Was hat die neue Bundesregierung mit der Zivilgesellschaft vor?

Observatorium 58 | 13.12.2021 | Kommentar von Rupert Graf Strachwitz zum Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP.

Im August 2021 hatten wir in einem Beitrag für das Dossier des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement zur Bundestagswahl herausgestellt: „Die Verantwortlichkeit muß nicht zuletzt angesichts der immensen Summen, die [dem Staat] zur Verfügung stehen, für ihn handlungsleitend sein. Dies erfordert nicht zuletzt der gebotene Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern.“[1]  Insofern können wir sehr glücklich sein, daß die neue Bundesregierung „ihr ehrgeizigstes und wichtigstes Ziel am Beginn des Koalitionsvertrages aufgeschrieben [hat]: ‚Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern…‘“[2] Allerdings: „[Die neue Bundesregierung] wird sich an dieser Vorgabe … messen lassen müssen.“[3]  Wir können nur hoffen, daß dieses mehrfach genannte Ziel, flankiert durch mehrere Hinweise auf „die Würde des Einzelnen“ mit allem Ernst und aller Konsequenz verfolgt wird. Denn gerade die letzten Jahre haben gezeigt, daß es allzuoft an diesem Respekt der Regierenden vor den Bürgerinnen und Bürgern mangelt. Damit ist nicht der Umgang mit abstrusen Ideen zur Pandemie und deren Bekämpfung gemeint, wo in der Tat konsequentes sachorientiertes Regieren das Gebot der Stunde ist,  sondern ein respektvoller Umgang in einem viel breiteren Sinn. Dazu hat sich die neue Bundesregierung viel vorgenommen. Das Eintreten für Menschenrechte kommt mehrfach vor, etwas seltener auch für Bürgerrechte. Auch von Partizipation und Beteiligung ist mehrfach die Rede. Das liest sich gut!

Eine Krise wie die gegenwärtige kann, so muß immer wieder betont werden, nicht wegverwaltet werden, sondern bedarf zwingend partizipativ konzipierter und umgesetzter Anstrengungen. Auch diese haben mit Respekt zu tun. Ohne Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern gibt es keinen funktionierenden bürgerschaftlichen Raum. Der Vertrag bietet Anhaltspunkte dafür, daß dies erkannt worden ist. Wir werden aufmerksam zu beobachten haben, ob diese Grundsätze tatsächlich das Handeln der Regierung und ihrer Verwaltung bestimmen.

Diese Würdigung des Vertrags, aber auch die Besorgnis, kommen in mehreren Stellungnahmen zum Ausdruck, die schon vorgelegt worden sind. Diese gehen im übrigen naturgemäß auf die Abschnitte ein, die das Tätigkeitsfeld der Autoren unmittelbar betreffen. So hebt VENRO beispielsweise hervor: „Besonders wichtig ist, dass auch das Engagement für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit der Zivilgesellschaft im Inland gestärkt werden soll. Dies ist ein längst überfälliger Schritt, der die wichtige Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen anerkennt.“[4]  Gerade diese Aussage läßt sich durchaus verallgemeinern. Im Koalitionsvertrag zur Bildung einer Bundesregierung zwischen CDU/CSU und SPD vom 7. Februar 2018 kam das Wort Zivilgesellschaft (oder zivilgesellschaftlich) 7-mal vor, im jetzt abgeschlossenen Koalitionsvertrag steht es 18-mal. Auch von bürgerschaftlichem Engagement ist mehrfach die Rede; weitere für die Zivilgesellschaft zentrale Begriffe finden sich an relativ vielen Stellen. Insofern ist hervorzuheben, daß die neue Bundesregierung im Grundsatz zu erkennen gegeben hat, die langjährige Zivilgesellschaftspolitik des Bundes auf eine neue Basis stellen zu wollen. Eine kleine Lernerfahrung wird sie dabei gewiß rasch machen können: Anders als im Vertrag ausgeführt, werden üblicherweise weder Journalisten noch Wissenschaftlerinnen pauschal der Zivilgesellschaft zugerechnet. Aber es ist schon dadurch viel gewonnen, daß ‚Zivilgesellschaft‘ durchgehend als Arbeitsbegriff Verwendung findet.

Im folgenden soll es vor allem darum gehen, den Vertrag darauf abzuklopfen, wo und mit welcher Tendenz diese neue Zivilgesellschaftspolitik erkennbar wird. Bei näherem Hinsehen werden nämlich Schwachstellen erkennbar, wobei diese zum Teil gewiß dem Prozeß geschuldet sind, der dem Abschluß von Koalitionsverträgen vorausgeht. Diese sind keine Lehrbeispiele für Systematik und Ausgewogenheit, sondern enthalten das, was viele Zuträger mit mehr oder weniger Geschick eingebracht haben und was alle Korrektur- und Beschlußschleifen auf oft wundersame Weise überlebt hat. Sie sind zudem stets reich bestückt mit plakativen, wohlfeilen Ankündigungen. Daß beispielsweise das Zuwendungsrecht entbürokratisiert werden soll, steht schon seit Jahrzehnten in jedem Regierungsprogramm, ohne daß dies auch nur die geringsten positiven Folgen gezeitigt hätte – im Gegenteil!

