Opusculum 189 | 26.04.2024 | Michael Ernst-Pörksen
Wer sich zum „Nahost-Konflikt“ zu Wort meldet, muss seine Worte sorgsam wählen. Schnell gerät er/sie unter die Räder der öffentlichen Diskurskritik. „Politische Korrektheit“ ist gefragt. Zu Recht. Wer die Einforderung politisch korrekter Begrifflichkeiten und Formulierungen als Einengung begreift, liegt nicht unbedingt falsch: Ja, die Suche nach der „richtigen Formulierung“ engt ein, sie verbietet das Raushauen irgendwelcher Formulierungen, die zu Verletzung, Demütigung und Ausgrenzung insbesondere jener führen kann, die sich bereits außerhalb von Diskursen Verletzung, Ausgrenzung und Demütigung ausgesetzt sehen.
Dass die „richtige“ oder zumindest „politisch nicht inkorrekte“ Formulierung nicht immer gelingt, ist jedem und jeder bewusst, der/die sich jemals bemüht hat, im Heiklen zu formulieren. Und dass die Befürchtung, möglicherweise falsch verstanden zu werden oder, schlimmer noch, richtig verstanden zu werden, aber das Falsche gesagt zu haben, nicht zur verdrucksten Debatte oder gar zur Verstummung führen darf, ist im Interesse produktiver Diskurse ebenso klar.
Hier ist Großzügigkeit von allen Seiten gefordert. Nicht jede/r, der/die das schnelle Ende der Bombardierung Gazas fordert, bestreitet Israel das Recht, sich selbst zu verteidigen und die Sicherheit seiner Bürger/innen gewährleisten zu wollen. Und nicht jede/r der/die die Gräueltaten der Hamas verurteilt, ist gleichgültig gegenüber dem Leid der Bürger/innen Gazas. Dies gilt auch dann, wenn in den jeweiligen Stellungnahmen mehr Gewicht auf das Eine und weniger Gewicht auf das Andere gelegt wird.
Aber die Notwendigkeit des Bemühens um politisch korrekte Formulierungen zu verneinen, hieße, dem/der Sprecher/in die Verantwortlichkeit für das Gesagte in all seinen Dimensionen zu nehmen. Auch wenn es mitunter weniger „fetzt“: politisch korrektes Formulieren ist die Minimalanforderung im öffentlichen Diskurs.[2]
Wie kompliziert dies im Falle des Terrorangriffs der Hamas und der Bombardierung des dicht besiedelten Gaza-Streifens durch die israelische Armee werden kann, musste auch Jürgen Habermas erfahren, der zu seinem überaus vorsichtigen Statement „Grundsätze der Solidarität“[3] scharfe Gegenreaktionen von Wissenschaftskolleg/innen[4] erfuhr, weil das Statement aus Sicht der Kritiker/innen
„Politisch korrekt“ bezieht sich also nicht nur darauf, was mit welchem Subtext gesagt wird, sondern auch darauf, was mit Blick auf das gedachte Publikum insgesamt gesagt werden müsste, ein im historisch, politisch, emotional und religiös aufgeladenen Israel-Hamas-Palästina-Krieg durchaus schwieriges Unterfangen.
Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass sich die organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland schwer tut, zum Israel/Gaza/Palästina-Konflikt in einen fruchtbaren Diskurs zu treten, der helfen könnte, zumindest hierzulande Raum zu schaffen für freie Gedanken und freie Rede in Respekt für den gegensätzlichen Gedanken und die gegensätzliche Rede.
Hinderlich ist dabei auch der Druck auf die Beteiligten, sich für oder gegen „eine der Seiten“ auszusprechen, Partei zu ergreifen und Solidarität zu bekunden. Die im Ergebnis entstehende Debatte ist fruchtlos[5]:
Die Fruchtlosigkeit der Debatte nimmt ihr nichts von ihrer fatalen Wirkung auf die an der Debatte Beteiligten: Sie üben sich ein in die Rechtfertigung von Grausamkeit und Vernichtungshandeln, fern ab von allem, was gerechtfertigt werden kann. Jenseits der überschrittenen Grenzen aber lässt sich nicht mehr argumentieren, dem Moralischen fehlt hierfür die Sprache, oder wie Hannah Arendt in anderem Kontext formulierte: „Das Moralische versteht sich von selbst.“[6] Wo das „Selbstverständliche“ verloren geht, ist produktiver Diskurs nicht möglich, weil ihm die axiomatische Basis fehlt.
