Die Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht

Opusculum 51 | 01.11.2011 | Über Versuche der Revision von Rechtsnormen durch Bürgerinitiativen

1. Einleitung
Im März 1983 werden mehr als 1300 Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz beim Bundesverfassungsgericht (nachfolgend BVerfG) eingereicht. Dies geschieht im Kontext bundesweiter Proteste und Aktionen gegen das bereits beschlossene und von allen Parlamentsparteien unterstützte Vorhaben der Regierung. Eine Revision dieses einstimmig beschlossenen Gesetzes aufgrund der öffentlichen Stimmungslage stellt für die Bundesregierung keine Option dar, wie der damalige Bundesinnenminister in einem Interview erklärt.2 Bundesinnenminister in einem Interview erklärt. Die einzige Möglichkeit, diese Vollerhebung noch zu verhindern, scheint daher der aktive zivile Ungehorsam eines nicht geringen Teils der Bevölkerung zu sein. Durch gezielte Störungen der Volkszählung soll diese, nach Plänen zahlreicher Protestgruppen, wertlose Ergebnisse hervorbringen. Der einzelne Bürger jedoch, der sich der Zählung widersetzt, muss mit einem Bußgeld rechnen. Auf eine für viele unerwartete Weise wird schließlich doch noch eine Option gefunden, den Konflikt auf institutionellem Weg zu lösen: das Einreichen einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG. Es ist zwar überaus unsicher, ob das BVerfG die Beschwerden überhaupt zulassen, geschweige denn das entsprechende Gesetz für verfassungswidrig erklären würde, dennoch ist es die letzte Möglichkeit, die Volkszählung auf legalem Weg zu verhindern. Das BVerfG untersagt in seiner Entscheidung vom Dezember 1983 schließlich nicht nur die geplante Volkszählung, es nimmt die öffentliche Stimmung und die hohe Anzahl an Verfassungsbeschwerden zu diesem Fall explizit zum Grund, weiterreichende Regelungen auf dem Gebiet des Datenschutzes in das Grundgesetz zu integrieren.3
Seither wächst die Zahl an Beispielen, in denen aus den Reihen organisierter Gruppen Aufrufe zur Teilnahme an Verfassungsbeschwerden erfolgen. Die Vorratsdatenspeicherung, ELENA oder der Zensus 2011 sind nur einige Schlagworte, die mit öffentlich beworbenen Verfassungsbeschwerden verbunden sind. Eine unterschiedlich große Zahl an Personen wandte sich dabei jeweils an das BVerfG, um die Umsetzung eines Gesetzes zu verhindern. Während aus juristischer Perspektive dabei in erster Linie die juristische Argumentation von Bedeutung ist, stellt sich bei sozialwissenschaftlicher Betrachtung sogleich die Frage nach dem dabei implizierten politischen Charakter des BVerfGs. Wieso sollte eine Fülle von identischen Beschwerden andere Ergebnisse hervorbringen als eine einzelne?

Der Beantwortung dieser Frage wurde bislang allenfalls in Nebensätzen in der sozialwissenschaftlichen Debatte um das BVerfG nachgegangen. Bevor darüber jedoch Aussagen getroffen werden können ist grundlegend zu klären, was unter Massenverfassungsbeschwerden (folgend MVBn) zu verstehen ist und welche Einflussgrößen dabei unterschieden werden können. Anhand diesbezüglicher Überlegungen wird in dieser Arbeit die Frage in den Mittelpunkt gestellt, unter welchen Bedingungen MVBn beim BVerfG als legitimer Eingriff in den rechtlich-politischen Machtkreislauf bewertet werden können und wie sich ihre Funktion und ihre Auswirkungen demokratietheoretisch interpretieren lassen.

Bisherige Forschungsschwerpunkte über die Verfassungsgerichtsbarkeit bieten dieser Studie leider nur geringe Orientierungsmöglichkeiten. Die prominenten Ansätze der sozialwissenschaftlichen Forschung behandeln z.B. das Verfassungsgericht als negativen Gesetzgeber, der durch seine Aktivitäten zunehmend den Handlungsspielraum der Regierung und des Parlaments begrenzt. Diese These wird unter dem Begriff der Justizialisierung diskutiert.4 Aus einer anderen Perspektive gehen Vertreter des „Attitudinalist Approach“ der Frage nach, wie stark die Einstellungen einzelner Richter verfassungsgerichtliche Entscheidungen beeinflussen können.5 Aufgrund der oftmals mangelnden Transparenz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird auch versucht, den Beratungs- und Willensbildungsprozess des BVerfGs aufzuhellen.6 Schließlich stellen die Darstellung der Rolle des BVerfGs im politischen System, im Besonderen das Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen7 und das Spannungsdreieck zwischen Regierung, Opposition und BVerfG8 Felder wachsenden wissenschaftlichen Interesses dar. Während sich die sozialwissenschaftliche Forschung dem wechselseitigen Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik inzwischen unter verschiedensten Aspekten widmet, bleibt das Verhältnis von Zivilgesellschaft, politischer Öffentlichkeit und Verfassungsgericht jedoch ein dunkler Fleck. Dieser Bereich wurde in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum BVerfG als auch in der Engagement- und Partizipationsforschung bislang nicht behandelt. Letzteres wundert kaum, aufgrund der offenbar geringen quantitativen Bedeutung von Verfassungsbeschwerden als Instrument der Zivilgesellschaft. Relevante Anstöße zum Thema finden sich allenfalls in den Arbeiten von Hans Vorländer, insbesondere in einer Studie über die Deutungsmacht des BVerfG.9