Es verwundert daher nicht, daß zu manchen Plänen erfreulicherweise  die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entscheidungsvorbereitung ausdrücklich angekündigt wird, so etwa beim Demokratiefördergesetz und in Teilen in der Entwicklungszusammenarbeit, aber bei anderen Maßnahmen, die in erheblichem Umfang die Zivilgesellschaft tangieren und zu denen diese auch viel Kompetenz beitragen kann, vollständig fehlt. So wäre bei den geplanten Reformen im Gesundheitswesen der Rat der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die rd. 1/3 aller Krankenhausbetten in Deutschland tragen und ganz überwiegend den Rettungsdienst und Krankentransport verantworten, gewiß weiterführend. Ähnlich sieht es beim Katastrophen- und Bevölkerungsschutz aus, zu dem vor der Reform ein Dialog mit den Ländern und Kommunen, nicht aber mit den erheblich beteiligten Fachorganisationen der Zivilgesellschaft stattfinden soll; das gilt ebenso für die Kindertagesstätten oder beim Vorantreiben der Digitalisierung.

Noch schimmert an vielen Stellen ein Verständnis durch, das die Zivilgesellschaft wie ehedem nur in der Rolle von Antragstellern und Objekten von Regulierung, Subventionierung und Kontrolle durch den Staat, nicht aber als Partner in einem politischen Dialog sieht. Da muß sich gewiß das Mind Set noch ändern. Den Ideen für ein Ehrenamtskonzept merkt man dies beispielsweise an, ebenso der Absicht, Ökonomie und Ökologie miteinander zu verschränken, wenn die wichtigen flankierenden Veränderungen des gesellschaftlichen Gefüges außer acht gelassen werden. Dagegen kann eine Bundesregierung allenfalls eine Engagementstrategie des Bundes entwickeln. Für ihre eigene ist die Zivilgesellschaft schon selbst verantwortlich. Eingriffe in ihren ureigenen Verantwortungsbereich sollte sie sich bei aller Begeisterung für den angekündigten Aufbruch verbitten. Wenn es dagegen um ein Konzept für die Einbindung von Freiwilligen in die zivile Verteidigung gehen soll, muß sie zwingend die (in der Tat vorgesehene) Mitsprache schon in der Vorbereitungsphase einfordern.

Noch erscheint Zivilgesellschaft in dem Text über weite Strecken als (modisches) Etikett, dessen Umsetzung in Grundsätze politischen Handelns noch aussteht. Noch unterscheiden sich manche Formulierungen nicht sonderlich von denen im Koalitionsvertrag von 2018, aus denen bekanntlich keine grundlegenden Schlüsse gezogen wurden. Der Paradigmenwechsel ist also angekündigt, aber nicht vollzogen. Immerhin spricht aber der neue Vertrag zu Beginn vom lernenden und ermöglichenden Staat und mehrfach von Einbindung, Partizipation und Beteiligung. Daraus eine kohärente und handlungsleitende Strategie zu machen, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein. Zu dieser wird auch gehören, daß das Demokratiefördergesetz, ein zentrales Vorhaben der neuen Bundesregierung, nicht nur zur Abwehr demokratiefeindlicher Strömungen (durch Beratung, Prävention und Ausstiegshilfe), sondern für eine konstruktive Weiterentwicklung und Reform der gegenwärtigen Demokratie konzipiert wird. Auch die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts sollte mehr enthalten als die Aufnahme von zusätzlichen Zielen in die lange Liste in der Abgabenordnung, die Ermöglichung von politischer Betätigung und eine bessere Regelung für Sachspenden. Angesagt ist die Beförderung des steuerrechtlichen Rahmens der Zivilgesellschaft aus dem frühen 20. in das 21. Jahrhundert, das sich hinsichtlich des Gesellschaftsmodells und der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger offenkundig beträchtlich von dem damaligen unterscheidet. Dafür gibt es bekanntlich schon viel Vorarbeit in der Zivilgesellschaft selbst, aber auch im Bundesfinanzministerium.

Daß Menschen- und Bürgerrechte so oft genannt werden, verwundert kaum und ist sehr zu begrüßen. Die Erwähnung von Bürgerwissenschaften stimmt erwartungsvoll, während die totale Vernachlässigung der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung bei den großen Forschungsförderplänen bedenklich stimmt – zumal Zivilgesellschaft massiv unterforscht ist. Dies liegt allerdings auch an der nach wie vor defizitären Transparenz der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese nachhaltig zu verbessern, ist ein wichtiges Ziel der neuen Regierung. Allerdings muß der Wildwuchs von Registern einer einheitlichen und öffentlich zugänglichen Registrierung weichen. Aufmerken läßt, daß die aus der Zivilgesellschaft  vorgebrachte Idee, die 1989 abgeschaffte Wohnungsgemeinnützigkeit wieder zu beleben, Eingang in den Vertrag gefunden hat, während andererseits zum ersten Mal seit langem die Stiftungen kaum einer gesonderten Erwähnung wert sind.