Zu allem Überfluss verliert sich die Debatte regelmäßig in ebenso fruchtlosem Labelling der Argumentationsweise der jeweils anderen Seite als „antisemitisch“ oder „islamophob“, rhetorisch aufgeheizt mit Holocaust-Vergleichen (z. B. bei der in Reaktion auf die von der Hamas ausgeübten barbarischen Mord- und Verschleppungsaktion vollzogenen rigorosen Abschottung und aktuell Tötung palästinensischer Menschen in Gaza)[7].
Bereits die Frage nach dem „Warum?“ des Mordbrennens der Hamas ist risikoreich: Verstehenwollen gerät unter Rechtfertigungsverdacht (eben noch „Putinversteher“, jetzt „Hamasversteher“), so als solle gar kein Grund gefunden werden, der Menschen dazu bringen kann, Gräueltaten nicht vorstellbaren Ausmaßes zu vollbringen. Denn Wissen kann hinderlich sein, wenn allein Zorn die Debatte beherrschen soll.
Über all dem: das zum Stehsatz politischer Stellungnahmen geronnene Wort Merkels von der „deutschen Staatsräson“, deren Teil die Sicherheit Israels sein soll. Abgesehen davon, dass der Begriff der „Staatsräson“ im Allgemeinen Fremdkörper im System parlamentarischer Demokratie und einer offenen Gesellschaft ist, und abgesehen davon, dass deren Konkretisierung im Hinblick auf die Sicherheit Israels in der deutschen Bevölkerung alles andere als stabil verankert ist[8]: Die Sicherheit Palästinas taucht im Gerede von der deutschen Staatsräson nicht auf, was für all jene zum Problem wird, die die Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit jüdischen Lebens in Israel ernst nehmen und gleichzeitig die Position vertreten, dass es keine Sicherheit für Israel geben wird ohne Freiheit, Demokratie und Sicherheit für Palästina – auch wenn nach wie vor unklar ist, in welcher Territorialität Palästina zu denken sein wird[9].
Kurzum: Die Debatte – soweit sie überhaupt zustande kommt – krankt bereits im Ansatz an der verbreiteten Unfähigkeit der Debattierenden, das kulturelle, historische, religiöse, soziale, wirtschaftliche, politische (auch sicherheitspolitische) Aspekt- und Perspektivenbündel der jeweils anderen Seite(n) anzuerkennen, zumindest als Ausgangspunkt einer Debatte.
Dabei steht viel auf dem Spiel, nicht nur in der mit Mord, Krieg und Totschlag überzogenen Region, sondern auch hier, geografisch „weit vom Schuss“. Hier geht es um nicht weniger als um das Zusammenleben exilierter Palästinenser/innen und ihrer Nachkommen mit jüdischen Menschen und deren jeweiligem parteiergreifenden Umfeld. Jahrzehntelang standen in diesem Zusammenhang islamophobe Muster der öffentlichen Kommunikation im Vordergrund antidiskriminierender Politikansätze in Staat und Gesellschaft. Seit dem 7. Oktober 2023 tritt öffentlich zur Schau getragene Judenfeindlichkeit bis hin zu Judenhass in seit Jahrzehnten nicht bekanntem Ausmaß hinzu. Perfiderweise nutzt die tief antisemitische Rechte genau diese Entwicklung zu weiterer Hetze gegen Muslime.
An dieser Stelle kommt die organisierte Zivilgesellschaft ins Spiel. Nicht dass sie als organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland besonders geeignet wäre, Lösungen zu formulieren, die ihrerseits geeignet wären, die kriegsgebeutelte Region zu befrieden. Aber sie kann im eigenen Land helfen, die aufgeheizte Debatte in einen fruchtbaren Diskurs zu führen, an dem all diejenigen teilnehmen können, die diese Teilnahme suchen, und in den sie all die Positionen einbringen können, die sie vertreten, wie fundiert oder nicht fundiert auch immer.
