Basiswissen Zivilgesellschaft

  1. Einführung
  2. Der Begriff
  3. Erscheinungsformen
  4. Rahmenbedingungen und Organisation
  5. Zahlen
  6. Theorie
  7. Bürgerschaftliches Engagement
  8. Der zivilgesellschaftliche Mehrwert
  9. Legitimität und Qualitätssicherung
  10. Transparenz
  11. Der Handlungsraum
  12. Zehn Regeln für eine gute Zivilgesellschaft

>> Ergänzende Literatur

1. Einführung
Zur Zivilgesellschaft gehören in Deutschland rund 800.000 organisierte Bewegungen, Organisationen und Einrichtungen sowie zahlreiche unorganisierte oder spontane kollektive Aktionen, die

  • auf Freiwilligkeit gegründet sind,
  • subjektiv Ziele des allgemeinen Wohls verfolgen,
  • keine staatlichen i.S. von hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen,
  • nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind,
  • Überschüsse aus ihrer Tätigkeit nicht an Mitglieder, Gesellschafter oder Dritte ausschütten,
  • selbstermächtigt und selbstorganisiert handeln,
  • zu einem wesentlichen Teil auf Geschenke von Empathie, Zeit, materielle Ressourcen und andere angewiesen sind.

Die Zivilgesellschaft ist eine lebendige Arena des kollektiven öffentlichen Handelns, in der eine Vielfalt von Positionen zu Fragestellungen, Lösungen und Verfahren zu finden ist. Akteure können von anderen oder von der Gesellschaft insgesamt Zustimmung oder auch scharfe Ablehnung erfahren. Die zur Zivilgesellschaft gehörenden Akteure (zusammengefaßt ZGO) sind zwar sehr unterschiedlich – in Größe ebenso wie in Funktion und Ziel, haben aber gemeinsame Merkmale, die sie von staatlichen und gewinnorientierten Organisationen unterscheiden.

Über all dies herrschen in der deutschen Öffentlichkeit nur sehr ungenaue Vorstellungen und zahlreiche Mißverständnisse. Die Auffassungen sind oft von Vorurteilen oder Klischees geprägt oder übertragen veraltete Meinungen oder Ausprägungen in anderen Ländern auf Deutschland. Unabhängig davon hat sich die Wahrnehmung von dem, was wir heute Zivilgesellschaft nennen, im Laufe der letzten Generation deutlich verschoben. Stand früher die Hilfe für Bedürftige im Mittelpunkt und waren die Förderung der Kultur und der Sport wichtige weitere Bereiche gemeinwohlorientierten Handelns, so stehen seit den späten 1960er Jahren neue soziale Bewegungen in Ausübung von Freiheitsrechten mit Zielen des sozialen Wandels, der politischen Partizipation oder der Anprangerung von Mißständen sehr viel stärker im Blickpunkt. Seit den 1980er Jahren können wir die Auflehnung gegen repressive Regime als Wegbereitung von Transformationsprozessen als Kernelement zivilgesellschaftlichen Handelns beobachten. Heute verbinden wir mit Zivilgesellschaft einerseits weltweite humanitäre Hilfe, aber auch die Auseinandersetzung mit globalen ebenso wie lokalen Herausforderungen und spontane bürgerschaftliche Aktionen. Die traditionelleren Tätigkeitsfelder von ZGO leben großenteils weiter, haben sich zum Teil allerdings gewandelt.

Die hier vorgelegte knappe Zusammenfassung soll der Erstinformation über das Gesamtbild der modernen Zivilgesellschaft in Deutschland dienen. Sie verzichtet bewußt auf Quellenangaben im Text, auf die Schilderung von Diskursen und auf den Vergleich mit Zivilgesellschaftsverständnissen in anderen Regionen und Ländern der Welt. Hierfür sei bspw. auf das im Maecenata Institut erarbeitete Handbuch Zivilgesellschaft und die ebenfalls im Maecenata Institut im Auftrag des Instituts für Auslandsbeziehungen erstellte Studie zu Zivilgesellschaftsverständnissen in Europa (beide erschienen 2020) sowie auf eine reiche Fachliteratur verwiesen, die am Schluß dieses Textes auszugsweise aufgeführt ist.

2. Der Begriff
Zivilgesellschaft ist ein neuer Begriff für ein altes universelles Phänomen.

Der Begriff Zivilgesellschaft (engl. civil society) hat sich als Bezeichnung für die Arena kollektiven Handelns in der Gesellschaft neben denen des Marktes und des Staates durchgesetzt. Die hierzu gehörenden Akteure werden als zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO) bezeichnet (engl. civil society organisationsCSO).

Der Begriff Zivilgesellschaft ist als deutsche Übersetzung des englischen civil society seit den 1990er Jahren verbreitet und ersetzt zunehmend ältere Begriffe wie Dritter Sektor, NGO, NPO, gemeinnützige Organisationen usw. Er hat gegenüber älteren Verständnissen einen Wandel erfahren und ist heute kein Synonym für bürgerliche Gesellschaft (i.S. von Hegel) oder Bürgergesellschaft. Auch fällt nicht jedes bürgerschaftliche Handeln unter den Begriff Zivilgesellschaft. Zum bürgerschaftlichen Handeln gehören bspw. auch die Teilnahme an Wahlen, der Dienst als Schöffe oder die Wahrnehmung von kommunalen Ehrenämtern, die nicht zur Zivilgesellschaft gezählt werden. Zudem grenzt sich Zivilgesellschaft vom Individuum und seinem unmittelbaren familiären Umfeld ab.

