Zivilgesellschaftliche Akteure wie alle anderen auch? Religionsgemeinschaften in der europäischen Zivilgesellschaft

Observatorium 6 | 01.01.2016 | Wie steht es in Europa um das Verhältnis von Religionszugehörigen und Religionsgemeinschaften zu dem Teil des öffentlichen Raums, der als Zivilgesellschaft bezeichnet wird, und gerade in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat? Welche Funktionen können und wollen Religionsgemeinschaften hier übernehmen und was sind die Voraussetzungen dafür?

Die Frage nach der Rolle von Religionen im öffentlichen Raum wird nicht erst seit dem krisenreichen Jahr 2015 häufig unter den Vorzeichen Gewalt, Fundamentalismus und Kulturkonflikt betrachtet. Es fällt auf, dass dieses Thema derzeit mit Ängsten aber auch Stereotypisierungen und Vorurteilen besetzt ist. Hingegen erhält sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen eine andere, positiver konnotierte Perspektive auf diese Frage weitaus weniger Aufmerksamkeit: Wie steht es in Europa um das Verhältnis von Religionszugehörigen und Religionsgemeinschaften zu dem Teil des öffentlichen Raums, der als Zivilgesellschaft bezeichnet wird, und gerade in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat? Welche Funktionen können und wollen Religionsgemeinschaften hier übernehmen und was sind die Voraussetzungen dafür?

Bereits eine kursorische Durchsicht der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur macht deutlich, dass sich diesem Themenfeld aus sehr unterschiedlichen Perspektiven genähert werden kann. So wird auf der Mikro-Ebene untersucht, ob eine religiöse Sozialisation bzw. gelebte Religiosität eine pro-soziale Werteorientierung und damit die Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement befördert. In Anlehnung an Arbeiten von R. Wuthenow (1990) und R. Putnam (2000), die eine solche Hypothese im US-amerikanischen Kontext bejahen, untersucht beispielsweise P. Norris (2013) unter der Frage „Does praying together means staying together?“ das Engagementverhalten europäischer Religionszugehöriger in verschiedenen nationalen Konstellationen. Trotz der in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Ausgangslagen in den USA und Europa ließen sich, so die Autorin, bemerkenswerte Ähnlichkeiten bezüglich des Effekts von aktiver Religiosität auf zivilgesellschaftliches Engagement feststellen1.

Zivilgesellschaftliche Netzwerke und Vereine, die sich im Umfeld von Religionsgemeinschaften entwickeln, bilden die Meso-Ebene, auf der dieses Verhältnis untersucht wird. Die religiöse Motivation der einzelnen Mitglieder steht in solchen Untersuchungen weniger im Vordergrund als die Frage, inwiefern die ideelle Nähe zu einer Religionsgemeinschaft oder Kirche Handlungsweisen, Zielsetzungen und interne Strukturen solcher Organisationen prägt. In diesem Kontext ist als Beispiel eine von S. Roßteutscher in 12 europäischen Ländern durchgeführte komparative Studie zu nennen. Diese geht den Fragen nach, ob sich zum einen typische Organisationsmerkmale der beiden christlichen Großkirchen auf religiöse Vereine übertragen, die in deren Umfeld entstehen und ob sie zum anderen deren Fähigkeit beeinflussen, zu einer aktiven Bürgerschaft beizutragen. Roßteutscher kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass nicht die Affiliation zur protestantischen oder katholischen Kirche ausschlaggebend ist, sondern vor allem Organisationsgröße, Professionalisierungsgrad und finanzielle Ausstattung. Der Vergleich mit säkularen Vereinen und Netzwerken mache jedoch auch deutlich, dass „ein religiöser Faktor ‚X‘, der über profane Fragen organisatorischen Designs hinausreicht“ ebenfalls zu berücksichtigen sei (Roßteutscher 2011: 133).

