Beiträge der Zivilgesellschaft zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Österreich. Herausforderungen, Leistungen und Learnings

Observatorium 9 | 01.05.2016 | Die Autorinnen zeigen in diesem Beitrag auf, unter welchen Herausderungen die österreichische Zivilgesellschaft in der Flüchtlingskrise stand, wie sie sich unter einander organisierten und welche Handlungspotenziale noch bestehen. 

„Im Moment habe ich das Gefühl, ganz Österreich ist Zivilgesellschaft. Der Staat hat sich ganz zurückgezogen, überzeichnet gesagt. […] Gäbe es die Zivilgesellschaft nicht, wäre das gesamte Asylsystem mittlerweile zusammengebrochen.“ (NPOFührungskraft, Nov.15)

Das Thema Immigration hat den öffentlichen Diskurs in Österreich seit Sommer 2015 stark geprägt und zu einer Spaltung der Bevölkerung geführt, wie v.a. die Wahlen des Bundespräsidenten im Mai 2016 drastisch zeigten.

Im Jahr 2015 wurde an der Wirtschaftsuniversität Wien eine erste Erfassung des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Flüchtlingskrise durchgeführt (Simsa et al., 2016)1. Im Auftrag sozialer Organisationen2 ging es um folgende Fragestellungen:

  1. Was hat die Zivilgesellschaft seit dem Sommer 2015 zur Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise geleistet und wie wurde dies erreicht?
  2. Wie wurde die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Akteure von syrischen Flüchtlingen wahrgenommen und wie schätzen diese die Effektivität der Leistungen ein?
  3. Was kann daraus für die Bewältigung weiterer Herausforderungen der Immigration und Integration gelernt werden?

Dazu wurde zwischen Oktober und Dezember 2015 eine qualitative Erhebung durchgeführt. Neben 57 problemzentrierten Interviews wurden auch Erfahrungen aus teilnehmenden Beobachtungen herangezogen. Die Zusammensetzung des Samples soll die Vielfalt der involvierten zivilgesellschaftlichen Akteuren abbilden (Vertreterinnen und Vertreter von Einsatz- und Hilfsorganisationen sowie von neugegründeten Initiativen, nichtorganisierte Freiwillige, involvierte Instanzen des Bundes und der Gemeinde Wien sowie syrische Flüchtlinge). Im Folgenden sollen einige Ergebnisse vorgestellt werden.

Hintergrund

Herausforderungen der Immigration und der Integration sind nicht nur ein aktuelles Thema, sondern deren Bewältigung wird auch in Zukunft eine Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand sein. Die im Jahr 2015 virulent gewordene Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft dabei eine wichtige Rolle spielt. Österreich war ein wichtiges Transitland – allein zwischen 5. September und Mitte Dezember durchquerten mehr als 600.000 Flüchtlinge Österreich. Laut Asylstatistik des Innenministeriums wurden im gesamten Jahr 2015 88.912 Asylanträge in Österreich registriert3 . Insgesamt war der Andrang von Flüchtenden im vorhandenen Ausmaß nicht vorhergesehen bzw. waren nicht ausreichend Vorbereitungen getroffen worden. Öffentliche Institutionen waren stark gefordert bis überfordert.

In dieser Zeit gab es zwei gegenläufige Entwicklungen. Zum einen nahmen rechtspopulistische bis -extreme Haltungen und Ressentiments gegenüber den Fremden deutlich zu und schlugen sich auch in Wahlen nieder. Zum anderen kam es zu einer Welle von zivilgesellschaftlichem Engagement in breiten Teilen der österreichischen Bevölkerung. Die österreichische Zivilgesellschaft hat hohe Beiträge zur Bewältigung der Anforderungen der Flüchtlingskrise geleistet, sei es in der Erstversorgung, in der Organisation von Unterkünften, in weiterführenden Integrationsmaßnahmen und in der Unterstützung und Koordination freiwilliger Helferinnen und Helfer. Das zivilgesellschaftliche Engagement fand dabei neben des verstärkten Einsatzes traditioneller Sozial- und Hilfsorganisationen auch im Rahmen neugegründeter Initiativen und basisorientierter Selbstorganisation statt.

Mit ihren Leistungen hat die Zivilgesellschaft in Österreich im Herbst und Winter 2015 dazu beigetragen, eine massive humanitäre Katastrophe zu verhindern, dies allerdings unter hohen Belastungen der beteiligten Organisationen und Personen. Es ist davon auszugehen, dass Integration ohne weitere Beiträge der Zivilgesellschaft und der zivilgesellschaftlichen Organisationen auch in Zukunft nicht möglich sein wird, und es stellt sich die Frage, wie deren Wirkungen möglichst auf Dauer gestellt und effektiv gestaltet werden können.

