Observatorium 44 | 15.07.2020 | Nach einem Jahr Präsidentschaft von Kassym-Jomart Tokayev in Kasachstan blickt Autor Urs Unkauf auf das Erreichte zurück. Dabei geht er besonders auf die Reformen ein, welche die Zivilgesellschaft betreffen. Die Reformpolitik des neuen Präsidenten wirkt sich positiv auf die Entwicklung des zentralasiatischen Landes aus und bietet dem Land und seiner Bevölkerung neue Chancen.
Das erste Jahr nach der Amtsübernahme von politischen Führungspersönlichkeiten bietet traditionell den Anlass, auf das bisher Erreichte zurückzublicken, eine erste Bewertung des Geleisteten vorzunehmen und die weiteren für die Amtszeit geplanten Vorhaben in den Blick zu nehmen. Mit dem Rücktritt von Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew am 19. März 2019 ging eine Ära in der größten der fünf Republiken Zentralasiens zu Ende. Nasarbajew, der die Geschicke des erdölreichen Landes am Kaspischen Meer und im Herzen Eurasiens seit dessen Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 prägte, hat sich den Verdienst erworben, die innere Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung Kasachstans über viele Jahre gesichert zu haben. Nicht zuletzt dieser Politik ist es zu verdanken, dass die in anderen Ländern der Region erstarkenden Bewegungen islamischer Fundamentalisten bis heute keinen gesellschaftlichen Nährboden in Kasachstan finden. Eine kritische Betrachtung erfordern hingegen die bisherigen Anstrengungen in der Korruptionsbekämpfung sowie die Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliches Engagement im Land. Mit Blick auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wird Kasachstan von Organisationen wie der Europäischen Union (EU) oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) regelmäßig kritisiert.
Tatsächlich besteht in gesellschaftlicher Hinsicht ein erheblicher Reformstau, der in wesentlichen Teilen bis zu den Altlasten des zerfallenden Sowjetimperiums zurückreicht. Bereits einen Tag nach dem Rücktritt des Ersten Präsidenten übernahm der bisherige Senatspräsident Kassym-Jomart Tokayev die Amtsführung als Interimspräsident. In den Präsidentschaftswahlen vom 9. Juni 2019 wurde er mit 71 % der Stimmen im Amt des kasachischen Präsidenten bestätigt. In der Gesellschaft Kasachstans drückt sich zunehmend der Wunsch nach einer Modernisierung tradierter Strukturen und nach neuen Wegen der politischen Kommunikation zwischen Regierung und Bevölkerung aus – auch in Form von Protesten und Demonstrationen. Es sind insbesondere die jungen, aufstrebenden und gebildeten Kasachen, die sich hier Veränderungen wünschen.[1]
Die Frage nach dem Umgang mit diesen Prozessen ist nicht nur eine innenpolitische Angelegenheit Kasachstans, sondern ebenfalls für die Stabilität Zentralasiens insgesamt von Bedeutung.
Diese Analyse gibt einen kompakten Überblick auf das erste Amtsjahr von Kassym-Jomart Tokayev als Präsident des neuntgrößten Flächenstaates der Erde. Im Fokus steht hierbei die zivilgesellschaftliche Entwicklung Kasachstans, wobei der Begriff ‚Zivilgesellschaft‘ im hier verwendeten Sinne zunächst alle nichtstaatlichen Akteure bezeichnet. Die somit erfassten Organisationen und Personen bilden keinesfalls eine homogene Gruppe, die in prinzipieller Opposition zu staatlichen Akteuren verortet werden sollte. Umwelt- und Frauengruppen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, religiöse Vereinigungen und Vereine der Traditionspflege – dies sind nur einige Beispiele für die vielfältigen Erscheinungsformen, in denen sich zivilgesellschaftliches Leben und Engagement konkret manifestiert. Wichtig für ein realistisches Bild der Lage ist zudem das Verständnis von der Rolle des starken Staates in Kasachstan. Der Blick auf die Frage, inwiefern sich die Bedingungen für ein zivilgesellschaftliches Engagement in Kasachstan im Laufe des letzten Jahres verbessert haben, ist zugleich verbunden mit einer kritischen Einordnung der politischen Entwicklungen in diesem Bereich. Die Aktivierung der kasachischen Zivilgesellschaft in der Rolle einer konstruktiv mitgestaltenden Kraft ist ein offiziell verkündetes Ziel der Reformpolitik von Präsident Tokayev.