Dabei geht es nicht allein darum, jüdische und muslimische Menschen, Israeli und Palästinenser/innen in einen Austausch zu bringen. Vielleicht ist dies nicht einmal das Wichtigste. Das Wichtigste ist, hier lebende Menschen generell in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Haltungen zum Konflikt zwischen Israeli und Palästinenser/innen zu äußern und auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Das Mittel, dies zu bewerkstelligen, ist der offene Diskurs, und diesen zu organisieren, kann der organisierten Zivilgesellschaft gelingen.
Zu diesem Zweck muss sie sich allerdings selbst frei machen von möglicherweise vorgefassten, festgefahrenen, rituell übernommen Positionen und „strategischen Wahrheiten“, Denklinien also, die für „wahr“ gehalten werden, weil sie im gegebenen ideologischen Gerüst „wahr“ sein müssen.
Dieser Diskurs wird ohne den offenen Blick in die Geschichte des Konflikts nicht auskommen, der auch Kontroverses offenlegen könnte, zum Beispiel
„Diskurs“ soll hier nicht allein „Reden“ heißen, sondern auch „gemeinsames Handeln“, gemeinsames Wirksamwerden, nicht zuletzt mit Blick auf die deutsche Außenpolitik und auf deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Und „organisierte Zivilgesellschaft“ soll nicht nur Menschenrechtsorganisationen und Träger der politischen Bildung einbeziehen. Das gesamte Spektrum ist gefragt, von Kultur zu Sport, zu Umwelt, Kinder-, Jugend- und Altenhilfe, Freizeit, Wissenschaft: alle sind gemeint, weil alle beitragen können zu einem auf Verständigung orientierenden offenen Diskurs innerhalb der deutschen Gesellschaft, die gegenwärtig – angesichts der internationalen Bedrohungslagen vielleicht nicht zu Unrecht – auf Kriegstüchtigkeit orientiert wird. Gefordert ist gerade jetzt die verstärkte Orientierung auf Friedens- und Konfliktfähigkeit im Innern der Gesellschaft: gegensätzliche Positionen aushalten, das Gegenüber respektieren, offene Enden offenlassen können, so lange Einigung nicht erzielt werden kann.
Eva Illouz ist zuzustimmen: „Ein paar Tausend Jahre Exil und unbarmherzige Verfolgungen erlegen der Welt, das heißt der nicht-jüdischen Welt, die moralische Verpflichtung auf, dafür zu sorgen, dass das Recht der Juden auf ein Territorium und nationale Souveränität niemals infrage gestellt wird.“[18] Die Sicherheit Israels zu gewährleisten zielt auf die materielle Absicherung des Existenzrechts Israels. Wenn die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sein soll, muss der deutsche Staat diese Sicherheit auch zum Thema gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland machen. Hierzu gehört nicht nur die Förderung wissenschaftlicher Forschung zur Frage der Determinanten der Sicherheit Israels, zu denen auch die Akzeptanz des Sicherheitsbedürfnisses von Palästinenser/innen gehört (ohne Sicherheit und Demokratie, ohne wirtschaftliche Entwicklungsperspektive für Palästina keine Sicherheit Israels)[19]. Öffentliche Finanzierung wird darüber hinaus für Projekte im gesamten oben ausgeführten Handlungsfeld der organisierten Zivilgesellschaft benötigt.
Öffentliche Finanzierung darf dabei aber nicht ihrerseits die Debatte unter Druck bringen, indem sie per zuwendungsrechtlicher Verengung die Mittelvergabe von Bekenntnissen abhängig macht, die wichtige Teile der Zivilgesellschaft von der Projektfinanzierung ausschließt, wie dies beispielsweise durch die so genannte Antisemitismus-Klausel in Zuwendungsbescheiden der Berliner Kulturverwaltung geschehen sollte.[20] Insbesondere die staatliche Vermischung von Antisemitismus und der Kritik an der jeweiligen Politik israelischer Regierungen durch die Kennzeichnung des israelischen Staates als „jüdisches Kollektiv“, wie dies im BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags geschieht, erschwert es zivilgesellschaftlichen Akteuren, gegen Antisemitismus aktiv vorzugehen und gleichzeitig – wohl wissend, dass Israel kein Staat ist wie jeder andere – die konkrete Politik der israelischen Regierung ebenso kritisch zu betrachten, wie die Politik jeder anderen Regierung jedes anderen Staates, und ist selbst innerhalb der israelischen Gesellschaft durchaus umstritten[21].
