Bürgerschaftliches Engagement in Europa

Europe Bottom Up-Nr. 25 | 06.11. 2020 I Christian Moos I Der Text zu europäischem bürgerschaftlichem Engagement beruht auf einem Vortrag, den der Autor auf der Jahresversammlung der Initiative Kulturelle Integration am 15. September 2020 in Berlin gehalten hat. 

Vielen Dank für die Einladung, über bürgerschaftliches Engagement in Europa zu sprechen und dabei auch die von mir als Generalsekretär vertretene überparteiliche Europa-Union Deutschland vorzustellen.

Zunächst möchte ich mit Blick auf das bürgerschaftliche Engagement in Europa vier möglicherweise provokante Thesen aufstellen:

  1. Bürgerschaftliches Engagement ist kein Wert an sich.
  2. Kultur und Zivilisation sind tatsächlich nicht ein und dasselbe.
  3. Spontane Bewegungen neigen zum Antiparlamentarismus.
  4. Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements ist niemals neutral.

Ich möchte diese bewusst zugespitzten Thesen kurz entwickeln, meine Gedanken dazu skizzieren, ehe ich auf die Europa-Union zu sprechen komme. Zunächst: Bürgerschaftliches Engagement ist also in meinen Augen kein Wert an sich. Ich meine damit nicht den geschützten Konsensraum, in dem wir uns hier in Deutschland trotz AfD, Pegida und Querdenkern noch bewegen. Selbstverständlich ist bürgerschaftliches Engagement, wie die Initiative kulturelle Vielfalt sie versteht und in ihren Thesen „Für Zusammenhalt in Vielfalt“ formuliert hat, uneingeschränkt positiv, eine hervorragende Leitlinie. Ich nehme hier ganz ausdrücklich eine Perspektive ein, die alarmierende Negativtrends in Europa thematisiert. Es geht mir darum, dass bürgerschaftliches Engagement sehr unterschiedlich verstanden wird in Europa. Bürger können sich für alles Mögliche engagieren, unter anderem für den Widerstand gegen unheimliche Mächte, die sie im Wirken etwa von Bill Gates oder, mit stark antisemitischer Komponente, von George Soros zu erkennen glauben. Sie können sich leidenschaftlich einsetzen für LGBT freie Zonen; sie können sich in Bürgerwehren organisieren, staatliche und nichtstaatliche Stellen engagiert bei der Verfolgung von Andersdenkenden und Minderheiten unterstützen. Deshalb ist auch bürgerschaftliches Engagement nicht gleich bürgerschaftliches Engagement. Wir haben im heutigen Europa kein einheitliches, unbestrittenes Verständnis mehr davon, was bürgerschaftliches Engagement auszeichnet. Wir teilen in diesem Europa nicht mehr überall dieselben Werte beziehungsweise haben teils divergierende, wenn nicht diametral entgegengesetzte Auslegungen derselben. Das ist mitunter darauf zurückzuführen, dass Kultur mancherorts wieder als der Zivilisation überlegen gedeutet und weltanschaulich überhöht wird. Zivilisation, das sind insbesondere Institutionen, die einen Ordnungsrahmen setzen, innerhalb dessen sich das Individuum frei entfalten und Vielfalt gelebt werden kann. Kultur, wie sie heute in einigen EU-Staaten gelebt wird, ist demgegenüber sehr viel mehr auf kollektive Identität ausgerichtet und setzt Homogenität voraus, weswegen eine sich durch Vielfalt auszeichnende Gesellschaft ja auch als multikulturell bezeichnet wird und wohl ganz sicher Zivilisation zur Voraussetzung hat. Im Ersten Weltkrieg waren die Begriffe Kultur und Zivilisation Gegenstand eines ideellen Gegensatzes. Die deutsche Kultur galt hierzulande als tief und die Zivilisation der Westmächte als oberflächlich; umgekehrt erschien die deutsche Kultur den Kriegsgegnern im Westen als atavistisch, „civilization“ war Ihnen synonym für Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit. Nach 1945 haben wir uns in Westdeutschland stark an das westliche Zivilisationsverständnis angelehnt, es uns vielleicht auch weitgehend zu eigen gemacht.