Rahmenbedingungen und Leistungen

Eine große Herausforderung für die Organisationen waren Informationsdefizite und sich laufend ändernde Rahmenbedingungen. Auch die gesellschaftliche Polarisierung, Rechtsunsicherheiten bzw. die Nichteinhaltung von Gesetzen durch politische Instanzen und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme waren belastend. Zum Teil hat die Zivilgesellschaft Verantwortlichkeiten des Staates übernommen. Wo im Auftrag der öffentlichen Hand gearbeitet wurde, gab es häufig mangelnde finanzielle Planungssicherheit und späte Zahlungen für geleistete Arbeit.

Das Spektrum der angebotenen Leistungen war extrem breit. Es ist zu unterscheiden zwischen Tätigkeiten der unmittelbaren Erst- und Notversorgung, die besonders im Herbst und Winter 2015 im Fokus standen, sowie Tätigkeiten in Zusammenhang mit der Integration der im Land verbleibenden Asylwerberinnen und Asylwerber bzw. Asylberechtigten. Diese weiterführenden Tätigkeiten umfassen die Organisation von Wohnraum, Weiterbildungen oder Freizeitgestaltung, Kinderbetreuung, Übersetzungsarbeit, Rechtsberatung, Unterstützung bei Behördenwegen, gesundheitliche Versorgung und vieles mehr. Die Zivilgesellschaft war und ist in beiden Aufgabenfeldern aktiv.

Es gab große Unterschiede in der Struktur und Kultur der beteiligten Organisationen. Die eher hierarchisch organisierten Einsatzorganisationen konnten schnelle Entscheidungen treffen, rasch mit ähnlichen Organisationen kooperieren und dabei zumeist auf die für Katastrophenfälle vorbereiteten Strukturen zurückgreifen. Andere etablierte Hilfsorganisationen mussten diese erst aufbauen. Neu gegründete Basisinitiativen wiederum hatten den Vorteil von Flexibilität und Offenheit für spontane Entscheidungen. Für manche der Freiwilligen war diese organisationale Flexibilität motivierend, andere fühlten sich eher in klaren Strukturen wohler. In fast allen Organisationen wurde aber von strukturellen Änderungen berichtet, so waren Einsatzorganisationen mit der Notwendigkeit zur Öffnung von verschiedenen Bereichen konfrontiert, Basisinitiativen machten häufig eine vergleichsweise rasche Entwicklung zu stärkeren Strukturen durch.

Während sich neu gegründete Basisinitiativen und kleine NPOs oftmals auf einzelne Bereiche wie z.B. Spendenaufrufe oder das Angebot von Deutschkursen konzentrierten, deckten die großen, etablierten NPOs meist ein breites Spektrum an Leistungen ab. Drei der großen österreichischen NPOs betrieben beispielsweise zusammen 26 Notquartiere, 52 Transitquartiere und 78 Grundversorgungsquartiere für Asylwerberinnen und Asylwerber, mit einer täglichen Kapazität für mehr als 6.000 Flüchtlinge.

Unterstützung der Zivilgesellschaft durch die Zivilgesellschaft

Als wichtiger Tätigkeitsbereich haben sich auch Unterstützungsleistungen der Zivilgesellschaft für die Zivilgesellschaft entwickelt. Etablierte Organisationen vermittelten Hilfestellung und Expertise an die neuen Akteure, z.B. wurden Informationen, Rechtsberatung, Supervision, Beratung und Workshops zu unterschiedlichen Themen angeboten.

Freiwilliges Engagement

Die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement nahm im Herbst 2015 ein in Österreich noch nie dagewesenes Ausmaß an. Eine der etablierten österreichischen NPOs schätzt beispielsweise, dass alleine am Westbahnhof in Wien im Jahr 2015 ca. 70.000 Stunden freiwilliger Arbeit geleistet wurden. Freiwillige haben sich in nahezu allen Bereichen der Flüchtlingsarbeit engagiert. Viele wurden selbstorganisiert und spontan tätig, ein Großteil allerdings half im Rahmen bestehender NPOs oder neugegründeter Vereine. Für die zivilgesellschaftlichen Organisationen war die Mitarbeit dieser vielen Menschen absolut notwendig, um das hohe Leistungsniveau zu erreichen und aufrecht zu halten. Mit viel Einsatz und Empathie wurde nicht nur ein hohes Maß an Hilfe geleistet, sondern damit auch ein politisches Zeichen für Menschlichkeit und Toleranz gesetzt.