Zivilgesellschaftliche Akteure sollten sich zwar schon generell hüten, allein dem Geld zu folgen. Sie sollten stattdessen jeweils selbstbewusst überprüfen, inwieweit sie als Zuwendungsempfänger durch den geldgebenden, „ermöglichenden Staat“ politisch geführt werden. Im ohnehin schwierigen Handlungs- und Diskursgelände Israel-Palästina gilt diese Regel in verstärktem Maße.
Allerdings verfügt die organisierte Zivilgesellschaft selbst durchaus über erhebliche Mittel, um im beschriebenen Sinne auch ohne staatliche Förderung tätig werden zu können. Wenn der gesamte Bereich nur einen kleinen Teil seiner frei verfügbaren Rücklagen einsetzen würde, kämen bereits erhebliche Millionenbeträge zusammen. Darüber hinaus ist es einer der zu Recht vielfach hervorgehobenen Vorzüge der organisierten Zivilgesellschaft, dass sie in der Lage ist, unbezahlte Arbeit, Geld- und Sachspenden zu mobilisieren. Zwar müssen gemeinnützige Körperschaften die Regelungen zum „politischen Mandat“ gemeinnütziger Körperschaften beachten, aber diese Regelungen bieten hinreichend Spielraum für die Bearbeitung der oben beschriebenen Handlungsfelder.
Am Geld sollte es also nicht liegen. Handlungsfähig ist sie, die organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland. Sie würde zudem neue Kraft gewinnen, wenn sie nicht weiter Energie in fruchtlose Positionitis und Cancelpolitik verlieren würde.
[1] Dieser Text wurde zuerst in den Newsletters des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (abrufbar unter: https://www.b-b-e.de/fileadmin/Redaktion/05_Newsletter/02_Europa_Newsletter/2024/03/enl_03__Beitrag_Ernst-Poerksen_Michael.pdf) veröffentlicht und wird auch im Forschungsjournal Soziale Bewegungen erscheinen. Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und der Herausgeber.
[2] „Politisch korrekt“ heißt im hier gegebenen Zusammenhang: in der Sprache inklusiv statt ausgrenzend, in der Benennung politischer Sachverhalte aufklärend und von Wahrheitsinteresse geleitet statt manipulativ und auf Desinformation gerichtet.
[3] Jürgen Habermas u.a., „Grundlagen der Solidarität“, November 2023, abrufbar unter https://www.normativeorders.net/2023/grundsatze-der-solidaritat/
[4] Adam Tooze u.a., “The principle of human dignity must apply to all people”, November 2023, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2023/nov/22/the-principle-of-human-dignity-must-apply-to-all-people
[5] Bei Amos Oz heißt es dazu mit Blick auf die Handlungsmöglichkeiten Europas bereits 2002: „So, if you have an ounce of help or sympathy to offer, now is the time to extend it to the two patients. You no longer have to choose between being pro-Israel or pro-Palestine. You have to be pro-peace.” Amos Oz, How to cure a fanatic, London 2012, S.40 und an anderer Stelle: “I wish Europe would learn to see the ambiguity of the Israeli-Arab conflict rather than painted in black and white.” (ebd. S.93); siehe auch Meron Mendel „Über Israel reden“, Köln 2023, S. 78
[6] Hannah Arendt, „Persönliche Verantwortung in der Diktatur“, 1964/1965 in dies. „Israel, Palästina und der Antisemitismus“, Berlin 1991, S.13
[7] Siehe beispielhaft Masha Nessen, „In the shadow of the Holocaust“, 2023, abrufbar unter https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holocaust mit ihrer Gleichsetzung des Gaza-Streifens mit dem Warschauer Ghetto: “For the last seventeen years, Gaza has been a hyperdensely populated, impoverished, walled-in compound where only a small fraction of the population had the right to leave for even a short amount of time—in other words, a ghetto. Not like the Jewish ghetto in Venice or an inner-city ghetto in America but like a Jewish ghetto in an Eastern European country occupied by Nazi Germany.”; siehe auch die verstörende Parole, die gegenwärtig auf Demonstrationen zu hören ist und angeblich Solidarität mit den Menschen in Gaza zum Ausdruck bringen soll: “Zionisten sind Faschisten”; 1969 hieß die Parole noch: “Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot“, zitiert bei Jean Améry, „Der neue Antisemitismus“,1976, in ders. „Der neue Antisemitismus“, Stuttgart 2024, S. 76