Weitaus seltener als die Akteure und Funktionsmechanismen der religiös fundierten Zivilgesellschaft wurde bislang die zivilgesellschaftliche Rolle der rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften selbst sowie die ihrer Institutionen untersucht, obwohl auch diese u.a. von D. Pollak als auf der gesellschaftlichen Meso-Ebene angesiedelt beschrieben werden (Pollack 2002: 28). Die Ursache hierfür könnte darin liegen, dass weiterhin Uneinigkeit darüber besteht, ob Religionsgemeinschaften überhaupt der Zivilgesellschaft zuzurechnen sind oder nicht.

Religionsgemeinschaften selbst, in Nord-, West- und Südeuropa insbesondere die katholische und protestantische Kirche, verstehen sich zunehmend als kollektive Akteure der Zivilgesellschaft (Gabriel: 2011). Sie werden darin u.a. durch die Position des US-amerikanischen Religionssoziologen J. Casanova bestätigt, der die Zivilgesellschaft als den genuinen Ort und Handlungsraum von Religionsgemeinschaften bezeichnet (Casanova 1994: 54f).

Eine solche Zuordnung wird jedoch, vornehmlich von Seiten der europäischen Sozialwissenschaften, nicht einhellig befürwortet (Liedhegener/Werkner 2011: 12), wohl auch, weil im – Gegensatz zur klaren Sphärentrennung in den USA – im europäischen Kontext die vielfältige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staaten und Religionsgemeinschaften einen großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Ort und Handlungsspielraum der letzteren hat und damit eine allgemein gültige Positionsbestimmung erschwert. Ein oftmals zugrunde gelegtes bereichslogisches Verständnis von Zivilgesellschaft, aus dessen Perspektive die in vielen europäischen Staaten bestehende Verflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften ein Ausschlusskriterium darstellt, tut ein Übriges.

Tatsächlich scheint es im europäischen Kontext unmöglich zu sein, das zivilgesellschaftliche Handeln von Kirchen und Religionsgemeinschaften zu untersuchen, ohne dabei die strukturellen Makrobedingungen in den Blick zu nehmen und die Frage nach dem Verhältnis der jeweils betrachteten Gemeinschaft zum staatlichen Kontext zu stellen, in der sie steht. Denn, so heißt es bei R. Traunmüller, einem der wenigen Autoren, die einen solchen Ansatzpunkt wählen, im Hinblick auf das Verhältnis von europäischen Staaten und christlichen Religionsgemeinschaften: „Die spezifische Natur des Staat-KircheVerhältnisses determiniert in weiten Teilen, ob Kirchen und religiöse Organisationen eher als staatliche Institutionen oder aber mehr oder weniger unabhängige Akteure der Zivilgesellschaft operieren und wahrgenommen werden. Dies wiederum hat offensichtliche Konsequenzen für die Vitalität des religiösen Zivilgesellschaftssektors.“ (Traunmüller 2011: 144). Trotz  der in Europa vielfältigen Ausgestaltungen des Staat-Kirche-Verhältnisses, die sich selbst auf der Achse StaatskirchentumLaizität nur unzureichend darstellen lassen, macht R. Traunmüller zwei grundlegende Formen aus: Restriktion und Unterstützung. Letztere, so das Ergebnis seiner quantitativen Analyse 24 europäischer Länder, habe eine eindeutig hemmende Wirkung auf das zivilgesellschaftliche Potential von Kirchen. Traunmüller räumt jedoch ein, dass andere Studien mitunter zum gegenteiligen Ergebnis kämen2.

Ausgehend von der Annahme, dass das Verhältnis zum Staat das grundsätzlich vorhandene zivilgesellschaftliche Potential von Religionsgemeinschaften in der einen oder anderen Art beeinflusst, lässt sich nun fragen, welche zivilgesellschaftliche Funktionen Religionsgemeinschaften in unterschiedlichen nationalen Kontexten erfüllen. In welchem Maße können und wollen sie – über ihr religiöses „Kerngeschäft“ hinaus – jeweils gesellschaftliche Partizipations-, Integrations-, Sozialisations- und Interessenartikulationsfunktionen3 übernehmen? Und welche Rolle spielt hierbei ihr oftmals etabliertes Wirken im Sozial- und Gesundheitswesen?

