘Bewegung zur Befreiung der Frau’. Im Oktober 1976 gründeten Feministinnen das erste autonome Frauenhaus in West-Berlin; im November eröffnete eines in Köln. In der folgenden Zeit bildeten sich in vielen westdeutschen Städten Fraueninitiativen mit dem Ziel, Frauenhäuser aufzubauen. Seither sind Frauenberatungsstellen, -zentren, -häuser und -zufluchts-wohnungen aus der sozialen Landschaft nicht mehr wegzudenken.

Eine umfassende Studie zu Frauenhäusern in Deutschland stammt aus dem Jahr 2011/12. Auf sie beruft sich auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in seinem Sachstandsbericht „Frauenhäuser in Deutschland” von 2019.[4] Der Bericht beginnt mit den folgenden Sätzen (S.4): ”Bundesweit sind Frauenhäuser überlastet. Jährlich suchen in Deutschland etwa 16.000 Frauen mit fast ebenso vielen Kindern Zuflucht in einem Frauenhaus. Oft wird ihnen der Zugang zu Schutz und Hilfe aufgrund von Platzmangel, ungeklärter Finanzierungsfragen oder bürokratischer Hürden erschwert oder sogar verwehrt. Nach aktuellen Schätzungen fehlen mehr als 14.600 Schutzplätze für Frauen, insbesondere in Ballungsgebieten.”

Träger der gut 350 Frauenhäuser in Deutschland sind sowohl eigens gegründete Vereine, die sich überwiegend dem Dachverband ‚der Paritätische Gesamtverband’ angeschlossen haben, sowie andere Wohlfahrtsverbände und kirchliche Träger, nur sehr selten staatliche Stellen. Inzwischen existieren Hilfsangebote auch für Täter sowie für Männer, die Opfer von Beziehungsgewalt wurden, und es wird Präventionsarbeit, z.B. in Form von Workshops in Grundschulen geleistet.

2017 trat die Bundesrepublik Deutschland dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt” (kurz: Istanbul-Konvention) bei, in der sie sich verpflichtet, ein für alle von Gewalt betroffenen Frauen zugängliches Schutzsystem zu schaffen, wobei die Task Force des Europarates bereits 2008 einen Familienplatz, d.h. für eine Frau und ihre Kinder, pro 7.500 Einwohner*innen empfiehlt. Nach Ansicht der Bundesregierung erfüllt Deutschland die Konvention, aber laut o.g. Studie (S. 10) ist dies schon alleine bei der Anzahl der Frauenhausplätze nicht der Fall, denn bundesweit existiert nur ein entsprechender Schutzplatz auf 12.000 Einwohner*innen.

So der Stand vor der Corona-Krise. Wie stark und mit welchen Folgen häusliche Gewalt in den Wochen seit Beginn der strengen Kontaktregelungen zugenommen hat, wird erst im Nachhinein deutlich werden. Auch, was die Krise für die Einrichtungen des Frauenhilfesystems, für die Klientinnen sowie die Mitarbeiter*innen der in diesem Bereich tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen bedeutete und langfristig heißt, wird sich erst noch zeigen. Aber einige Punkte können benannt werden (Stand 11. Mai 2020):

  • Das Zusammenleben vieler Frauen im Frauenhaus mit ihren oft zahlreichen Problemen war nie einfach und wurde nun durch das erzwungene im-Haus-bleiben-müssen noch weiter erschwert. Das Abstandsgebot ist trotz reduzierter Belegung nicht einzuhalten, Gänge zu Ämtern wurden noch schwieriger als zuvor, Kinder gingen nicht zur Schule, Wohnungssuche ist praktisch unmöglich – der Stresspegel bei allen steigt.
  • Mobile (aufsuchende) Angebote mussten eingestellt bzw. auf telefonische Beratung umgestellt werden, wodurch sich die Intensität und damit auch die Wirksamkeit reduziert. Präventionsarbeit konnte nicht fortgeführt werden. Hotlines und online-Beratung kann im Homeoffice geleistet werden, aber was das konkret für die Mitarbeiter*innen und die Ratsuchenden bedeutet, gilt es zu beleuchten.
  • Auch täterorientierte Angebote wurden auf telefonische Beratung, ggf. mit Video über das Internet, reduziert. Ein ‚Survival-Kit für Männer unter Druck’ soll dazu beitragen, dass Männer Stressmomente während der Krise besser bewältigen.

In Berlin z.B. wurden seit langem geforderte Frauenhausplätze kurzfristig erweitert (zwei so genannte Stadthotels, eines davon für Infizierte), wobei die Vermittlung und Betreuung vor Ort eine besondere Herausforderung darstellte. In anderen Städten gab es Überlegungen, z.B. Ferienwohnungen als Notunterkünfte anzumieten. Aber auch hier ist die Frage, wie die notwendige Beratungs- und Begleitungsarbeit geleistet werden kann.

Im Eingangszitat verlangt Rupert Graf Strachwitz zu Recht die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen bei der Auseinandersetzung mit den Folgen sowie bei den Lehren, die aus der Corona-Krise zu ziehen sind. Darunter fallen auch die Auswirkungen im Hinblick auf gefährdete Familien und Partnerschaften, auf das gesamte Hilfesystem im Anti-Gewalt-Bereich, auf das Leben in Frauenhäusern und anderen Hilfeeinrichtungen. Diese Auswirkungen sollten untersucht und konkrete Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt werden. Zu Letzterem gehört z.B. der bedarfs-gerechte Ausbau von Schutzplätzen mit entsprechender Personalausstattung, die Beseitigung finanzieller Hürden für die Aufnahme von Frauen in Frauenhäuser und die vereinfachte, auf Bundesebene gesetzlich abgesicherte Finanzierung. Über die Bearbeitung der bestehenden Missstände hinaus muss darüber nachgedacht und dann auch umgesetzt werden, wie Präventions- und Täterarbeit flächendeckend ausgebaut und wie Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit über Hilfsmöglichkeiten verstärkt werden können. Das alles mit dem Ziel, häusliche Gewalt zu vermeiden oder zumindest stark zu verringern.

Über die letzten gut vier Jahrzehnte haben sich viele Frauen und auch, allerdings eher wenige, Männer in diesem Bereich engagiert – als bezahlte Mitarbeiter*innen oder als Ehrenamtliche. Sie haben ein reiches Wissen und viel Expertise angesammelt. Das gilt es zu nutzen.

[1] Kumm, Wolfgang: Anstieg häuslicher Gewalt in Zeiten der Krise. Epoch Times. Abrufbar unter: https://www.epochtimes.de/politik/europa/warnung-vor-anstieg-haeuslicher-gewalt-in-zeiten-der-krise-a3198395.html (28. März 2020)

[2] Hecht, Patricia: Expertin zu Frauen in der Coronakrise. „An die Bruchstellen ran – jetzt“, TAZ. Abrufbar unter: https://taz.de/Expertin-zu-Frauen-in-der-Coronakrise/!5681243/ (01. Mai 2020)

[3] Märkische Allgemeine Zeitung: Polizeidaten zeigen: Mehr häusliche Gewalt im Lockdown. Abrufbar unter: https://www.maz-online.de/Brandenburg/Brandenburger-Polizeidaten-zeigen-Mehr-haeusliche-Gewalt-im-Lockdown

[4] Deutscher Bundestag: Frauenhäuser in Deutschland. Wissenschaftliche Dienste, WD 9 – 3000 – 030/19. Abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/648894/7fe59f890d4a9e8ba3667fb202a15477/WD-9-030-19-pdf-data.pdf (27. Mai 2019)