Freiwilligenmanagement

Das Management der vielen Freiwilligen war unter den gegebenen dynamischen Rahmenbedingungen eine Herausforderung. So war eine vorausschauende Bedarfsplanung auf grund externer Faktoren, wie der Öffnung bzw. Schließung von Grenzen oder der Bereitstellung von Unterkünften und Transportmöglichkeiten, kaum möglich. Die Mobilisierung und Gewinnung von Helferinnen und Helfern hat über alle Organisationen hinweg größtenteils gut, schnell und unbürokratisch funktioniert, u.a. mittels intensiver und effektiver Nutzung von Social-Media Kanälen und mobilen Applikationen. Aufgrund des hohen und schwer planbaren Bedarfs wurden breite, unspezifische Maßnahmen zur Mobilisierung gesetzt. Dadurch konnten ausreichend Freiwillige gewonnen werden, vielfach kam es zwar zu temporären Überangeboten, dafür konnte aber auch der Rückgang der Engagementbereitschaft im Laufe des Winters kompensiert werden.

In der akuten Phase gab es oft nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Selektion von Freiwilligen und auch die Möglichkeiten zur Orientierung und Einschulung waren begrenzt, sodass es mitunter zu einem mismatch zwischen Tätigkeiten und Ansprüchen der Helferinnen und Helfer kam. Zu Beginn fehlten oft klare Kompetenzaufteilungen zwischen Hauptund Ehrenamtlichen. Andererseits entstanden daraus große Spielräume für die Freiwilligen, die sich vielfach selbst organisierten und Strukturen aufbauten. Häufig waren diese Spielräume Ausgangspunkt für die Gründung neuer Initiativen.

Die Übertragung von Verantwortung an die Freiwilligen funktionierte v.a. dann gut, wenn Organisationen klare Ziele und Ansprechpersonen definierten und Aufmerksamkeit auf gute Information, Feedback-Kanäle und die Einbindung der Freiwilligen in die Gestaltung der Tätigkeit legten. War dies nicht gegeben, kam es zu Überforderung, Frustrationen oder auch Konflikten. Eine weitere Herausforderung stellte die hohe Fluktuation sowohl unter Freiwilligen als auch z.T. unter den hauptamtlichen Koordinatorinnen und Koordinatoren dar. Diese erschwerte die Etablierung von strukturierten Kommunikationskanälen. Resultat waren mitunter Ineffizienzen in der Ablauforganisation und Ärger bei manchen Freiwilligen. Dies betraf eher etablierte NPOs. Basisinitiativen, die ihre Strukturen um aktuelle Ziele formten, konnten teilweise sehr rasch funktionale Kommunikationskanäle aufbauen.

(Selbst-)Einschätzungen der zivilgesellschaftlichen Leistungen

In Anbetracht der Krisensituation und des hohen Drucks haben die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Herausforderungen, die durch hochdynamische Rahmenbedingungen, durch ihr rasantes Wachstum (teilweise bis zu 140% mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 100% mehr Freiwillige als noch im Jahr 2014) sowie durch die Notwendigkeit organisationaler Flexibilität entstanden sind, gut bewältigt. Es wurde Mehrarbeit geleistet, rasch neues Personal eingestellt, hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für neue Aufgaben freigestellt und Regeln bewusst zeitweise außer Kraft gesetzt bei gleichzeitiger Bewahrung von zentralen Strukturen. Durch diese gute Balance zwischen formaler Struktur und Offenheit konnte sich der Mix aus Hauptamtlichen, erfahrenen Freiwilligen und den sogenannten „fliegenden“ Helferinnen und Helfern, die spontan und ohne formale Einbindung in eine Organisation arbeiteten, insgesamt sehr gut ergänzen. Auf diese Weise konnten die Organisationen rasch auf Anforderungen reagieren und einen gut funktionierenden Ablauf von Versorgung, Unterkunft, Transport usw. realisieren. Fast alle Organisationen berichten im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten im Herbst und Winter 2015 jedenfalls von deutlichen Lernschritten.