Die Zivilgesellschaft kann stärker oder schwächer, der Schwerpunkte ihrer Arbeit unterschiedlich und ihr Verhältnis zu den anderen Arenen (Staat und Wirtschaft) kooperativ oder konfliktreich sein. In jedem Fall nimmt sie ebenso wie die anderen Arenen an dem Kampf um die Verteilung der Macht in einer Gesellschaft teil und hat insoweit immer auch eine politische Dimension. Ihre Akteure verfügen über weniger materielle Ressourcen als die in anderen Arenen und über keine speziellen Instrumente der Gewalt; doch kann sie heute mehr als andere die Aufmerksamkeit für und Reaktionen auf eine Herausforderung, eine Notsituation oder einen Mangel mobilisieren. Sie bildet dadurch heute den bürgerschaftlichen Raum schlechthin und stellt eine wesentliche Komponente des bürgerschaftlichen Raums (civic space) dar. Sie ist die Arena des bürgerschaftlichen Engagements.

3. Erscheinungsformen
Die Heterogenität der Zivilgesellschaft ist ebenso groß wie die der anderen Arenen. Zivilgesellschaftliche Akteure lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten unterschiedlichen Subsektoren zuordnen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen lassen sich wie folgt einteilen: 

  1. nach ihrer Funktion (NB: Viele Akteure sind in mehreren Funktionen aktiv.)
    1. Dienstleistungen (z.B. Hilfe für sozial Bedürftige und Schwache)
    2. Themenanwaltschaft (engl. advocacy) (z.B. Eintreten für Naturschutz)
    3. Wächter (z.B. Verbraucherschutz)
    4. Mittler (z.B. Förderstiftungen)
    5. Selbsthilfe (z.B. Patientenselbsthilfen)
    6. Gemeinschaftsbildung (z.B. Laienmusik)
    7. politische Mitgestaltung (z.B. Protestbewegungen)
    8. persönliche Erfüllung (z.B. Religionsgemeinschaften)
  2. nach ihrem Verhältnis zur Gesellschaft
    1. unterstützend (z.B. staatliches Handeln ergänzend / ersetzend)
    2. sich absondernd (z.B. Vereinigungen von Minderheiten)
    3. die Stimme erhebend (z.B. Menschenrechtsgruppen)
  3. nach ihrem Verhältnis zu den anderen Arenen
    1. korporatistisch (Teil eines übergreifenden Systems, oft mit Abhängigkeiten verbunden)
    2. pluralistisch (unabhängig agierend)
  4. nach ihrer Organisationsform
    1. assoziative Organisationen (Vereine)
    2. gebundene Organisationen (Stiftungen)
    3. Organisationen im Eigentum von Außenstehenden (Gesellschaften)
  5. nach ihren Zielen, bspw.
    1. Wohlfahrtspflege
    2. Forschung
    3. Bildung und Erziehung
    4. Kultur
    5. Natur- und Umweltschutz
    6. Sport
    7. Menschen- und Bürgerrechte
    8. Religion
  1. nach ihrem Grad ihrer Verfaßtheit und Konsistenz
    1. spontane Zivilgesellschaft
    2. Bewegungen
    3. Organisationen

Viele Akteure der Zivilgesellschaft glauben, nur die Akteure, die dem gleichen Subsektor angehören und zu bestimmten gesellschaftlichen Fragen eine ähnliche Position einnehmen wie sie selbst, würden zur Zivilgesellschaft gehören. Auch in der Öffentlichkeit werden oft nur einzelne Akteure als zur Zivilgesellschaft gehörig betrachtet. Dies ist aber falsch. Zivilgesellschaft ist ein analytischer und weit zu fassender Begriff, der zunächst nichts mit Zivilität oder anderen normativen Kategorien zu tun hat. Sie hat daher auch eine dunkle Seite (dark side of civil society).

4. Rahmenbedingungen und Organisation
Die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft setzt der Staat, weil die Bürgerinnen und Bürger diesem das Mandat dazu erteilt haben. Der Staat ist darin aber nicht frei, sondern an die Grundprinzipien unserer Gesellschaft, an Verfassungen und völkerrechtliche Vereinbarungen gebunden.

Eine aktive, selbständige Zivilgesellschaft bildet die Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie. Sie ist insoweit systemrelevant und demokratiekonform. Beides gründet auf Rechten, die jeder Bürgerin und jedem Bürger von Natur aus innewohnen. Die Rechte sind im Grundgesetz verbrieft, gehen jeder Verfassung aber voraus; zu ihrer Achtung hat sich Deutschland in zahlreichen völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen und Verträgen verpflichtet. Spätestens, seit es den Grundsatz ›Responsibility to Protect‹ (R2P) gibt, können diese Rechte von der Völkergemeinschaft auch gegen nationale Regierungen durchgesetzt werden. Die Staatssouveränität findet hier ihre Grenzen.

Deutschlands Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist zwingend daran gebunden, dass Menschen- und Bürgerrechte, die Herrschaft des Rechts und Demokratie die handlungsleitenden Prinzipien jeder gesetzgebenden, richterlichen und exekutiven Gewalt bilden. Das Gewaltmonopol, das die Bürgerinnen und Bürger dem Staat eingeräumt haben, ja überhaupt das Mandat, das sie ihm als Herrinnen und Herren des Verfahrens erteilt haben, findet hier seine Grenze. Die Tätigkeit selbst ermächtigter, selbstorganisierter, unabhängiger kollektiver Akteure im öffentlichen Raum unterliegt insofern nicht der Disposition staatlicher Organe, ist schon gar nicht und in keiner Weise eine Konzession mit Genehmigungs-vorbehalt, sondern ein originäres, nicht anzutastendes Recht aller Bürgerinnen und Bürger.

Zu den verbindlichen Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft zählen insbesondere

  • die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet durch eine Resolution der Vereinten Nationen (1948);
  • die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950) mit späteren Zusatzprotokollen;
  • die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000);
  • das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949) mit späteren Änderungen, insbesondere Abschnitt I (Die Grundrechte);
  • die Verfassungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland.

Der deutsche Gesetzgeber hat zahlreiche gesetzliche Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft erlassen und darüber hinaus die Regierung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften ermächtigt. Allerdings sind diese zu einem nicht geringen Teil älter als die genannten Verfassungen und völkerrechtlichen Verpflichtungen und sind, wenn nicht dem Buchstaben, aber doch dem Sinne nach keineswegs immer mit diesen kompatibel.