Demonstrations- und Versammlungsrecht: Katalysator zivilgesellschaftlichen Engagements
Das Ausmaß an Versammlungsfreiheit eines Landes ist ein zentrales Indiz dafür, in welchem Rahmen freie Meinungsäußerungen und bürgerschaftliches Engagement eine Gesellschaft prägen und mitgestalten. Die Gesetzesreform mit dem Titel „Über das Verfahren zur Organisation und Durchführung friedlicher Versammlungen in der Republik Kasachstan“ bietet ein aktuelles Beispiel, anhand dessen die Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der politischen Zielsetzung einer Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas nachvollzogen werden können.
Im Wesentlichen wird mit diesem Gesetz das Demonstrations- und Versammlungsrecht konzeptionell neu gestaltet. Die bisherige Gesetzesgrundlage von 1995 wird den Erfordernissen einer modernen, von Bürgern mitbestimmten Gesellschaftsordnung nicht gerecht. Wo bisher eine behördliche Genehmigung von Versammlungen erforderlich war, genügt nun eine Ankündigung der Zusammenkunft. Dies entspricht den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Als Bedingungen für diese Versammlungen wird festgelegt, dass sie legal, freiwillig und nicht gewalttätig erfolgen müssen. Auch für Veranstaltungen, die über den Charakter einer Demonstration hinausgehen, wurde das Anmeldeverfahren von 15 auf fünf Tage verkürzt, ebenso werden hierfür über die Regionalparlamente öffentliche Räume zur Verfügung gestellt. Auch dürfen Kundgebungen und Streiks mit Ausnahme militärischer Einrichtungen und der Präsidialresidenzen vor staatlichen Institutionen durchgeführt werden.
Die unklaren Kriterien für die Verbote friedlicher Versammlungen seitens der kasachischen Exekutivorgane wurden international häufig kritisiert. Das neue Gesetz beinhaltet einen Apparat an Definitionen für verschiedene Fälle, womit eine Übersicht sowie eine Grundlage zur Überprüfbarkeit des exekutiven Handelns auf den Weg gebracht wurde. Die Regulierung der Entscheidungen und die Begründungspflicht staatlicher Organe stellt eine wichtige Neuerung des Gesetzestextes dar, worauf sich die Bürger in der Zukunft berufen können. Ebenso kann infolge der Reform im Gegensatz zum bisher geltenden Gesetz bei Nichtzulassung einer Versammlung nunmehr Berufung gegen die Entscheidung einer staatlichen Stelle eingelegt werden, soweit sie den oben genannten Bedingungen nicht widerspricht.
Neben dieser umfassenden Reform der Versammlungsfreiheit wurde auch das Parteienrecht geändert. Zukünftig müssen Parteien bei ihren Wahllisten eine verpflichtende Quote von 30 % für Frauen und Personen unter 29 Jahren erfüllen. Bisher sind 22 % der Abgeordneten der Majlis (kasachisches Unterhaus) weiblich, im Senat hingegen nur 6 %. Während auf nationaler Ebene keine Abgeordneten unter 29 Jahre alt sind, erfüllen dieses Kriterium in den Lokalparlamenten insgesamt 53 Abgeordnete. Auch die zur Registrierung einer politischen Partei notwendige Anzahl an Unterschriften wurde von 40.000 auf 20.000 reduziert. Die Quotierung der Parteilisten und die Verringerungen der Hürde zur Neugründung einer Partei verfolgen somit im Hinblick auf die 2021 bevorstehenden Parlamentswahlen das Ziel, die Repräsentativität der Legislative deutlich zu steigern.