Zusammenspiel von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren

Kooperation in humanitären Angelegenheiten ist grundsätzlich sehr anspruchsvoll und keine Selbstverständlichkeit. Unterschiedliche organisatorische Strategien, Kulturen und Ziele stellen Herausforderungen dar, der zunehmende Wettbewerb um Spendengelder verstärkt dies. Außerdem können auch erhöhter Stress und eine zu starke Medienpräsenz in Krisensituationen die Zusammenarbeit erschweren. Entgegen der oft vertretenen These eines Auseinanderdriftens von NPOs, Basisinitiativen und politischen Institutionen hat sich jedoch gezeigt, dass es z.T leichtgängige, niederschwellig organisierte, zielorientierte und effektive Kooperationen zwischen diesen Akteuren gab, in der Regel allerdings funktionierte dies umso besser, je ähnlicher die Partnerinnen und Partner einander waren. Die Kooperation zwischen strukturell unterschiedlichen Akteuren war zum Teil schwieriger, hier gab es unterschiedliche Standards in Bezug auf Verlässlichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Spielraum für Einzelpersonen etc. . Manchmal stellten aber gerade diese Kooperationsmuster einen Lernfaktor für die Organisationen dar.

Belastete Freiwillige und Organisationen

Wenngleich die zivilgesellschaftliche Arbeit von vielen als sehr befriedigend wahrgenommen wurde, so war sie auch extrem belastend. Viele Beteiligte waren zu lange im „Notfallmodus“, sie arbeiteten am Limit. Es gab Freiwillige, die für den Einsatz ihren Job gekündigt oder ihr Studium aufgegeben haben, Engagement im Ausmaß von 15 Stunden oder mehr pro Tag war keine Seltenheit. Auch seelische Belastungen wurden von fast allen wahrgenommen, deutlich mehr allerdings von Personen, die für diese Art von Tätigkeit nicht ausgebildet waren. V.a. im Rahmen der Erstversorgung kam es vielfach zu Überlastung bis hin zu totaler Erschöpfung, da hier viele Helferinnen und Helfer nicht in organisationale Strukturen mit beschränkten Arbeitsstunden, Supervisionsangeboten und psychologischer Betreuung eingebunden waren. Aber auch hauptamtliche Helferinnen und Helfer waren mit großen Belastungen konfrontiert. Laut drei der großen etablierten österreichischen NPOs war der Belastungsgrad im Flüchtlingsbereich bereits 2014 und damit vor der akuten Phase 2015 hoch (7 von 10) und wurde im Winter 2015 schließlich als sehr hoch eingeschätzt (9 von 10).

Gesellschaftspolitische Einschätzung:

Die österreichische Zivilgesellschaft hat in den vergangenen Monaten in einem nie dagewesenen Ausmaß Erstversorgung und Integrationsarbeit geleistet. Dies hat positive und kritische Aspekte:

Die Kooperation öffentlicher Stellen mit NPOs hat in Österreich Tradition und ist oft höchst funktional. NPOs sind Spezialisten für den Umgang mit sozial heiklen Situationen, mit menschlichem Leid und mit Hilfe. Sie haben meist lange Erfahrung, haben sich in den letzten Jahrzehnten insgesamt deutlich professionalisiert (Meyer & Simsa, 2013) und sind weitgehend flexibel und gut organisiert. Im Herbst 2015 kam es allerdings zu einer Verschiebung im Verhältnis von öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft, die teilweise als Funktionalisierung freiwilligen Engagements charakterisiert werden kann. Kritisch ist zu beurteilen, dass hier im Rahmen freiwilligen Engagements Aufgaben des (Sozial)Staates übernommen wurden, also Aufgaben, die juristisch in der Zuständigkeit der öffentlichen Hand liegen, wie die Erst- und Notversorgung von Asylsuchenden. Die Zivilgesellschaft wurde zum „Lückenbüßer“ (Schlager & Staritz, 2015). Dies ist nicht nur rechtlich problematisch. Zudem werden quantitative und qualitative Standards dem Wollen und Können privater Akteure überlassen und sind daher wenig steuer- oder kontrollierbar. Verantwortungsbewusste Menschen haben auf eigene (zeitliche und materielle) Kosten die Lücke geschlossen, die der Staat gelassen hatte.

Darüber hinaus gestalteten sich die Finanzierungsmodalitäten für die etablierten NPOs problematisch. Die verzögerte Finanzierung von Leistungen, die die NPOs im Auftrag der öffentlichen Hand erbringen, ist grundsätzlich kein neues Phänomen (Simsa & MoreHollerweger, 2013), angesichts der Ausweitung der Tätigkeiten aber besonders bedeutsam.