Sehr zu begrüßen ist schließlich das uneingeschränkte Bekenntnis zu einer europäischen Zivilgesellschaft. Daß grenzüberschreitendes Spenden innerhalb der EU erleichtert werden soll, ist eine alte, durch die Judikative angemahnte Forderung, die auch nicht zum ersten Mal in einem Regierungsprogramm auftaucht. Bisher hat aber Deutschland stets zu den Blockierern gehört, wenn konkret etwas europäisiert werden sollte. Man muß also abwarten, ob sich dies nun ändert. Wenn das Europäische Parlament demnächst eine Resolution zum europäischen Vereinswesen verabschiedet, wird man sehen, wie sich Deutschland im Rat dazu positioniert. Und aus dem Bekenntnis zu Bürgerrechten in Europa sollte ein deutsches Engagement für die Beseitigung der Defizite der zivilgesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten an der Konferenz zur Zukunft Europas folgen[5]

Es könnte, so läßt sich die gewiß nicht vollständige Aufzählung von Programmpunkten zusammenfassen, in den kommenden vier Jahren einiges geschehen. Ob es aber tatsächlich geschieht, wird nicht nur davon abhängen, daß die Zivilgesellschaft jetzt konsequent fortsetzt, was sie im Vorfeld der Bundestagswahl mehr geleistet hat als je zuvor: Ideen und Vorschläge einzubringen, Forderungen zu erheben und Mitarbeit anzubieten. Abhängen wird es auch von den handelnden Personen in Regierung und Parlament. Noch läßt sich schwer einschätzen, wer sich dieser Themen annehmen wird. Weder der Bundeskanzler noch die Bundesministerinnen und -minister sind bisher für eine besondere Affinität zu Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement und deren politischer Rolle bekannt geworden. Die einzigen parlamentarischen Staatsekretärinnen und -sekretäre, die genau wissen, um was es hier geht, sind ins Wirtschaftsministerium berufen worden, ein Haus, das besonders wenig mit der Thematik zu tun hat. Die am ehesten „zuständige“ Familienministerin ist als Expertin für Genderfragen und Kinder ausgewiesen, nicht aber für bürgerschaftliches Engagement. Auch der neue Finanzminister und die neue Innenministerin haben sich dafür noch nie interessiert. Das muß nicht heißen, daß auf die schönen Worte keine Taten folgen werden. Auch bei den bisher üblichen Trostpflastern zum Ende der Legislaturperiode muß es nicht bleiben. Noch ist die Berufung von Staatssekretärinnen und anderen politischen Beamten nicht abgeschlosssen; vielleicht wird unter ihnen jemand sein, der sich der Zivilgesellschaft ressortübergreifend annimmt. Einen eigenen Beauftragten wird es aber nicht geben, einen Ausschuß im Bundestag auch nicht. Es wird bestenfalls bei einem Unterausschuß bleiben.

Dennoch: Der Staat nimmt nach dem Willen der neuen Bundesregierung den bürgerschaftlichen Raum ernsthaft in den Blick; er bekennt sich mit einer eindeutigen Formulierung zu einer Koalition aller Demokraten im Kampf gegen die Gegner von Demokratie und Herrschaft des Rechts: „Wir fördern die vielfältige, tolerante und demokratische Zivilgesellschaft“[6]. „Die Ampel-Parteien wagen beim Recht der Gemeinnützigkeit mehr Fortschritt als vorige Koalitionen. Der Koalitionsvertrag enthält  konkrete und für zivilgesellschaftliches Engagement hilfreiche Vorhaben.

Das ist ein großer Schritt für eine moderne Demokratie.“[7]  Wie ernst dies gemeint ist, wird sich zeigen müssen.

[1] Maecenata Stiftung: Zentrale Anliegen für die Arbeit des 20. Deutschen Bundestages ; in: Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (Hrsg.): Zivilgesellschaft und Bundestagswahl 2021. Berlin 2021 (dossier nr. 9), S. 170.

[2] Alexander Kissler in Neue Zürcher Zeitung, 10. Dezember 2021.

[3] ebd.

[4] VENRO: Sind Fortschritte für eine Global gerechte und nachhaltige Politik erkennbar? Eine Bewertung des Koalitionsvertrags 2021 bis 2025. Dezember 2021.

[5] Eleonora Vasques: Civil society fear lack of inclusion …; Euractiv, 7. XII. 2021 (https://www.euractiv.com/section/future-eu/news/civil-society-fear-lack-of-inclusion-and-member-states-inaction-in-cofoe/ ).

[6] Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/die Grünen und FDP v. 24. November 2021.

[7] Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung: Pressemitteilung vom 7. Dezember 2021.

Rupert Strachwitz

Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz

Vorstandsmitglied der Maecenata Stiftung
rs@maecenata.eu

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