[8] Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2022 beantworten die Frage „Inwieweit trifft die folgende Aussage zu?: ‚Vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus hat das heutige Deutschland eine besondere Verantwortung für Israel‘“ nur 27% der Befragten mit „trifft völlig zu / trifft eher zu“ (Bertelsmann-Stiftung, „Deutschland und Israel heute: Zwischen Verbundenheit und Entfremdung“ 2022, S. 32/33; zu Merkels Rede vor der Knesset aus 2008 siehe auch Mendel S. 37ff
[9] Hannah Arendt S. 39ff; siehe auch Kermani in: Navid Kermani und Natan Sznaider: Israel – Eine Korrespondenz, München 2023, S. 32 („Und wenn schon immer von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel die Rede ist – warum dann auch nicht von der besonderen Verantwortung der Deutschen für die Palästinenser?“)
[10] Tom Segev “Es war einmal ein Palästina”, München 2005, S. 43ff
[11] Vgl. Amy Dockser Marcus, „Jerusalem 1913“, London 2008, S. 40ff; siehe auch Richard C. Schneider, “Die Sache mit Israel”, München 2023, S. 180
[12] Siehe Stéphane Hessel in ders. und Elias Sanbar „Israel und Palästina“, Berlin 2012, S. 24f. Stéphane Hessel war ab 1948 UN-Diplomat. In 2012 schreibt er: „Damals dachten wir nicht, dass so etwas wie ein palästinensisches Volk existierte. Für uns gab es nur Araber, und diese Araber verfügten über ein riesiges Gebiet, und die Briten, so dachten wir, würden niemandem Unrecht tun, wenn sie (…) einen Teil des ihrer Vormundschaft anvertrauten Landes diesen unglücklichen Juden überließen.“, a.a.O. S. 21, und weiter: „Erst 1967 haben wir wirklich begriffen, dass es ein palästinensisches Volk gibt, das sich von den anderen arabischen Völkern unterscheidet und das eine Heimat hatte, nämlich Palästina, wo es seit Menschengedenken gelebt hatte und von wo es durch eine gewalttätige moderne Armee vertrieben worden war. Wir begriffen, dass dies 1948 geschehen und dass dies für die Palästinenser eine Katastrophe war, eine Nakba.“ ebd. S. 25
[13] Vgl. Richard C. Schneider, “Die Sache mit Israel”, München 2023, S. 14, S. 135f, S. 188; dagegen Amos Oz in Erläuterung der „Geneva Accords“ aus 2003: „Its central principle is this: we put an end to the occupation, and the Palestinians put an end to their war on Israel. We give up our dream of the Greater Israel, and they give up their dream of a Greater Palestine.” a.a.O. S. 83; siehe auch Muriel Asseburg / Jan Busse, “Der Nahostkonflikt”, 9. Auflage, München 2024, S. 48 und S. 60 ff
[14] Vgl. Amos Oz, a.a.O. S. 36; zum Zusammenhang zwischen verstärkter religiöser Orientierung der israelischen Gesellschaft und der sinkenden Bereitschaft, einer Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen, siehe auch Eva Illouz, “Israel”, Berlin 2015, S. 81
[15] „The Palestinians are in Palestine because Palestine is the homeland and the only homeland of the Palestine people. (…) The Israeli Jews are in Israel because there is no other country in the world which the Jews, as a people, as a nation, could ever call home.” Amos Oz, a.a.O. S. 5, zum Thema “Recht gegen Recht” siehe auch ders., ebd. S. 30; “It is essentially no more than a territorial conflict over the painful question of ‘whose land?’”, ebd. S. 70. Und: “The fanatics on both sides are hard at work trying to turn what I described as a ‘real estate dispute’ into a Holy War.”, ebd. S.89; siehe auch bereits Ben Gurion 1919, zitiert bei Tom Segev, a.a.O., S. 129: „Jeder erkennt das Problem in den Beziehungen zwischen den Juden und den Arabern. Aber nicht jeder erkennt, dass dieses Problem keine Lösung hat. Es gibt keine Lösung! (…) Wir wollen das Land für uns. Die Araber wollen das Land für sich.