In einem nun anlaufenden Forschungsprojekt will das Maecenata Institut diese Frage auf einer europäisch vergleichenden Ebene in den Blick nehmen. Hierfür soll eine überschaubare Auswahl europäischer Länder getroffen werden, die in Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften eine möglichst breite Streuung bietet. Qualitative Verfahren sollen dabei helfen, Informationen über die Eigenwahrnehmung der Religionsgemeinschaften einzuholen, sowohl in Hinblick auf ihr Verhältnis zum Staat als auch auf ihre Selbstverortung außer- oder innerhalb der Sphäre der Zivilgesellschaft sowie die gegebenenfalls dort wahrgenommenen Betätigungsfelder.

Da Untersuchungen, die das zivilgesellschaftliche Potential von Religionsgemeinschaften mit deren Verhältnis zum Staat in Beziehung setzen, bislang vornehmlich die Situationen der Kirchen evaluieren, sollen in diesem Projekt exemplarisch auch nichtchristliche Religionsgemeinschaften mit einbezogen werden. Hierbei müssen die national stark abweichenden Rechtsstellungen religiöser Minderheiten, beispielsweise aus dem muslimischen Spektrum, besonders berücksichtigt werden. Eine solche Evaluierung, sowohl ihrer Rechtsstellung als auch ihrer Eigenwahrnehmung, stellt unseres Erachtens eine wichtige Ergänzung für die Wahrnehmung der europäischen religiösen Zivilgesellschaft dar.

Aus der Beschäftigung des Maecenata Instituts mit dem Verhältnis von Religion und Zivilgesellschaft sind seit 2002 mehrere Konferenzen und Publikationen hervorgegangen. Nach grundsätzlichen Reflexionen zur zivilgesellschaftlichen Rolle der Kirchen in Deutschland4 ist mit der von E. Hinterhuber durchgeführten Studie zu interreligiösen Dialoginitiativen der Blick auch auf den nichtchristlichen Teil der religiösen Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik gelenkt worden5. Es erscheint daher nur folgerichtig, diese Fragestellung nun auf der europäischen Ebene weiterzuverfolgen. Dabei soll schließlich und wesentlich auch gefragt werden, welche Auswirkungen es auf die Beschreibung und den Stellenwert von Zivilgesellschaft hat, wenn die Religionsgemeinschaften dieser in vollem Umfang zugerechnet werden. Dabei darf auch der Frage nicht ausgewichen werden, ob die heute weithin gebräuchliche Zuordnung der kollektiven gesellschaftlichen Akteure jenseits des unmittelbaren Familien- und Privatbereichs zu den Arenen Zivilgesellschaft, Markt und Staat etwa letztlich an der Unmöglichkeit scheitert, so wesentliche Akteure wie die Religionsgemeinschaften einer dieser Arenen zuzuordnen.

Dieses explorative Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt. Beteiligt sind daran auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen europäischen Ländern.

1. Für Deutschland wurde der Zusammenhang von aktiv gelebter Religiosität und bürgerschaftlichem Engagement bereits anhand der Daten des Freiwilligensurvey nachgewiesen. Vgl. Adloff (2009: 37)
2. Vgl. Roßteutscher (2009)
3. Zu den Funktionen der Zivilgesellschaft vgl. Anheier et al. (2000: 72)
4. Vgl. Strachwitz et al. (2002), Strachwitz (2009) und ders. (2015)
5. Vgl. Hinterhuber (2009)

Auswahlbibliographie:

