Im Gefolge von COVID-19 können die Bemühungen von Expertinnen und Experten, für ein differenziertes Altersbild zu sorgen, davongefegt werden. Es droht die Rückkehr zu längst überwunden geglaubten Altersbildern. Jahrhunderte lang galt der Erfahrungssatz: „Wer heute alt ist, ist morgen tot.“ Auf diese Aussicht sollten sich die Alten einstellen, sie sollten beten und sich nicht länger ins Alltagsgeschehen einmischen und schon gar nicht ihre Interessen vertreten. Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hieß es seitens der Politik: Goldener Handschlag und ab in den Ruhestand, verbunden mit der Behauptung, dies sei Generationensolidarität. Als ob Arbeitsplätze eine feste Größe sind, geht der eine, kommt der andere. Mittlerweile hatte die Empirie dieses traditionelle Altersbild ad absurdum geführt: Geht man heute von der hierzulande gelernten Alters-Markierung 65 Jahre aus, dann sind diejenigen jenseits von 65 mittlerweile noch überwiegend fit und lassen sich – Alt 68er! – auch nicht beiseite drängen.
Dieser Erkenntnis- und Realitätsfortschritt ist nun ernsthaft in Gefahr. Das alte Schema „alt gleich krank“ wird in COVID-19 Zeit wieder hervorgeholt, alle Alten werden zur Hochrisikogruppe ernannt, und sie werden aufgefordert, sich zurückzuziehen und die anderen machen zu lassen. Es lebe die soziale Distanz! Fehlt nur noch, dass der Staat, dessen Führung behauptet, Geld spiele bei der Bekämpfung der Pandemie keine Rolle, für freiwilligen Rückzug eine Prämie auslobt. Bei null Direktkontakten gibt es die Höchstsumme.
Was notwendig wäre, ist nicht vorhanden, leider noch nicht: Um Pauschalierungen wie “Alle Alten sind ein Risiko und gehören eingesperrt” zu vermeiden, bedarf es individueller Risikoeinschätzungen durch medizinisches Fachpersonal. Das Ergebnis müsste man in Form eines digitalen Gesundheitspasses bei sich haben. Sofort würde deutlich werden: Zuordnungen nach chronologischem Alter sind medizinisch falsch und gesellschaftlich ein Übel. Bekommt das Gesundheitssystem es hin, medizinisches Fachpersonal rasch und entsprechend auszubilden? Digitalisierung jedenfalls hat allenthalben – man denke an die vielen Homeoffice Plätze – durch die Pandemie einen neuen Schub erfahren. Warum sollte es nicht möglich sein, für diejenigen, die das wollen, endlich eine digitale Akte herzustellen, aus der im Falle des Falles auch schon der Notarzt sich informieren kann und den Patientinnen und Patienten nicht aus Unwissenheit falsch behandelt?
Mit jenen, die ein hohes Risiko bei Ansteckung tragen, sollte über deren (Nicht-)Behandlungswunsch professionell gesprochen werden. Nicht alle wollen ans Beatmungsgerät. Um nicht missverstanden zu werden: Alles ohne Anordnung, alles auf freiwilliger Basis.
Und dann gibt es ja noch alle jene, die schon jetzt und auf absehbare Zeit eingesperrt sind. Hier schlägt – man kann sagen: mal wieder – die Stunde der Zivilgesellschaft. Wenn endlich der Test zur Überprüfung vorliegt, ob – vielleicht unbemerkt – schon Immunität erreicht wurde, dann sind diese Menschen, wiederum auf freiwilliger Basis, hochgeeignet, um den Seelenschaden der Pandemie zu lindern: Besuche in Altersheimen und Krankenhäusern und bei einsamen Nachbarn. Auch dies muss vorbereitet und staatlich unterstützt werden.
Ob es je eine Rückkehr in die vorherige Normalität gibt, kann uns niemand sagen. Die einen Expertinnen und Experten behaupten, die Pandemie markiere einen tiefen Einschnitt in der neueren Menschheitsgeschichte, andere lassen uns wissen, das Wahrscheinlichste sei das Wiederaufleben des Gewohnten. Die zweite Position spiegelt die individuelle Sicht, die erste die politisch-ökonomische.
Im jetzigen Kampf gegen die Pandemie geht es aber darum, die Kluft zwischen Alt und Jung durch aktivierte Vorurteile nicht aufzureißen, sondern im Gegenteil alle jene Älteren, die sich dazu in der Lage fühlen, zu ermuntern, sich am solidarischen Bemühen gegen das Abhängen ganzer Gruppen der Gesellschaft zu beteiligen. Die Älteren, die nicht in die Hilflosigkeit gedrängt, sondern zum Helfen ermuntert werden, wirken nicht nur seelen- und resilienzstärkend für Andere, sondern auch für sich.