“ Hierzu passt auch die Bemerkung Hessels über Ralph Bunche, der als amerikanischer UN-Vermittler 1947 die Teilungslinien zu verhandeln hatte: Er „hatte gut verstanden,“ – so Hessel – „dass die Zionisten keine religiösen Fundamentalisten waren und sich deshalb mehr für Küstenregionen interessierten, von denen die industrielle und landwirtschaftliche Erschließung ausgehen konnte“, statt „für die religiösen Juden sehr wichtige(n) Orte, Hebron zum Beispiel oder Jericho“ (a.a.O, S. 52) ; siehe aber auch Jean Améry, „Der ehrbare Antisemitismus“, a.a.O. S.94: „Es steht im Nahostkonflikt Recht gegen Recht. Es steht aber nicht Gefahr gegen Gefahr gleicher Ordnung.“
[16] Jean Améry, „Mein Judentum“, 1969, a.a.O., S. 36
[17] Siehe hierzu Elias Sanbar, a.a.O., S. 119f
[18] Eva Illouz, „Israel“, Berlin 2015, S.8
[19] Siehe Hannah Arendt bereits 1943: „Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?“ in dies., „Israel, Palästina und der Antisemitismus“, Berlin 1991, S. 109ff
[20] Der Text der von der Berliner Kulturverwaltung vorgegebenen, erst nach Protesten und im Wesentlichen aus juristischen Gründen inzwischen zurückgezogenen „Antisemitismus-Klausel“ lautete wie folgt: „Die Zuwendungsempfängerin/der Zuwendungsempfänger ist verpflichtet, sich zu einer vielfältigen Gesellschaft zu bekennen und sich gegen jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung, sowie gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung zu stellen. Diese besagt: ‚Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.‘“
[21] „Ich behaupte nicht, dass nicht manche Kritiken an Israel antisemitisch motiviert sein können. Ich stelle lediglich fest, dass es zu einem ausgefeilten kulturellen und intellektuellen Genre in der jüdischen Welt geworden ist, Kritik unter Verdacht zu stellen.“, Eva Illouz, a.a.O. S.27
Literatur
Améry, Jean: Der neue Antisemitismus (1969-1976), Stuttgart 2024
Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus (1943-1964), Berlin 1991
Asseburg, Muriel / Busse, Jan: Der Nahostkonflikt, München 2024
Boehm, Omri: Israel – Eine Utopie, Berlin 2023
Dockser Marcus, Amy: Jerusalem 1913, London 2008
Herzl, Theodor: Der Judenstaat (1896), Zürich 1988
Habermas, Jürgen u.a., Grundlagen der Solidarität, November 2023, abrufbar unter https://www.normativeorders.net/2023/grundsatze-der-solidaritat/
Hessel, Stéphane / Sanbar, Elias: Israel und Palästina, Berlin 2012
Hestermann, Jenny u.a. (Bertelsmann-Stiftung), Deutschland und Israel heute: Zwischen Verbundenheit und Entfremdung, Gütersloh 2022
Illouz, Eva: Israel, Berlin 2015
Kermani, Navid / Sznaider, Natan: Israel – Eine Korrespondenz, München 2023
Laqueur, Walter / Rubin, Barry (eds.): The Israel-Arab Reader, London 2008
Mendel, Meron: Über Israel reden, Köln 2023
Nessen, Masha: In the shadow of the Holocaust, 2023, abrufbar unter https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holocaust
Oz, Amos: How to Cure a Fanatic, London 2012
Said, Edward W.: The End of the Peace Process (1995-2002), London 2002
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage (1944-1980), Reinbek 2020
Schneider, Richard C.: Die Sache mit Israel, München 2023
Segev, Tom: Es war einmal ein Palästina, München 2005
Tooze, Adam u.a., The principle of human dignity must apply to all people, November 2023, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2023/nov/22/the-principle-of-human-dignity-must-apply-to-all-people
Wolffsohn, Michael: Wem gehört das Heilige Land, München 2023