Die organisierte Zivilgesellschaft ist im wesentlichen in einer der folgenden Organisationsformen organisiert:

  1. Verein: Der Verein ist die typische und häufigste Form, in der sich Zivilgesellschaft organisiert. Ihre Gründung beruht auf dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit und ist nicht von einer staatlichen Genehmigung abhängig. Allerdings lassen sich Vereine, die im Rechts- und Geschäftsverkehr mehr als nur in unwesentlichem Umfang auftreten wollen, in das staatliche Vereinsregister eintragen. Das Grundprinzip des Vereins ist der ständige Willensbildungsprozeß seiner Mitglieder. Dieser darf durch die Satzung des Vereins in gewissem Umfang beschränkt, aber nicht aufgehoben werden. Die Einzelheiten sind in einer Satzung geregelt. Der gesetzliche Rahmen findet sich im wesentlichen im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 21 ff.)
  2. Stiftung: Die Stiftung ist eine auf die Dauer ihres Bestehens an den Willen der Stifterin/des Stifters gebundene Organisation. Die Organe der Stiftung sind insoweit in ihren Entscheidungen nicht frei. Stiftungen kommen in mehreren Rechtsformen vor, insbesondere als rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts (geregelt im BGB, § 80 ff.) und als nicht rechtsfähige Treuhandstiftungen (geregelt im Treuhandrecht im BGB ohne besondere Erwähnung der Treuhandstiftung). Die Einzelheiten sind in einer Verfassung oder Satzung geregelt.
  3. Gemeinnützige Kapitalgesellschaft: GmbH, Aktiengesellschaften und Unternehmergesellschaften (haftungsbeschränkt) gehören, sofern sie sich zu den allgemeinen Grundsätzen zivilgesellschaftlicher Organisationen bekennen, zur Zivilgesellschaft. Dies ist jedoch nur ausnahmsweise der Fall. Die Einzelheiten sind in einem Gesellschaftsvertrag geregelt.
  4. Genossenschaft: Genossenschaften können der Zivilgesellschaft zugerechnet werden, sofern sie als gemeinnützigen Zwecken dienend anerkannt werden. Der jeder Genossenschaft eigene Doppelzweck (Gemeinwohl und Gewinn) reicht hierfür nicht aus. Die Einzelheiten sind in einer Satzung geregelt.
  5. Gesellschaft bürgerlichen Rechts: Zivilgesellschaftliche Bewegungen und Gruppen, auch solche, die spontan entstehen, erwerben, sofern ihr Handeln als gemeinsames Handeln erkennbar wird, automatisch und ohne eigenes Zutun den Status einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Diese sind Personengesellschaften. Sie bedürfen keiner Satzung, können jedoch eine Satzung haben, in der Einzelheiten des gemeinsamen Handelns geregelt sind.

Vereine und Stiftungen gehören in der Regel zur Zivilgesellschaft und sind überwiegend (sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen), aber nicht notwendigerweise, gemäß §§ 51 ff. Abgabenordnung als gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienend anerkannt und von Ertrags- und Vermögensteuern befreit. (Entgegen einer viel gehörten Meinung gehören rd. 95% aller deutschen Stiftungen in diese Gruppe.) Kapitalgesellschaften und Genossenschaften können als gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienend anerkannt und von Ertrags- und Vermögensteuern befreit werden, wenn sie die Kriterien dafür erfüllen.

5. Zahlen
Die empirische Basis der Kenntnisse von der Zivilgesellschaft ist unbefriedigend.

Obwohl seit nunmehr 30 Jahren intensiv daran gearbeitet wird, die empirische Basis der deutschen Zivilgesellschaft zu verbessern, ist das Ergebnis nach wie vor unbefriedigend. Dies liegt im wesentlichen daran, daß

  • ZGO nicht verpflichtet sind, der Öffentlichkeit Auskünfte zu erteilen und infolgedessen insbesondere viele kleinere ZGO keine Berichte veröffentlichen,
  • amtliche Statistiken nur sehr lückenhaft vorliegen und in diesen keine Kategorien für zivilgesellschaftliche Organisationen und zivilgesellschaftliche Aktivitäten vorhanden sind bzw. eingesetzt werden,
  • alle Umfragen auf Hochrechnungen beruhen,
  • die Finanzämter unter Verweis auf das Steuergeheimnis weder im einzelnen noch aggregiert Einblick in die Steuerunterlagen von ZGO zulassen,
  • keine verbindlichen Richtlinien für die Erstellung von Rechnungswerken von ZGO existieren,
  • keine verbindlichen Richtlinien für die Bewertung von Vermögenswerten von ZGO existieren,
  • es keine mit adäquaten Mitteln ausgestattete Forschungseinrichtung gibt, die empirische Daten unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten und nach anerkannter wissenschaftlicher Methodik erheben, auswerten und fortschreiben würde.

Im folgenden werden einige wesentliche Zahlen genannt:

  • Die Zahl der eingetragenen Vereine in Deutschland beträgt rd. 600.000, Tendenz steigend.
  • Die Zahl der nicht eingetragenen Vereine wird auf rd. 150.000 geschätzt.
  • Rund 50% der eingetragenen Vereine in Deutschland arbeiten mit einem jährlichen Budget von weniger als 10 000€
  • Die Zahl der rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts in Deutschland beträgt rd. 23.000, Tendenz steigend.
  • Die Zahl der nicht rechtsfähigen Treuhandstiftungen wird auf rd. 30.000 geschätzt, Tendenz steigend.
  • Die Zahl der Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen wird auf rd. 100.000 geschätzt, Tendenz abnehmend.
  • Rund 65% aller rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts haben ein Kapital von weniger als 1 Million Euro.
  • Die Zahl der gemeinnützigen Kapitalgesellschaften beträgt rd. 25.000, Tendenz stark steigend.
  • Die Zahl der Genossenschaften beträgt insgesamt rd. 8.000 und ist rückläufig. Der Anteil der Genossenschaften, der der ZG zugerechnet werden kann, nimmt zu.
  • 2014 waren nach den Daten des Freiwilligensurveys 43,6% der deutschen Bürgerinnen und Bürger ab 14 Jahren freiwillig engagiert.
  • Mit (Häufigkeit der) Ausübung eines freiwilligen Engagements steigt nach Daten des SOEP die individuelle Lebenszufriedenheit.

