05.07.2023 I “Raus aus der Pandemie – rein in die Zeitenwende!”
Raus aus der Pandemie – rein in die Zeitenwende! Das steht als Überschrift über dem Jahr 2022, für uns bei Maecenata wie für alle. Nachdem es zu Beginn des Jahres 2022 so schien, als könne Europa allmählich in einen „Normalbetrieb“ zurückkehren, brach am 24. Februar das Ereignis über uns herein, das das politische Gefüge Europas mehr verändert hat als jedes andere seit Jahrzehnten. Rußlands Angriff auf die Ukraine hat auch unser Leben verändert – und unseren Blick auf die Welt um uns herum. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben seitdem leiden müssen wie niemand anderes in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – und haben mehr Mut bewiesen und mehr Gemeinschaftsgefühl entwickelt, als wohl irgendjemand vermutet hätte. Die Entschlossenheit, mit der sie der Agression widerstehen, sich als Europäer profilieren und Europa verteidigen, verdient höchsten Respekt und läßt es dringender denn je erscheinen, sie tatsächlich in Europa willkommen zu heißen.
Was können wir als kleine Denkwerkstatt tun? Das haben wir uns im Februar natürlich gefragt. Unser Transnational Giving Programm war aufgestellt, um Spenden für die Ukraine anzunehmen und kann sie heute an 26 Empfängerorganisationen in neun Ländern und an die WHO und das World Food Program vergeben. Mit der Stiftung Aktive Bürgerschaft konnten wir eine Partnerschaft zur Förderung von Ednannia, einer Support-Organisation für Bürgerstiftungen in Kiew, begründen, die das Ziel verfolgt, die Zivilgesellschaft in der Ukraine weiter zu entwickeln. In dem Wunsch, noch etwas mehr zu tun, haben wir Anfang März 2022 ein Visiting Fellowship für eine junge ukrainische Kollegin ausgeschrieben. Anfang April kam Nataliia Lomonosova aus Kiew, die nach Deutschland geflohen war, zu uns. Während sie bei uns war und danach schrieb sie 6 Blogs zur Lage der Zivilgesellschaft in der Ukraine, die wir über die sozialen Medien verbreiten und im Dezember 2022 nochmal in unserer Reihe Europa Bottom Up auf deutsch und englisch veröffentlichen konnten. Alles in allem gewiß ein kleiner Beitrag, aber doch ein Zeichen der Solidarität – das mindeste, was wir tun konnten!
Von vielen Projekten, Veröffentlichungen, Initiativen und auch wieder der einen oder anderen Veranstaltung im Haus wird auf den nächsten Seiten berichtet. Zwei Beispiele: Zu unserer Freude konnte im Forschungsschwerpunkt Philanthropie ein lang gehegter Wunsch verwirklicht werden. Muslimische Philanthropie in Deutschland: Gibt es das? Kann es das geben? Anknüpfend an frühere Forschungen zum interkulturellen zivilgesellschaftlichen Dialog und zum islamischen Beitrag zur Philanthropie konnte dank der Unterstützung durch Islamic Relief Deutschland eine neue Studie in Angriff genommen werden. Zugleich wurden dadurch Brücken zu unserem Programm Transnational Giving in seiner interkulturellen Dimension und zum MENA Study Centre der Stiftung geschlagen, das seinen Blick zunehmend auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft im Nahen Osten richtet.
Ein weiteres europäisches Forschungsprojekt des Maecenata Instituts, das zum Jahresende 2022 im wesentlichen zum Abschluß kam, sei herausgestellt: Mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch Porticus sind wir über mehrere Jahre der Frage nachgegangen, ob und wie der bürgerschaftliche Raum, der civic space, im Gesamtgefüge der europäischen Gesellschaft positioniert ist. Wird er bedrängt, geduldet, ermutigt, bestärkt? Welche Rahmenbedingungen genießen seine organisierten Akteure, die Zivilgesellschaft? Wie sieht sich diese Zivilgesellschaft selbst? Wie wird sie von außen gesehen? Wird sie als Partnerin wahrgenommen und respektiert, wenn es gilt, unsere Demokratie zu entwickeln und gegen autoritären Populismus resilient zu gestalten? Wie ist ihr Selbstverständnis in dieser Rolle? Und vor allem: Sollte sie ihre Rolle neu definieren?