Natürlich wird erst die praktische Anwendung zeigen, inwiefern die neuen Bestimmungen auch tatsächlich umgesetzt werden. Die Regierung Kasachstans betont, dass das „nicht die letzte Stufe der Demokratisierung der kasachischen Gesellschaft“[2] sei, was die Hoffnung auf weitergehende Reformen im Hinblick auf die Umsetzung der Menschen- und Bürgerrechte weckt. Bei der Regierung Kasachstans scheint ein Verständnisprozess dafür eingesetzt zu haben, welche positiven Effekte infolge von Meinungspluralität für die gesellschaftliche Entwicklung entstehen können. Damit verbunden bleibt vonseiten der Zivilgesellschaft wiederum die Erwartung, diesen Reformprozess zur Schaffung eines liberalen gesellschaftlichen Konsens zwischen Staat und Bürgern weiter fortzuführen.
Fazit: Reformpolitik mit Potentialen
Unter den Rahmenbedingungen der globalen Corona-Pandemie erscheint es durchaus verständlich, dass viele Reformprozesse länger als ursprünglich geplant benötigen werden, um die gewünschten Wirkungen zu erzielen. Kasachstan hat die Krise bisher effizient bewältigt und trotz tiefgreifender Einschränkungen an den wesentlichen Elementen der Reformpolitik, die Kassym-Jomart Tokayev in seinen Reden an die Nation und an das Parlament adressiert hat, festgehalten.[3]
Nach der Einschätzung renommierter europäischer Zentralasienexperten befindet sich Kasachstan mit der Reformpolitik von Präsident Tokayev in verschiedenen Politikbereichen auf einem guten Weg, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden.[4] Der Präsident und die Regierung bleiben weiterhin gefordert, den Erklärungen nun Maßnahmen und Gesetzesreformen folgen zu lassen. Damit wird nicht nur das Vertrauen bei der eigenen Bevölkerung und damit letztendlich die Legitimität des Regierungshandelns gesteigert. Kasachstan hat aktuell die Chance, der Welt zu beweisen, dass es zeitgemäße Entscheidungen für die innenpolitische Entwicklung treffen und praktisch umsetzen kann. Dafür müssen auch internationale Akteure sowie insbesondere die Zivilgesellschaft in Kasachstan weiterhin politischen Druck ausüben, ihre Anliegen formulieren und diesen Prozess aufmerksam und kritisch begleiten.
[1] Novastan.org: Toqaevs erstes, schweres Jahr,https://www.novastan.org/de/kasachstan/toqaevs-erstes-schweres-jahr/, Beitrag von Wjatcheslaw Abramow (Aus dem Russischen übersetzt von Marc Friedli), 14. Juni 2020 (Zugriff am 28. Juni 2020).
[2] Erläuterungen zum Gesetzentwurf „Über das Verfahren zur Organisation und Durchführung friedlicher Versammlungen in der Republik Kasachstan“, Botschaft der Republik Kasachstan in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2020, S. 7.
[3] Unkauf, Urs: Kasachstans Ausblick auf die Zeit nach der Krise, Ostexperte.de, https://ostexperte.de/kasachstans-ausblick-auf-die-zeit-nach-der-krise/, 05. Mai 2020 (Zugriff am 28. Juni 2020).
[4] The Astana Times: Focus on Kazakhstan: Top EU Experts and Pundits Enthusiastic About Tokayev’s First Year in Office, https://astanatimes.com/2020/06/focus-on-kazakhstan-top-eu-experts-and-pundits-enthusiastic-about-tokayevs-first-year-in-office/, Kommentare von Günter Knabe, Alexander Rahr, Birgit Wetzel, Dusan Podgorski, Elena Vrabelova, Antonio Alonso Marcos, Jose Luis Orella, Tiberio Graziana, Gal Andras, Levente Sitkei, Svante Cornell, 18. Juni 2020 (Zugriff am 28. Juni 2020).