Von 2007 bis 2016 stieg der Anteil der beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (sozial- versicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte) von 2,9 auf 3,7 Millionen. Der Beschäftigungsanstieg im gemeinnützigen Sektor überstieg damit den allgemeinen Beschäftigungsanstieg. 61% dieser Beschäftigten arbeiten im Gesundheitswesen. Die Hochrechnungen für das jährliche Spendenvolumen in Deutschland schwanken zwischen 3,7 und 8,0 Milliarden Euro.

6. Theorie
Zivilgesellschaft ist ein wesentlicher Teil des bürgerschaftlichen Raums. Kollektives Handeln in der Gesellschaft findet in diesem Raum ebenso statt wie im Markt und im Staat.

Seit rd. 20 Jahren wird Zivilgesellschaft als Arena kollektiven Handelns in der Gesellschaft mit gemeinsamen Merkmalen erkannt. Das moderne Konzept der Zivilgesellschaft geht von zwei grundlegenden Annahmen aus:

  1. Ausgangspunkt der Gesellschaft ist der Mensch in seiner unverwechselbaren und unabdingbaren Würde.
  2. Kollektives Handeln in der und für die Gesellschaft findet in drei Arenen statt. Als Zivilgesellschaft wird eine dieser Arenen (neben denen des Staates und des Marktes) bezeichnet.

Zivilgesellschaft ist die deutsche Übersetzung von civil society. Der Begiff civil society wurde in den 1960er Jahren zuerst in den USA in die sozialwissenschaftliche Debatte eingeführt, um deutlich zu machen, daß die Unterscheidung zwischen ‚Staat‘ und ‚Privat‘ nicht genügt, um tatsächliche gesellschaftliche Prozesse und Erscheinungsformen zu beschreiben. Die Unterschiede zwischen gewinnorientierten und nicht gewinnorientierten Unternehmungen werden dadurch unzulässig negiert; dem Staat wird zu große Bedeutung beigemessen, wichtige Erscheinungsformen werden ausgeblendet. An der Entwicklung des Konzepts waren und sind konservative, liberale und marxistische Denker unabhängig voneinander beteiligt.

Zivilgesellschaft hat es jedoch der Sache nach mit wenigen Ausnahmen in der Geschichte und in allen Kulturen immer gegeben. Sie ist kein Produkt der liberalen „westlichen“ Demokratie; vielmehr ist diese ohne Zivilgesellschaft nicht vorstellbar. Andererseits hatte der Begriff lange Zeit andere Bedeutungen. Bis heute wird diskutiert, was Zivilgesellschaft ist und wer dazu gehört. Dies gilt beispielsweise für Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Parteien. Es finden sich allerdings viele gute Argumente dafür, dass Religionsgemeinschaften und Gewerkschaften zur Zivilgesellschaft gehören, Parteien hingegen nicht, weil sie dem Staat sehr nahe stehen, indem sie bspw. die Kandidatenauswahl für die parlamentarischen Mandatsträger bestimmen.

In jeder Arena werden spezifische Aufgaben für die Gesellschaft wahrgenommen. In jeder Arena agieren kollektive Akteure, die in Größe und Funktion sehr unterschiedlich sind, aber auch gemeinsame Merkmale aufweisen.

Drei Arenen

Zum unmittelbaren persönlichen Bereich (M) gehört der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Singularität und Würde, gehören aber auch die Familie, in die er hineingeboren oder hineingewachsen ist und sein enges Umfeld.

Zur Arena Staat gehören die Nationalstaaten, regionale und lokale Gebietskörperschaften und transnationale Vertragssysteme sowie andere mit der Ausübung von staatlichen Ordnungsaufgaben beauftragte Institutionen und Organisationen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die Teilhabe an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt. Nur der Staat erhebt beispielsweise zwangsweise Steuern und kann andererseits aufgrund von Gesetzen Menschen zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen zwingen.

Zur Arena Markt zählen die Unternehmen, die darauf gerichtet sind, Rohstoffe, Produkte und Dienstleistungen zu erzeugen. Dazu gehören multinationale, globale Konzerne ebenso wie kleine und kleinste Produktions-, Handwerks- oder Handelsunternehmen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die Absicht, Gewinne zu erzielen.

Zur Arena Zivilgesellschaft gehören organisierte Bewegungen, Organisationen und Einrichtungen sowie unorganisierte oder spontane kollektive Aktionen, die ohne Gewinnerzielungsabsicht und ohne Teilhabe an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt im öffentlichen Raum agieren und eine weitere gemeinsame Merkmale aufweisen (s.o.).

Frühere Debatten, ob Zivilgesellschaft durch Attribute wie Zivilität gekennzeichnet sein oder als Gegensatz zu einer ‚Militärgesellschaft‘ verstanden werden muß, sind heute weitgehend obsolet. Die internationale wissenschaftliche und politische Debatte ist sich weitgehend über die hier vorgestellte Definition anhand formaler Merkmale einig. Die Forderung, daß sich das Agieren der und in der Zivilgesellschaft durch Zivilität des Umgangs auszeichnen sollte, ist davon nicht berührt.