Wie nicht anders zu erwarten, führten die Analysen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Aber es ist nicht so, daß der civic space nur in den Ländern bedrängt ist, die jedem sofort in den Sinn kommen, wenn diese Frage im Raum steht. Und es drängt sich eine Einschätzung in den Vordergrund, die uns zum Thema Zeitenwende zurückführt: Über mehr als die letzten 30 Jahre hinweg hat die europäische Zivilgesellschaft an Stärke zugenommen, ihr Aktionsfeld erweitert. Ihre Akteure sind vielfach zu Wächtern über die liberale, offene, demokratische Gesellschaft geworden, die die Regierungen und Verwaltungen durch Fehlverhalten, monströse Bürokratie, Kompetenzverfall und ehrpusseliges Machtstreben gefährden. Mit den ihnen anvertrauten Mitteln der hoheitlichen Gewalt versuchen diese, Kräfte zu unterdrücken, die sie als Konkurrenz zu dem System sehen, in dem sie sich eingerichtet haben, anstatt in ihnen Bundesgenossen im Kampf gegen undemokratische Kräfte zu sehen. Und nachdem ihnen in der Verteidigung ihrer Unzulänglichkeiten kaum noch andere Argumente in den Sinn kommen als „mehr Geld“ und „mehr Stellen“, versuchen sie, damit auch die gefügig zu machen, deren kritischer, wacher, kreativer Geist doch gerade wichtig wäre, um die Zeitenwende als Chance zu nutzen. Der Staat ist dysfunktional geworden. Wie sagte es der Mäzen James Simon vor über 100 Jahren? „Wenn der Staat versagt, müssen die Bürger aktiv werden.“
Zur Heilung bedarf es der Zivilgesellschaft, dort allerdings und gerade in den großen philanthropischen Institutionen der permanenten kritischen Selbstreflexion, die auch dort zu wenig stattfindet. Daß wir diese immer wieder eingefordert haben, hat uns nicht viele Freunde beschert. Dennoch werden wir weiter auf diesem Weg vorangehen, weil wir von seiner Wichtigkeit und Richtigkeit überzeugt sind, gerade weil nur so der freie und unabhängige civic space seine Legitimität und gesellschaftliche Bedeutung, ja seine Qualität als Grundbedingung einer funktionierenden freiheitlichen Gesellschaftsordnung nachweisen kann. Daß die Zahl der Regionen und Länder dieser Welt, die sich einer solchen Ordnung verpflichtet fühlen, kontinuierlich abnimmt, sollte uns als Alarmsignal aus unserer träumerischen Selbstbezogenheit und Behäbigkeit aufwecken. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung hieß es im Dezember 2021: „…mit der Zivilgesellschaft…“. Viel ist davon noch nicht zu spüren. Selbstermächtigung bleibt also angesagt.
Freunde und Förderer hatten wir auch im Berichtsjahr: gute Partner in Netzwerken und Koalitionen von Gleichgesinnten und gelegentlich sogar Fördereinrichtungen, die unsere Projektanträge positiv beantwortet haben. Ihnen sind wir dankbar, ebenso den über15.667 Spendern im Transnational Giving Programm, deren kleiner freier Spendenanteil an der kleinen oder großen zweckgebundenen Spende es nicht nur ermöglicht, dieses Programm seit über 20 Jahren auf hohem qualitativen Niveau anzubieten, sondern sogar dazu beiträgt, daß wir unsere Mission unabhängig und frei verfolgen können. Daß sich unsere zahlreichen Online-Publikationen einer stetig wachsenden Leserschaft erfreuen, daß die Einladungen zu Beiträgen, Vorträgen, Anhörungen, Stellungnahmen und dergleichen weiter zunehmen, daß wir gehört werden, auch wenn wir uns hier noch mehr wünschen würden, all das zeigt uns, daß wir im wesentlichen auf der richtigen Spur sind, wenngleich natürlich auch wir gehalten sind, uns permanent kritisch zu hinterfragen.
Unserem engagierten Team mit seinen ehrenamtlichen, hauptamtlichen und studentischen Mitarbeitenden schulden wir ebenfalls Dank! Auch wenn mobiles Arbeiten, Zoom-Calls, hybride Colloquia und andere Ersatzformen der Begegnung inzwischen zur Routine geworden sind (und wir gelernt haben, daß man nicht unbedingt durch Europa reisen muß, um ein Gespräch zu führen und wir sogar Sitzungen des Stiftungsrates online durchführen können) – die lange Zeit der Erschwernisse des normalen Austauschs untereinander war und ist eine Herausforderung, wie groß, merken wir erst nach und nach. Die steigenden Anforderungen an Regelwerke (compliance) und die Beachtung ständig neuer Vorschriften sind eine zusätzliche Belastung. Trotzdem sind wir zuversichtlich, auf unserem Weg voranschreiten zu können – auch nach einem Generationswechsel, für den die Planung im Berichtsjahr begonnen hat.
München/ Berlin, im Juli 2023