Auf der anderen Seite hatte der teilweise Rückzug der öffentlichen Hand im Zuge der Flüchtlingshilfe auch positive Effekte für die Zivilgesellschaft. Etablierte NPOs sind z.T. auch gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Sie sind gewachsen, konnten Lernschritte erzielen und haben an öffentlicher Sichtbarkeit und Wertschätzung gewonnen. Auch gab die zögerliche Vorgehensweise der Politik einen erheblichen Impetus für zivilgesellschaftliches Engagement und für das Entstehen von neuen Basisinitiativen. Ein weiterer positiver Aspekt, der mitunter übersehen wird, ist „doppelte Wirkung“ zivilgesellschaftlichen Engagements – für Asylwerberinnen und Asylwerber wie für die lokale Bevölkerung (Becker, Speth, & Strachwitz, 2016), also die „Integration“ der helfenden Österreicherinnen und Österreicher. Das zivilgesellschaftliche Engagement hat zudem bedeutende Effekte des community building. Durch persönliche Kontakte werden Schranken abgebaut, wird der „Flüchtlingsstrom“ personalisiert und das persönliche Ohnmachtsgefühl, das nicht selten in Aggression umschlagen kann, durch praktisches Tätigwerden vermindert.

Resümee: Von der Willkommenskultur zur Willkommensstruktur

Geeignete gesellschaftliche Rahmenbedingungen zivilgesellschaftlichen Engagements verlangen grundsätzlich eine rechtskonforme Übernahme von staatlicher Verantwortung. Nach dem Motto „ein starker Staat ist in der Regel ein Garant für eine starke Zivilgesellschaft“ müsste die öffentliche Verantwortungsübernahme konsequent eingemahnt werden. Die Grundversorgung der Asylsuchenden müsste gewährleistet werden, in enger Kooperation mit und bei ausreichender Finanzierung von gemeinnützigen Einsatz- und Hilfsorganisationen. Auch integrative Maßnahmen für Flüchtlinge, denen Asyl gewährt wurde, sollten strukturell abgesichert und öffentlich finanziert werden. Eine professionelle und ausreichend mit Ressourcen abgesicherte Versorgung könnte auch das latente Krisen- und Angstgefühl der Bevölkerung verringern und so den Ressentiments gegenüber den Asylwerberinnen und Asylwerbern entgegenwirken.

Der Zivilgesellschaft bliebe so Spielraum für Aufgaben der Integration, die ein engmaschiges Netz von direkten Kontakten zwischen Immigrantinnen und Immigranten und der lokalen Bevölkerung erfordern. Eine wichtige Rolle für größere NPOs kann hier in der Unterstützung lokaler, basisorientierter Initiativen, die Integrationsarbeit leisten, liegen.

Eine weitere Aufgabe für die Zivilgesellschaft kann in Zukunft darin liegen, informierte und differenzierte Dialoge zu ermöglichen, zwischen jenen, die Angst und Abwehr äußern, und jenen, die Flüchtenden helfen wollen, um der beobachtbaren gesellschaftlichen Spaltung und Eskalation entgegen zu wirken.

 

1. Link zur Studie:
https://www.researchgate.net/publication/302510414_Beitrage_der_Zivilgesellschaft_zur_Bewaltigung_der_Fluchtlingskrise_-_Leistungen_und_Lernchancen_Contributions_of_Civil_Society_to_deal_with_the_Refugee_Crisis_-_Services_and_Learning_Opportunities 

2. Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Dienste (Rotes Kreuz, Hilfswerk, Volkshilfe, Diakonie, Caritas) sowie Österreichischer Samariterbund

3. Asylstatistik Dezember 2015: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/fil es/Asylstatistik_Dezember_2015.pdf

Quellen:

Becker, E., Speth, R., & Strachwitz, R. G. (2016). Zivilgesellschaft als Lotsen in die Gesellschaft. Die Betreuung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen. Maecenata Observatorium. Analysen, Positionen und Diskurse zu Zivilgesellschaft, Engagement und Philanthropie, 8(2016).

Meyer, M., & Simsa, R. (2013). Entwicklungsperspektiven des Nonprofit-Sektors. In R. Simsa, M. Meyer, & C. Badelt (Eds.), Handbuch der Nonprofit-Organisation. Strukturen und Management (5. ed., pp. 509-525). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Schlager, C., & Staritz, C. (2015). Privatisierungsentwicklungen in der Flüchtlingsbetreuung. Kurswechsel, 4, 68-70.

Simsa, R., Auf, M., Bratke, S.-M., Hazzi, O., Herndler, M., Hoff, M., Rothbauer, J. (2016). Beiträge der Zivilgesellschaft zur Bewältigung der Flüchtlingskrise – Leistungen und Lernchancen, unveröff. Forschungsbericht, Wien.

Simsa, R., & More-Hollerweger, E. (2013). Die Entwicklung von Rahmenbedingungen für NPOs und ihre MitarbeiterInnen. WISO Wirtschafts- und Sozialpolitische Zeitschrift des ISW, 3(2013).