Zivilgesellschaft hat eine politische Dimension. Sie ist in der offenen Gesellschaft ein Ort der deliberativen Demokratie (i.S. von Habermas). Ohne Zivilgesellschaft werden Menschen- und Bürgerrechte, die Herrschaft des Rechts (rule of law) und Demokratie nicht ausgebildet – nicht aber umgekehrt. Der unverzichtbare Mehrwert einer aktiven Zivilgesellschaft für die Gesellschaft insgesamt liegt vor allem in ihren kreativen Beiträgen zum sozialen Wandel, aber auch zum sozialen Frieden in Form von Gelegenheiten zum Engagement, Inklusion und Partizipation sowie in der Herausbildung von sozialem Kapital und Gemeinschaft.

In den letzten 30 Jahren hat die Zivilgesellschaft nicht nur einen gemeinsamen Namen gefunden. Sie ist auch gewachsen und hat sich konsolidiert. Immer mehr Menschen solidarisieren sich in communities of choice (Gemeinschaften ihrer Wahl), die mehr Loyalität binden und Identität verleihen als der Nationalstaat und andere communities of fate, in die man hineingeboren wurde. Immer mehr zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen und Institutionen, treten andererseits multifunktional auf; sie sind zugleich Dienstleister und Themenanwälte, fördern die Gemeinschaftsbildung und bieten Hilfe zur Selbsthilfe, sind Mittler und haben Anteil an der deliberativen Demokratie – und verhelfen, anders als Staat und Markt, den Menschen zu einem selbsterfüllten Leben. Es ist unübersehbar, daß gegen die Zivilgesellschaft heute keine Politik mehr gemacht werden kann.

Weltweit werden immer wieder Diskussionen darüber geführt, ob die Zivilgesellschaft definitionsgemäß normativen Kriterien folge, also notwendigerweise „gut“ sei. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr muß zwischen der Frage, ob eine Organisation der Zivilgesellschaft zuzurechnen ist, und der Frage, ob ihre Tätigkeit zu billigen ist, unterschieden werden. Aus der Formulierung der zweiten Frage wird deutlich, daß die Antwort nur subjektiv gegeben werden kann.

Zu unterscheiden ist zwischen

  1. gradueller Mißbilligung wegen unterschiedlicher Auffassungen zu einer konkreten Frage,
  2. fundamentaler Mißbilligung wegen grundsätzlich unterschiedlichen Positionen.

Während in jedem Fall Respekt vor anderen Akteuren und ihren Positionen ein Merkmal einer guten Zivilgesellschaft darstellt, kann die Beurteilung eines Akteurs als gute Zivilgesellschaft dort ihre Grenzen finden, wo dieser Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens nicht anerkennt, bspw.

  1. die Menschen- und Bürgerrechte (nach dem Standard völkerrechtlicher Vereinbarungen),
  2. die Herrschaft des Rechts,
  3. die Pluralität zivilgesellschaftlicher Akteure,
  4. die öffentliche Verantwortlichkeit aller Akteure im öffentlichen Raum,
  5. die Grundsätze einer offenen Gesellschaft.
  6. Bürgerschaftliches Engagement

Bürgerschaftliches Engagement organisiert sich zu über 80% in der Zivilgesellschaft.

Die Zivilgesellschaft folgt einer eigenen Handlungslogik. Sie wird wesentlich durch das Attribut des Geschenks bestimmt, während der Markt das Prinzip des Tauschs zugrundelegt und der Staat das Monopol auf die Gewalt ausübt. Deshalb bildet die Zivilgesellschaft das vornehmliche Ziel von Philanthropie. Diese äußert sich in der Gründung eigener ZGO (überwiegend Vereine und Stiftungen) ebenso wie in der Unterstützung bestehender ZGO durch Geschenke. Geschenkt werden

  • Empathie,
  • Ideen,
  • Know-How,
  • Reputation,
  • materielle Ressourcen,
  • Zeit.

Das Schenken von Zeit wird im engeren Sinn heute als bürgerschaftliches Engagement bezeichnet. Die ältere Bezeichnung ‚Ehrenamt‘ ist mißverständlich geworden, weil die Frage der Gegenleistung ungeklärt ist und sich infolgedessen Funktionsträger in Verbänden (bspw. im Sport) ebenso wie Mandatsträger im staatlichen Bereich gern als ehrenamtlich bezeichnen, obwohl die gewährten Aufwandsentschädigungen der Honorierung einer beruflichen Tätigkeit gleichzusetzen sind.

Bürgerschaftliches Engagement bezeichnet die freiwillige, nicht auf materielle Gegenleistungen ausgerichtete und meist kollektive Tätigkeit von Menschen für das jeweils subjektiv definierte allgemeine Wohl. Der Begriff umfasst auch den klassischen Begriff Ehrenamt, ergänzt diesen aber durch eine in einem allgemeinen Sinn politische Komponente. Der Begriff steht insofern in enger Verbindung zum Begriff des Bürgers bzw. der Bürgerin (citoyen bzw. citoyenne) im Sinne eines allgemeinen Weltbürgertums.

Bürgerschaftliches Engagement bildet ein originäres Menschen- und Bürgerrecht, das traditionell vor allem in organisierter Form, beispielsweise in Vereinen und Stiftungen, ausgeübt wird, immer häufiger aber auch spontan und außerhalb traditioneller Strukturen. Überwiegend findet es im lokalen Umfeld statt; zunehmend präsentiert es sich aber auch als Ausdruck einer Weltgesellschaft. Eine Verbindung zu eigenen Interessen (beispielsweise als Eltern, Nachbarn usw.) wertet dieses Engagement nicht grundsätzlich ab.

Bürgerschaftliches Engagement ist eine wesentliche Komponente der Zivilgesellschaft, findet sich aber auch im Staat und in der Wirtschaft. Es bildet die Voraussetzung für die Entwick-lung einer Bürgergesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, die unmittelbar von den Bürgerinnen und Bürgern her lebt und von diesen gestaltet wird. In einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft gilt dies in besonderem Maße. Bürgerschaftliches Engagement hat wesentlich den Charakter des Geschenks, das freiwillig in Form von Empathie, Wissen, Kreativität, Reputation, Zeit und materiellen Ressourcen angeboten wird.