Um die Frage behandeln zu können, unter welchen Bedingungen MVBn als legitimer Eingriff in den rechtlich-politischen Machtkreislauf bewertet werden können und wie diese Vorgänge demokratietheoretisch fassbar sind, ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass bislang keine diesbezüglichen Forschungsarbeiten veröffentlicht wurden, die als Grundlage zur näheren Bestimmung von Massenverfassungsbeschwerden dienen könnten. Daher bedarf es zunächst eines theoretischen Rahmens, der hinreichend offen ist, um die noch nicht näher beschriebenen Prozesse, die bei MVBn stattfinden, fassen zu können. Hierzu wird in Kapitel 2 ein von Bernhard Peters und Jürgen Habermas entwickeltes Modell rechtlich- politischer Aktivitäten vorgestellt, das die Grundlage für die weiteren Betrachtungen darstellt. Gerade auch Habermas‟ Arbeit „Faktizität und Geltung“10 bietet dazu eine Fülle an wichtigen Vorüberlegungen. Nachdem der theoretische Blick geschärft wurde, werden in Kapitel 3 zwei Fallbeispiele aufgeführt und anhand diverser Quellen dargestellt. Neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Reaktionen auf die später angegriffenen Gesetze (Kap. 3.1.1 bzw. 3.2.1) und einer Differenzierung zwischen den beteiligten Akteuren des Protestes (Kap. 3.1.2 bzw. 3.2.2), werden die Umstände der Verfassungsbeschwerden selbst (Kap. 3.1.3 bzw. 3.2.3) sowie deren Folgen und Auswirkungen (Kap. 3.1.4 bzw. 3.2.4) dargestellt. In Kapitel 3.3 werden, um eine breitere empirische Basis zu schaffen, sieben weitere Beispiele für relevante Verfassungsbeschwerden kurz aufgeführt. Nachdem die Grundlagen und Voraussetzungen von Verfassungsbeschwerden geklärt sind (Kap. 4.1.1 & 4.1.2), werden in Kapitel 4.1.3 vorhandene statistische Daten aufgearbeitet, um durch eine quantitative Betrachtung von Verfassungsbeschwerden eine Einschätzung über die Bedeutung von MVBn zu ermöglichen (Kap. 4.1.3). Anschließend werden anhand der beschriebenen Fälle unterschiedliche Aspekte von MVBn isoliert betrachtet (Kap. 4.2). Dieser Arbeitsschritt mündet letztlich in einen Typologisierungsvorschlag und eine Minimaldefinition von MVBn. (Kap. 4.2.4). Die bis dato diskutierten Aspekte werden in Kapitel 5 zum Anlass genommen, einen spezifischeren Blick auf das Verhältnis des BVerfGs zur politischen Öffentlichkeit zu werfen. In einem Fazit (Kap. 6) werden die erarbeiteten und deutlich gewordenen Aspekte von MVBn schließlich im Kontext des theoretischen Rahmens erneut bewertet und die Beantwortung der Forschungsfrage angestrebt.

2 Vgl. Der Spiegel, Nr. 13/1983, „Wo ist denn die Intimität?“, (34-45) S.34.
3 Vgl. Präambel des BVerfG Urteils 1 BvR 209; 269; 362; 420; 440; 484/83 vom 15.12.1983.
4 Vgl. Stone Sweet, Alec: Governing with Judges: Constitutional Politics in Europe. Oxford: University Press 2000.
5 Vgl. Epstein, Lee; Knight, Jack: The Choices Justices make. Washington D.C.: CQ Press 1998.
6 Vgl. Kranenpohl, Uwe: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts. Wiesbaden: VS-Verlag 2010.
7 Vgl. Kneip, Sascha: Anschieber oder Bremser? Das Bundesverfassungsgericht und die Reformpolitik der rot- grünen Bundesregierung. In: Egle, Christoph; Zonhöfer, Reimut: Ende des rot-grünen Projekts. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005. Wiesbaden: VS-Verlag 2007. (215-238).
8 Vgl. Hönnige, Christoph: Verfassungsgericht, Regierung und Opposition. Die vergleichende Analyse eines Spannungsdreiecks. Wiesbaden: VS-Verlag 2007.
9 Vgl. Vorländer, Hans (Hrsg.): Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wiesbaden: VS-Verlag 2006.
10 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.

Christian Schreier

Christian Schreier

Sozialwissenschaftler
Geschäftsführer der Maecenata Stiftung/ General Manager of the Maecenata Foundation (bis 01/2021)
Programmleiter Transnational Giving (bis 02/2021)
csc@maecenata.eu

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