  1. Adloff, Frank (2009): Kirchen, Religion und Zivilgesellschaft – sozilogisch-komparative Perspektiven. In: Bauerkämper / Nautz, S. 25-46
  2. Anheier, Helmut K./ Priller, Eckhard/ Zimmer, Annette (2000): Zur zivilgesellschaftlichen Dimension des Dritten Sektor. In: Klingeman, Hans-Dieter/ Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Zur Zukunft der Demokratie: Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung. Berlin: Edition Sigma
  3. Bauerkämper, Arnd; Nautz, Jürgen (Hg.) (2009): Zwischen Fürsorge und Seelsorge. Christliche Kirchen in den europäischen Zivilgesellschaften seit dem 18. Jahrhundert. Campus: Frankfurt
  4. Beyme, Klaus von (2015): Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaft und Staat. Zum Verhältnis von Politik und Religion in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS
  5. Casanova, José (1994): Public Religions in the Modern World. The University of Chicago Press: Chicago
  6. de Hart, Joep/ Dekker, Paul/ Halman, Loek (2013) (Hg.): Religion and Civil Society in Europe. Wiesbaden: Springer VS
  7. Fergusson, David (2004): Church, State and Civil Society. Cambridge: Cambridge University Press
  8. Gabriel, Karl (2011): Kirchen in der Zivilgesellschaft. In: Eurich, Johannes; Barth, Florian; Baumann, Klaus; Wegner, Gerhard (Hg.): Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde. Stuttgart: Kohlhammer, S. 381-394
  9. Gabriel, Karl (2015): Kirche zwischen Institution und Bewegung. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2015 S, 18-27
  10. Große Kracht, Herrmann-Josef (1997): Kirche in ziviler Gesellschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh
  11. Hinterhuber, Eva-Maria (2009): Abrahamitischer Trialog und Zivilgesellschaft. Eine Untersuchung zum sozialintegrativen Potential des Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen. Lucius & Lucius: Stuttgart
  12. Kruip, Gerhard/ Reitfeld, Helmut (Hg.) (2007): Church and Civil Society. The Role of Christian Churches in the Emerging Countries of Argentina, Mexico, Nigeria and South Africa. Sankt Augustin: Konrad Adenauer Stiftung
  13. Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2009): Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven. Wiesbadan: VS-Verlag
  14. Norris, Pippa (2013): Does Praying Together Mean Staying Together? Religion and Civic Engagement in Europe and the United States. In: de Hart et al. (2013), S. 285-306
  15. Pollack, Detlef (2002): Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft: Überlegungen zum gesamtgesellschaftlichen Ort der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Strachwitz et al. (2002), S. 22-41
  16. Putnam, Robert D. (2000): Bowling Alone.The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon and Schuster
  17. Roßteutscher, Sigrid (2009): Religion, Zivilgesellschaft, Demokratie. Eine international vergleichende Studie zur Natur religiöser Märkte und der demokratischen Rolle religiöser Zivilgesellschaften. Nomos: Baden Baden
  18. Roßteutscher, Sigrid (2011): Religion, Organisationsstrukturen und Aktivbürger: Ist der Protestantismus demokratischer als der Katholizismus? In: Liedhegener/ Werkner (2011), S. 111-137
  19. Strachwitz, Rupert Graf/ Adloff, Frank/ Schmidt, Susanna/ Schneider, Maria-Luise (Hg.) (2002): Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Maecenata Verlag: Berlin
  20. Strachwitz, Rupert Graf (2009): Das Problem der Staatsbindung bei der Zuordnung der Kirchen zur Zivilgesellschaft. In: Bauerkämper/ Nautz, S. 331-353
  21. Strachwitz, Rupert Graf (2015): Kirchen auf dem Weg in die Zivilgesellschaft. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2015, S. 28-38
  22. Traunmüller, Richard (2011): Segen oder Fluch? Zum Einfluss von Staat-Kirche-Beziehungen auf die Vitalität religiöser Zivilgesellschaften im europäischen Vergleich. In: Liedhegener/ Werkner (2011), S. 138-161
  23. Wuthnow, Robert/ Virginia A. Hodgkinson (Hg.) (1990): Faith and Philanthropy in America: Exploring the Role of Religion in America’s Voluntary Sector. San Francisco: Jossey-Bass Publishers