Bürgerschaftliches Engagement besitzt einen Eigensinn, bedarf oder unterliegt grundsätzlich keiner Regelung oder Steuerung, gestaltet die res publica im Sinne der deliberativen Demokratie mit. Es entwickelt sich insoweit unabhängig vom staatlich verfassten Gemeinwesen, kann dessen Handeln aber auch in Frage stellen oder gemeinsam mit diesem Ziele des allgemeinen Wohls verfolgen. In der Regel wird es im öffentlichen Raum, unter besonderen Umständen aber auch im Verborgenen verwirklicht.

Bürgerschaftliches Engagement ist heute eine Gelingensbedingung für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen („ohne bürgerschaftliches Engagement keine Bürgerrechtsbewegung, keine Frauenbewegung, keine Umweltbewegung, kein Mauerfall!“). In der aktuellen Flüchtlingshilfe wird dies besonders augenfällig. Einen ermutigenden Freiraum dafür zu schaffen, zu befördern und zu bewahren, ist deshalb eine primäre Aufgabe aller gesellschaftlichen Akteure.

In den letzten Jahren ist eine Tendenz der Verlagerung des bürgerschaftlichen Engagements festzustellen:

  • vom Engagement in großen, älteren Organisationen zum Engagement in neuen jungen Bewegungen,
  • von einem dauerhaften oder langfristigen Engagement zu einem kurzfristigen Engagement,
  • vom Einfügen in hierarchische Strukturen in ein Engagement mit Teilhabe an Entscheidungsprozessen,
  • vom Engagement in der organisierten Zivilgesellschaft zum spontanen unorganisierten Engagement.

8. Der zivilgesellschaftliche Mehrwert
Jede Gesellschaft bedarf zwingend der Mitwirkung ihrer Mitglieder. Diese Mitwirkung zu ermöglichen, ist vornehmste Aufgabe der Zivilgesellschaft.

Jede Gesellschaft lebt davon, daß ihre Mitglieder ein positives Verhältnis zu ihr haben und sich an ihrer Gestaltung beteiligen. Beides kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Jeder Versuch, eine Gesellschaft unter Verzicht auf Konsens und Mitwirkung zu organisieren und zu entwickeln, ist mittelfristig zum Scheitern verurteilt. Ebensowenig kann eine Mitwirkung nur auf Befehl erfolgreich sein.

Hier setzt das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft an. Ihre Akteure generieren die Kreativität und den Ideenreichtum, den die Gesellschaft für ihre Entwicklung benötigt, während sie andererseits an ihre Tätigkeit keine materiellen Gewinnerwartungen knüpfen. Damit ist die Legitimität der Ansätze der anderen Arenen keinesfalls in Frage gestellt. Diese bedürfen aber der Ergänzung durch den zivilgesellschaftlichen Ansatz. Darüber hinaus ist eine aktive Zivilgesellschaft Ausdruck der Eigenverantwortung und der Teilhabe an der Gesamtverantwortung aller Mitglieder einer Gesellschaft. Zudem wird in der Zivilgesellschaft das soziale Kapital generiert, auf das Staat und Markt angewiesen sind, ohne es selbst generieren zu können. Schließlich fördert eine aktive Zivilgesellschaft die soziale Kohäsion und trägt zum sozialen Wandel bei. In Krisensituationen und in der Suche nach Auswegen aus der Krise und nach Lösungen für Herausforderungen ist die Zivilgesellschaft besonders systemrelevant.

Deswegen können Versuche, eine staatlich gelenkte Zivilgesellschaft einzurichten, nicht langfristig erfolgreich sein. Sie werden entweder wegen des Mangels an Freiwilligkeit absterben oder sich aus der Abhängigkeit befreien, um zu überleben.

Der zivilgesellschaftliche Mehrwert beinhaltet im einzelnen:

  • Inklusion, Integration
  • Reputation
  • Partizipation
  • Soziales Kapital
  • Beitrag zum sozialen Wandel
  • Förderung der sozialen Kohäsion
  • Subsidiarität – Eigenverantwortung

9. Legitimität und Qualitätssicherung

Ein aus den Hauptkriterien Engagement, Gemeinwohl, Relevanz, Leistung und Rechenschaft bestehendes Kategorienmodell kann der Zivilgesellschaft bei der Vertrauens- und Legitimitätssicherung helfen.

ZGO sind grundsätzlich nicht demokratisch legitimiert: Selbst der größte Verein (oder Verband) vertritt immer nur die Gemeinschaft seiner Mitglieder und kann nicht beanspruchen, die Allgemeinheit zu vertreten. Sakrale und durch die eigene, oft sehr lange Geschichte begründete Legitimierungen werden generell in Frage gestellt und auch nur von wenigen ZGO (bspw. Religionsgemeinschaften) in Anspruch genommen. Daher setzen ZGO heute meist auf Legalität, Input- oder Output-Legitimierungen – und haben von der Legitimität durch Akzeptanz profitiert. In den letzten rd. 15 Jahren hat dabei die Output-Legitimierung in der Diskussion ein Übergewicht erhalten, indem Wirkung, Effekte, Erfolge (Impact) als gebräuchliche Vokabeln zur Begründung von Legitimität herangezogen wurden. Der Verweis auf messbare und somit objektive Faktoren einerseits und auf Innovation andererseits hat dieses Übergewicht noch verstärkt.

Diese Schwerpunktsetzung beinhaltet jedoch einen Trugschluss. Zum einen können problematische Messverfahren zu zwar gewünschten, aber nicht notwendigerweise validen Ergebnissen führen; zum anderen erscheint die Konzentration auf Output-Legitimierung als solche problematisch. Zudem bleiben nicht messbare, aber sehr wohl beobachtbare Faktoren außer Betracht. Dies wird bspw. dadurch deutlich, dass Verfahren dieser Art zu Vergleichen zwischen den Erfolgen von ZGO mit denen von Wirtschaftsunternehmen anregen, bei denen ZGO nicht selten hinter diesen zurückbleiben.

Solche Vergleiche werden dem besonderen Charakter der Arbeit von ZGO nicht gerecht und vernachlässigen die besondere, für die Gesellschaft wichtige Handlungslogik der Zivilgesellschaft. Zudem befürchten große ZGO, in den Sog des Vertrauensverlustes großer Organismen hineingezogen zu werden, was durch zahlreiche, im Einzelnen in den Aussagen voneinander abweichende, aber in der Grundaussage beständige Untersuchungen bestätigt wird. ZGO müssen auf die Frage „Wozu?“ aber ebenso auf die Frage „Warum?“ schlüssig antworten können.

Ein Kategorienmodell versucht, wesentliche Kriterien einer vertrauens- und legitimitätsbasierten Zivilgesellschaft zu generieren und miteinander zu verbinden:

Basis ZG Kategorienmodell


Jedem Hauptkriterium können drei Subkriterien zugeordnet werden:

Engagement                         Mitgefühl, Verständnis, Respekt

Gemeinwohl                          Zielorientierung, Bedarfsorientierung, Integrität

Relevanz                                Nachhaltigkeit, Erfolg, Wirkung

Leistung                                Praxis-Standard, Dialogbereitschaft, Governance-Qualität

Rechenschaft                        Transparenz, Verantwortung, Compliance

Ziel dieser gesamthaften Betrachtung ist es, das Vertrauen in die Arbeit der Zivilgesellschaft zu sichern und wo notwendig wiederherzustellen.

10. Transparenz
Transparenz bietet den unabdingbar notwendigen Ausgleich für die fehlende Repräsentativität zivilgesellschaftlicher Aktion.

In einer offenen, demokratischen Gesellschaft ist die Aussage, für die Allgemeinheit etwas gutes zu tun, mit sehr wenigen Ausnahmen unabdingbar mit der Bereitschaft verbunden, der Allgemeinheit zu sagen, was getan wird, woher die Mittel dafür kommen und wie die Entscheidungsprozesse strukturiert sind. Insbesondere steht der Allgemeinheit der Bürgerinnen und Bürger eine Rechenschaftslegung über

  • Mittelherkunft,
  • Mittelverwendung und
  • Entscheidungsprozesse

zu.

Transparenz bietet die notwendige Informationsbasis und den notwendigen Schutz für die Stakeholder jeder ZGO. Transparenz trägt zur Vermeidung von Korruption bei und ermöglicht die notwendige wissenschaftliche Begleitung. Sie hilft, Fehlurteile und Fehleinschätzungen durch Außenstehende, insbesondere durch politische Entscheidungsträger, Verwaltungen und Medien zu vermeiden und ermöglicht eine informierte Debatte über die Zivilgesellschaft insgesamt und über die Arbeit einzelner Akteure. Transparenz stellt schließlich die notwendigen empirischen Grundlagen für politisch-administrative Regulierungen her und dokumentiert den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Stärkung der Demokratie und zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft.

Nach innen ist Transparenz ein erstklassiges Steuerungsinstrument und hilft, die Governance zu verbessern. Sie trägt darüber hinaus wesentlich dazu bei, die Zivilgesellschaft bekannter und ihre Bedeutung öffentlich bewusster zu machen und baut Vorurteile ab.

Jede ZGO steht notwendigerweise im ständigen Dialog mit zahlreichen Personen und Einrichtungen, die ein berechtigtes Interesse an der Arbeit, Arbeitsweise, Struktur, Finanzierung der ZGO haben:

Basis ZG ZGO

11. Der Handlungsraum
Die Zivilgesellschaft kann Macht ausüben. Staat und Markt versuchen, diese Macht einzudämmen.

Das Eindämmen der Zivilgesellschaft findet weltweit statt und wird als Shrinking Civic Space oder Shrinking Space for Civil Society, kurz als Shrinking Space bezeichnet. Ob Changing Space oder andererseits Closing Space angemessener wäre, ist eine akademische Diskussion; sie verstellt angesichts des allgemeinen Gebrauchs der erstgenannten Begriffe den Weg zu der intensiven Debatte, deren Notwendigkeit dringlich ist. In jedem Fall läßt sich der Handlungsraum als strittig (contested space) charkaterisieren.

Es geht dabei um Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger wie jenen auf freie Meinungsäußerung, Informationsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, aber auch klassische zivilgesellschaftliche Funktionen wie Themenanwaltschaft (advocacy), humanitäre Hilfe, politische Mitgestaltung und Verbraucherschutz und andere Wächteraufgaben. Auch der wichtige traditionelle Bereich der Dienstleistungen im Sozialwesen, der Bildung, der Kultur usw. wird nicht verschont. Bedroht ist dadurch mehr als die Existenz einzelner Organisationen. In der Gefahr, verletzt zu werden, sind Grundprinzipien unseres Gemeinwesens, etwa die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte und die Herrschaft des Rechts.

In der Debatte um den Handlungsraum der Zivilgesellschaft wird seit Anfang der 2000er Jahre mit angeblichen oder tatsächlichen Konstellationen argumentiert, die eine strenge Überwachung der zivilgesellschaftlichen Akteure durch die Staatsorgane angeblich unabdingbar erscheinen lassen. Dafür, daß in der Debatte das Thema Shrinking Space international und national präsent ist, sorgen nicht zuletzt kontinuierlich weiter ausgreifende Maßnahmen zur Vermeidung von Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Terrorismusbekämpfung, von denen zivilgesellschaftliche Akteure empfindlich getroffen werden, obwohl der Nachweis, daß diese Akteure in nennenswertem Umfang an den zu bekämpfenden Tatbeständen überhaupt beteiligt sind, nicht erbracht werden kann.

Zivilgesellschaftliche Akteure, Wissenschaft, Think Tanks und Medien können Erscheinungsformen oft nicht richtig einordnen und ergreifen keine oder die falschen Gegenmaßnahmen. Das Instrumentarium für die Beschränkung des Handlungsraums der Zivilgesellschaft ist vielfältiger, als auf den ersten Blick erkennbar wird. Es läßt sich unbeschadet präziserer Differenzierungen wie folgt beschreiben:

  1. Diskreditierung, Delegitimierung, Kriminalisierung und Stigmatisierung,
  2. gesetzliche Beschränkungen,
  3. Restriktionen durch Verwaltungshandeln,
  4. Übernahme von Leistungen durch Staat oder Wirtschaft („crowding out“),
  5. Beschränkungen der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit,
  6. Beschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,
  7. Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung,
  8. Persönliche Repressalien gegen Aktivisten,
  9. Verdächtigungen wegen Terrorismus und Geldwäsche,
  10. Erpressung und Nötigung.

Diese Instrumente finden in vielerlei Gestalt Anwendung. Politik und Medien beteiligen sich durch den Gebrauch von Ausdrücken wie „Mitleidsindustrie“, „Empörungsindustrie“ oder „Anti-Abschiebe-Industrie“ in öffentlicher Rede an der Diskreditierung und Diffamierung. Daß hierzulande Wirtschafts- und Berufsverbände mit gleichem steuerlichen Status uneingeschränkt Lobby-Arbeit betreiben dürfen, wird dabei geflissentlich übersehen.

Druck wird auf die Zivilgesellschaft nicht nur seitens der Staaten ausgeübt. Auch die Wirtschaft beteiligt sich dort, wo die Zivilgesellschaft unbequem ist, an der Ausübung von Druck und verbündet sich hierzu mit dem Staat. Auch innerhalb der Zivilgesellschaft versuchen Akteure regelmäßig, andere Akteure zu verdrängen oder zu behindern.

Einen auf den ersten Blick nicht als solcher erkennbaren Versuch, die Zivilgesellschaft zu verdrängen stellen schließlich die Bürgerbeteiligungsaktionen von Regierungen und intergouvernementalen Organisationen dar.

12. Zwölf Regeln für eine gute Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft analytisch zu definieren, heißt nicht, sie einer normativen Beurteilung zu entziehen. Zivilgesellschaftliches Handeln in unserer Gesellschaft sollte sich an folgenden Kriterien orientieren.

  1. Handle authentisch im Sinne des allgemeinen Wohls!
  2. Orientiere Dein Handeln am Konzept einer offenen, kosmopolitischen und demokratischen Gesellschaft!
  3. Handle aus Verantwortung für Deine Mitbürgerinnen und Mitbürger!
  4. Handle mit Leidenschaft, Vernunft und Augenmaß!
  5. Gib, was Du geben kannst: Empathie, Zeit, Ideen, Reputation, Vermögen!
  6. Erwirb Dir durch Dein Handeln Vertrauen!
  7. Habe Respekt vor anderen Positionen!
  8. Übe keinen Zwang aus!
  9. Vermische nicht Deine Interessen mit denen aller!
  10. Suche Verbündete, aber bewahre stets Deine Freiheit!
  11. Sage öffentlich, was Du tust und woher Deine Ressourcen kommen!
  12. Akzeptiere für Deinen Einsatz wo notwendig eine Honorierung, aber keinen Anteil am Gewinn und erwarte keinen sozialen Lohn!

Ergänzende Literatur

  1. Adloff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt/New York.
  2. Anheier, Helmut / Toepler, Stefan, eds. / List, Regina, man. ed. (2009): International Encyclopedia of Civil Society (3 vols.) New York.
  3. van den Daele, Wolfgang / Gosewinkel, Dieter / Kocka, Jürgen / Rucht, Dieter, Hg. (2004): Zivilgesellschaft – national und international. Berlin.
  4. Edwards, Michael, ed. (2011): The Oxford Handbook of Civil Society. Oxford.
  5. Europäische Kommission (1997): Mitteilung der Kommission über die Förderung der Rolle der Vereine und Stiftungen in Europa. Luxemburg.
  6. Freise, Matthias / Zimmer, Annette, Hg. (2019): Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsstaat im Wandel. Wiesbaden.
  7. Hummel, Siri / Pfirter, Laura / Roth, Johannes / Strachwitz, Rupert Graf (2020): Zivilgesellschaftsverständnisse in Europa. Stuttgart.
  8. Klein, Ansgar (2001): Der Diskurs der Zivilgesellschaft: Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung. Opladen.
  9. Krimmer, Holger, Hg. (2019): Datenreport Zivilgesellschaft. Wiesbaden.
  10. Jakob, Christian / Leifker, Maren / Meissler, Christine (2020): Atlas der Zivilgesellschaft. Berlin.
  11. Priller, Eckhard / Alscher, Mareike / Dathe, Dietmar / Speth, Rudolf, Hg. (2011): Zivilengagement. Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Berlin/Münster.
  12. Putnam, Robert, Hg. (2001): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gü
  13. Roth, Roland / Rucht, Dieter, Hg. (2008): Handbuch Soziale Bewegungen in Deutschland seit 1949. Frankfurt/M.
  14. Salamon, Lester M. / Sokolowski, S. Wojciech / List, Regina (2003): Global Civil Society – An Overview.
  15. Strachwitz, Rupert Graf (2014): Achtung vor dem Bürger – Ein Plädoyer für die Stärkung der Zivilgesellschaft. Freiburg/Basel/Wien.
  16. Strachwitz, Rupert Graf (2015): Transparente Zivilgesellschaft? Schwalbach.
  17. Strachwitz, Rupert Graf / Priller, Eckhard / Triebe, Benjamin (2020): Handbuch Zivilgesellschaft. Berlin/Boston.
  18. Zimmer, Annette / Priller, Eckhard, eds. (2004): Future of Civil Society. Wiesbaden.

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